Büchertagebuch
- von Thomas Körner
Wolfgang Marx
Bewußtseins-Welten
Die Konkretion der
Reflexionsdynamik
Tübingen (J.C.B. Mohr) 1994
/4
Seite
249 Permanente Interferenz
von Geist und Seele
250 Gefühl als der Schatten des
Geistes
285 Geist ist vermittelte, in sich
differenzierte und nur in
diesem Sinne souveräne,
nämlich in den entwickelten
Potentialen und für diese
selbstmächtige, beherrschte
Aktivität
286 Schöpferischer Geist – wo
Bewußtsein als sich realisierende
Tätigkeit in Entfaltung ist
437 Die vergessene Dimension des
Geistes
- von Thomas Körner
Wolfgang Marx
Bewußtseins-Welten
Die Konkretion der
Reflexionsdynamik
Tübingen (J.C.B. Mohr) 1994
/3
Seite
159 >ICH< , das ist der eigentlich ganz unschuldige Name einer
Vorstellung, in der ein lebender Organismus, der seiner
Sinne mächtig und sprach-fähig ist, sich selbst bezeichnet
166 das Bewußtsein ist die Dimension seiner eigenen Freiheit
169 ohne lebendige Eigenaktivität ist Bewußtsein schlechthin undenkbar
172 die große Illusion des Bewußtseins, es könne Wege zurück
in ein Paradies spannungsloser, geschenkter, auf ewig
seligmachender Wahrheit geben
der Sehnsucht nach Kontinuität im Inneren, d.h. im Zusammenhang
des Bewußtseins, entspricht die Wahnsehnsucht nach der großen
Aufhebung aller Differenzen im Sein, die auch das Bewußtsein
einschließen soll, dann es aber auch sofort beseitigen muß
184 Der Mensch, dieses angstvolle, von den sichernden, automatisch
regelnden Einbindungen in das System des In-Seins, der Natur,
abgelöste und zur Herstellung von allerdings nur imaginären
Bindungen gezwungene Lebewesen, ist ganz undramatisch dazu
verurteilt oder sogar verdammt, sich zur Freiheit zu entschließen
und auszubilden
189 Die Dimension der Freiheit reicht immer nur so weit, wie das
Bewußtsein sich aus sich selbst entwickelt hat; aus sich aber ist es
nur, wenn es sich überschritten hat zum es übergreifenden
sozialen Kontext und durch diesen
192 Die Gedanken sind gleichsam die lebendigen Organe des Bewußtseins
224 Es ist die Sprache, die zugleich mit dem Denken da ist, die
imaginär fixiert, was die Last der Stoffe jeweils zu formen gebietet
229 Der Geist, dessen unendlich plastische Proteus-Natur an keinem
seiner Produkte verharren kann, noch will
233 So hat denn jedes lebendige Bewußtsein sein eigenes >Aussehen<
Aber die bloß vitale Individualität ist, so überzeugend sie auch – und
gewöhnlich sogar erfolgreich! - als solche erscheinen mag, doch nur
ein letztlich zufälliges, kurios-farbiges Ergebnis von Faktoren und
Konstellationen, deren Verbindung nur deren kontingenten Charakter
einfach fortsetzen muß.
So groß der Widerspruch gegen unpassende Wahrheiten auch sein mag,
selbst einem Bewußtsein, das töricht-naiv, also eitel, dem Wahn seiner
selbsteingeredeten Individualität konkret-gestisch oder verbal blind
zu folgen und sich von ihm ganz mit unverständlichen, aber gerade
deshalb wohlklingenden und überdies religiös überhöhten und deshalb
metaphysisch glanzvoll instrumentierten Phrasen überreden, übertölpeln
zu lassen, energisch, tapfer sich entschlossen hat, wird bei nur geringer
Selbstaufmerksamkeit, dem ersten dürftigen Zeichen blinzelnder
Reflexion kaum entgehen können, daß nicht viel mehr als dauerndes
Selbstplagiat in den weichen Kissen bloßer Gewohnheiten und naturaler
Dispositionen ist, was, wenn es sich – wie zumeist – darin sogar nicht
erschöpft, als der Kern des Eigenen so peinlich gern und oft, bei allen
passenden wie unpassenden Gelegenheiten, exhibitioniert wird
Wie überzart-ätherisch die >Materie< ist, aus der Individualität
gemacht sein soll, erkennt man an der Leichtigkeit des Verzichtes
auf diese, der ohne Probleme für die Selbstbildgestaltung ganz rasch,
geräuschlos, im kollektiven Dickicht aller sonstigen, unauffälligen
Durchschnittlichkeiten vollzogen wird, sobald unbequeme Forderungen
an sie gestellt werden oder aber aus ihren Ansprüchen direkt oder
indirekt sich ergeben...
…und als hohle Geste zeigt sich das Individualtheater des überzarten
Ich, das gerne zusammenbricht im einfassenden Gehege und im
kollektiven Zusammenhang, der jeweils gerade zur Verfügung steht
- von Thomas Körner
Wolfgang Marx
Bewußtseins-Welten
Die Konkretion der
Reflexionsdynamik
Tübingen (J.C.B. Mohr) 1994
/2
Seite
82 Bewußtsein kann sich nicht durch sich ausschalten,
um so das vermeintliche Paradies der durch es immer auch,
aber nie ganz verlorengegangenen Natur willentlich zu errringen;
Die Unauslöschbarkeit des Zwanges des Bewßtseins als Grundlage
der Beziehung des Zentrums zu seiner distanzierten und so von
ihm erfahrbar werdenden Wirklichkeit ist die unverlierbare Spur
seiner abgenötigten, verhängten Freiheit;
88 die unendliche Freiheit des Bewußtseins;
seiner Freiheit der Distanznahme:
90 Raum und Zeit bestimmen und beherrschen eingreifend
die Wirklichkeit und die innere Struktur des Bewußtseins;
Raum und Zeit sind tragende Bedingungen dafür, daß das je
individuelle Bewußtsein sich als Stück einer gemeinsamen Welt
alles Seienden erkennen und situieren kann;
Es ist in Raum und Zeit, nimmt eine ganz bestimmte eigene
Position im System der Raumzeit ein;
Allein die Positionsbestimmtheit des Bewußtseins kann als
Grundlage dafür fungieren, die diversen Existenzweisen im
Raum-Zeit-System zu fixieren;
In dem dies reflexiv-analytisch geschieht, vollzieht das
Bewußtsein seine erste Distanzbewegung gegenüber der
Wirklichkeit;
Denn reflektierend zieht es sich im Blick auf seine eigene
Position auf sich selbst zurück, setzt also schon einen ersten
Abstand zwischen sich und die Welt und konstruiert so
die Grundlage für ein zunächst nur abstraktes Gegenüber,
das es zu differenzieren gilt;
Die raumzeitliche Realität des Bewußtseins ist die unverzichtbare
Basis der imaginären Leistungen, mit denen, phantaisierend
und denkend, die Realität imaginär zum Inhalt gemacht werden
kann;
93 Das Chaos ist eine gedankenlose Fiktion, welche solches, das allein
diesseits oder jenseits der Grenzen von Raum und Zeit zu
phantasieren ist, in eine -nicht angebbare- Beziehung zu dem bringt,
was räumlich und zeitlich immer schon gegliedert, Ordnung hat;
105 Im Bewußtsein, und in ihm allein, interferieren Zeit und Raum;
115 Es ist der Gedanke, der den Raum <entstehen> läßt;
118 Der Gedanke, der Anderes als für die ihm genuinen Zusammenhänge,
also als Zusammenhang in solchen oder durch diese bestimmt
antizipiert, ist das Gesetz, das allgemeine, das das Besondere in
ihn als Fall und somit in sein wesentliches Anderssein mit dem
konstituierenden Anderssein zur Einheit verschmolzen hat;
139 Dem lebendigen Bewußtsein ist weder seine eigene Vielschichtigkeit
und abgründige Eingelassenheit in seine und die Natur, noch die
beständig sich transformierende Systemeinheit und Vielfalt der
bestimmbaren, meßbaren äußeren Natur unmittelbar gegeben;
Unmittelbar gegeben ist vielmehr nur die Distanz, die als Anschauung
erfahren wird und die bleibende Bewußtheit zu überschreiten ermöglicht;
- von Thomas Körner
Wolfgang Marx
Bewußtseins-Welten
Die Konkretion der
Reflexionsdynamik
Tübingen (J.C.B. Mohr) 1994
Seite
3 | Geschichtlich, sozial, kulturell am objektiven Geist aktiv und passiv zu partizipieren ist Aufgabe des Bewußtseins |
5 | Gedanken sind reale Gebilde und gehören in diverse Wirklichkeitskontexte Gedanken sind Produkte eines Systems aus organischer Bewußtheit und intentional ausgreifendem Bewußtsein |
6 | Das Bewußtsein ist schlechthin angewiesen auf Gedanken |
14 | Bewußtsein ist Interferenz von Bewußtsein mit Bewußtsein im Bewußtsein |
20 | Bewußtheit der bleibende Grund allen Bewußtseins |
23 | Die vom Bewußtsein autonom erschlossene Struktur der Offenheit |
26 | Überlagerung, Überformung oder Durchformung (Interferenz) – unmittelbar und beständig |
36 | Permanente Interferenzleistung von allem mit allem als Kontinuität |
40 | Interferenzstruktur mit verschiebbaren, sich verschiebenden Grenzen… für integrierende Zusammenhänge offen… Wiedererkennen ist Signum des freien Geistes |
41 | Der Form nach ist Bewußtsein Geist |
42 | Freiheit – die Idee, die unendlich unerfüllbar bleibt… Bewußtsein – Streben, das Sich-voraus-sein in seiner unendlichen Vergangenheit, auf die unendliche Zukunft |
43 | Kontinuierungsfähigkeit der Gedanken … Grundlage aller Interferenzleistungen des Bewußtseins |
59 | Die Welt, das Andere zu allen Gedanken |
74 | Sein Anderes ist dem Bewußtsein das Licht seiner Augenblicke, die Dauer seiner Interferenzpräsenz |
77 | Das Neue und das Andersartige, letztlich also die Welt im Progreß konstituieren Bewußtsein |
- von Thomas Körner
Robert Musil
Tagebücher
Rowohlt
Heft 4
S. 27 Tgb und S.22 Anm
Gut und Böse ist nur eine Spielart jenes Problems (der decadence) Man versteht…was sich unter ihrer Moral versteckt: das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit
S. 28 und S. 23 Anm
Die Gefahr der Künstler, der Genies – liegt im Weibe: die anbetenden Weiber sind ihr Verderb. In vielen Fällen der weiblichen Liebe, und, vielleicht gerade in den berühmtesten, ist die Liebe nur ein feinerer Parasitismus, ein Sich-Einnisten in eine fremde Seele, mitunter selbst in ein fremdes Fleisch – ach! Wie sehr immer auf des Wirthes Unkosten.
S. 835 Anh
Ich will, ein für alle Mal, Vieles nicht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntnis Grenzen.
S. 33 Tgb
Die Cultur und der Staat- sind Antagonisten.
„Cultur-Staat“ ist bloß eine moderne Idee…
S. 842 Anh
Für Wesen mit anderen Sinnen können wir keine aussagen machen…
Heft 3
S. 113
Eine unnatürliche Ruhe schien jedes Einzelne niederzudrücken, alle Gegensätze einander zu nähern, wie mit dem zähen Willen eines Kranken, den irgendeine Vision verfolgt, der er an den Grenzen des Lebens begegnet… …und doch die Erinnerung nicht los wird, eine andere Welt geahnt zu haben…
S. 114
Diese Tage vor dem Sterben terrorisieren alles Andere…
Heft 11
S. 140
Der Tod als conditio sine qua non der Schöpfung
Die Grenze --- denn jede Grenze ist ein Tod --- als Bedingung für das Begrenzte
Kleines Notizheft ohne Nummer
S. 344
Man glaubt immer, daß man im Angesicht des Todes das Leben toller genießt, voller trinkt. So erzählen es die Dichter. Es ist nicht so. Man ist nur von einer Bindung befreit, wie von einem steifen Knie oder einem schweren Rucksack. Der Bindung an das Lebendigsein wollen, dem Grauen vor dem Tode. Man ist auch nicht mehr verstrickt. Man ist frei. Es ist Herr-lichkeit
.
S. 361
Deutsche Auffassung der Idee im Unterschied von der platonischen: daß sie auf Verwirklichung drängt, obwohl es in ihrem Wesen liegt, nicht verwirklicht werden zu können.
- von Thomas Körner
Robert Musil
Briefe
1901 – 1942
Rowohlt
1901
S.3 An Valerie ?
– denn meine Seele ist voll – und das nenne ich fromm.
1905
S. 13 Über den Törless
Andere Leute hatten die Dummen gegen sich. Das ist ein Vergnügen. Geistreichen zu mißfallen ist mißlich, ja gefährlich. Denn geistreich sein ist schwer und ist man es einmal in irgendeiner Weise, so ist man doppelt konservativ gegenüber neuartigen Zumutungen
Die Zeichnung der Charaktere ist stilisiert, alles auf die kürzeste Linie zusammengefasst, keine vollen Menschen dargestellt, sondern jeweils nur deren Schwerlinie…
Die psychologischen Schwerlinien gehören mehr oder minder konstruierten Figuren an. Nur kam mir der Gedanken, ist dieser Mensch so auch möglich? Im Gegenteil: ich frug, ist dieser Mensch konsequent? Und ist er es, so ist es mir desto lieber, je unmöglicher er ist.
1907
S. 35
Und diesen einen Gedanken muß man ganz, ganz, ganz verstehen: daß der Mensch ein Tier ist, das zuweilen von einer Seele träumen darf…
1918
S.98 Kommentarband – Die Schwärmer
1. Aufzug Thomas zu Anselm
»Anselm, einer ist ein Narr, zwei eine neue Menschheit!«
1921
S. 215 aber schließlich: wer Geist hat, macht ja nicht Musik.
1923
S. 332
Sie kennen gewiß das Ideal des »Lebens aus der Idee«, wo jeder Schritt nicht aus kausaler Notwendigkeit erfolgt, sondern einer inneren Lichtausbreitung gleicht
1936
S. 743
es gibt zu wenige Dichter, als daß die Menschen das richtige Verhalten zu ihnen kennen sollten.
- von Thomas Körner
Robert Musil
Der Mann ohne Eigenschaften
Roman
Aus dem Nachlaß
Rowohlt
S 1627
»Man muß einfach die Leute mit ihren ideologischen Einsprengungen zeichnen.«
S 1872
»Der grauenvolle Begriff der ›Weltanschauungen‹. Die Politisierung des Geistes
dadurch, daß nur das Genehme gilt.«
»Es gibt heute nur unehrlich erworbene Überzeugungen.«
- von Thomas Körner
Leopold von Ranke
Aus zwei Jahrtausenden Deutscher Geschichte
Zusammengefaßte Darstellungen
der großen Entscheidungen Deutscher Geschichte
von Cäsar bis Bismarck
Herausgegeben von Gustav Roloff 1924
Karl Robert Langenwische Verlag
Königstein im Taunus & Leipzig
den Bauernkrieg hat er weggelassen
- von Thomas Körner
Für und über die deutschen Frauen.
Neue hypochondrische Plaudereien.
Von Gerhard von Amyntor.
Fortsetzung
- von Thomas Körner
Für und über die deutschen Frauen.
Neue hypochondrische Plaudereien.
Von Gerhard von Amyntor.
Zweite Auflage.
Hamburg.
Verlagsanstalt und Druckerei-Actien-Gesellschaft
(vormals H.F.Richter) 1889
Den Plaudereien vorangestellt ist ein Zitat:
»Wer nun von Frauen besser spricht,
Fürwahr, ich hass’ ihn darum nicht.«
( Parzival, Wolfram von Eschenbach)
- von Thomas Körner
»Die künftig über Meer noch fahren,
Denen rath ich, daß sie sich bewahren:
Im Kaufhaus und im Wechselladen
Nehmen sie den ersten Schaden…«
- von Thomas Körner
Die Weltbühne, Fortsetzung
Die Weltbühne Nr. 5/6 1. Februar-Doppel-Heft 1948
Hans Dampf Sehr betrübliche Notiz
S. 135 erfährt man den Grund der Betrübnis: der Magistrat von Berlin sowie der jeweilige Verwaltungsbezirk entscheiden, wer als Schriftsteller ›tragbar‹ ist und wer nicht. »Wer schreiben darf oder kann, entscheidet Herr X vom Kunstamt. Wer dem Herrn Bezirksbürgermeister nicht passt, der ist Lyriker gewesen.«
Dem abzuhelfen, schlägt Hans Dampf den folgenden Fragebogen zur Überprüfung und Erfassung von Schriftstellern vor:
- von Thomas Körner
Die Weltbühne, Fortsetzung
Nr. 10 2. Mai-Heft 1947
Joachim Wenzel Die »Schwarze Reichswehr« 1947
S. 423 »Was ist die ›Schwarze Reichswehr‹?«
»Die meisten der ›Entwaffneten Verbände der ehemaligen Wehrmacht‹ entstanden im Laufe des Jahres 1945 in Belgien, Frankreich, Norwegen und zu einem geringen Teil in Deutschland.« »Mir ist … bekannt, dass im Frühjahr 1946 in Detmold, Lage oder einem Nachbarstädtchen… das neue aufgestellte Düsenjägergeschwader 377/IV Waffen trug. Zumindest sah ich diese Einheit…als sie, munter singend voran ein deutscher Offizier mit umgeschnallter Pistole, durch die Straßen zog.«
»…es wurde selbst den Engländern zuviel, wenn noch im Sommer 1946 z.B. Herr Oblt. Höcker vom Verbindungsstab 346, ein Advokat aus Berlin, in voller deutscher Panzeruniform, mit Extra-Stiefeln, braunem Koppelzeug, Schulterstücken und Kordelmütze sich … bestaunen (ließ)…«
- von Thomas Körner
Die Weltbühne, Fortsetzung
Nr. 8 vom 16. April 1947
S. 321 Egon Erwin Kisch Entdeckungen in Mexiko »Mit Temperament und Humor enthüllt Egon Erwin Kisch in seinem neuen Buch Geheimnisse eines geheimnisvollen Landes, so daß man kaum merkt, wie sein Buch das ganze Land Mexiko darstellt.
- von Thomas Körner
Die Weltbühne, Fortsetzung
Nr. 5 vom 1. März 1947
Auf S. 187 schreibt Wolfgang Harich : »… wer den Kapitalismus für eine jüdische Erfindung hält, (und Wertheim mit Krupp verwechselt) ist reif, von jedem dahergelaufenen demagogischen Scharlatan eingefangen zu werden…«
- von Thomas Körner
Zerstoßen, abgenutzt, unsauber, der Umschlag ausgefranst, sein Orange verblasst, doch des Titels Schriftbild, schwarz gerahmt, unverkennbar. Unter Jahrzehnte unbenutzten Bildbänden, zum Ausgleich der unterschiedlichen Bretthöhen in zwei Stapel geteilt, neunzehn Nachkriegshefte der Weltbühne, Jahrgänge Sechsundvierzig bis Fünfzig, unvollständig.
Natürlich nicht gleich lesen, nur ansehen, erst mal.
- von Thomas Körner
Nach Proust
Zeitlos
Zu leben
In einer nicht
Vorhandenen Gegenwart
Mit einer verbrauchten
Vergangenheit
Und einer nie
Entstehenden Zukunft
- von Ralf Willms
Selbst über Jahrzehnte jede Vereinfachung ablehnend, möchte ich mich jetzt gerade ihrer bedienen: der Vereinfachung. Der Aussparung von x Differenzierungen, weil sie bereits geleistet wurden. Weil das Einfache, wenn es nach all dem Durchgang das Übriggebliebene ist, wohl «das« Richtige ist. Und zugleich das, was es bereits zu Anfang – vor allen Differenzierungen und Kontextualisierungen – war.
- von Ralf Willms
Robert Gernhardt, Reich der Sinne, in: Wörtersee. Gedichte. Frankfurt am Main 1981
Gernhardts Verse kommen nicht selten scheinbar «platt« daher, sie sind es, wollen es sein: «volkstümlich platt«.
Doch in ihnen befindet sich eben noch etwas ganz anderes, das «die Volksseele«, so weit sie existiert, oft scheinbar «nicht versteht«, nicht verstehen will.
Worin also besteht der «höhere« oder «tiefere« Humor, sofern er sich erschließt und nicht völlig humorlos überlesen wird?
- von Ralf Willms
Kürzlich notierte ich: «Was für eine blöde Position: etwas zu verlieren fürchten. Oder zu deformieren fürchten. Wie erleichternd, immer schon verloren zu haben. Dasjenige.«
Keine Frage: vieles lässt sich nicht umkehren. Ein bestimmter Geschmack hat sich präzis einzufinden, selbst oft der Kontakt zum Partner, und es würde größere Verstörungen nach sich ziehen, wenn die Qualität, die als grundlegend schön und wohltuend empfunden wurde, stetig etwas daneben läge. Und doch gibt es Dinge, vielmehr Haltungen, die sich umkehren lassen. Es scheint geradezu zum Sinnvollen und Vernünftigen zu gehören, dies auch zu tun. Sowohl für den Einzelnen wie für ein Kollektiv.
- von Ralf Willms
Die Bücher, sagte sie unvermittelt, sind der Menschen
leid geworden : sie sind heimgekehrt,
müde vom Zwang zu erfinden. Ihre Selbsttäuschung hat die Seiten
gebleicht, die geisterhafte Harmonie ihrer Rücken,
sagte sie, macht mich wahnsinnig, ihre Ruhe,
die getrocknete Lava aus Schweiß und Gedächtnis,
und dazwischen ein weißes Geheimnis :
ein schmerzend weißes Geheimnis, sagte sie,
das Dir die Augen ausbrennt.
Die Rede ist von einer weiblichen Person, die sich mit Vehemenz vom schriftlichen Wort abwendet. Die Ruhe, die davon ausgeht, mache sie «wahnsinnig«, es ist von «Zwang« und «Selbsttäuschung« die Rede und schließlich von einem «weißen Geheimnis«, das dazwischen liegt und «Dir die Augen ausbrennt«. Es liegt nahe anzunehmen – als eine Möglichkeit –, dass im «weißen Geheimnis« die Schneemetapher enthalten ist, Schnee, in dem etwas erfrieren und umkommen kann. [Anm.: Sofern eine Forschung zu dem Gedicht besteht, sie ist mir nicht bekannt.] Wie sehr die Person von diesem «Geheimnis« affiziert ist, kommt etwas später zum vollen Ausdruck:
- von Thomas Körner
Auf den ersten Blick eine Opernszene, vielleicht aus dem Freischütz.
Sechs Jäger wie die Hasen im Gras. Über ihnen zwei Engel mit dem
Pfeil, dem Bogen. In der Mitte die Zielscheibe als Preis für den
Meisterschuß.
Auf den zweiten Blick Szene im Paradies. Nicht ein Adam, sechs.
Dazu gleichviele Bäume. An denen reifen des Begehrens Früchte.
Der weiblose Adam träumt seinen Seelenwunsch. Eva als
geflügeltes Himmelsbild.
Ralf Willms, Phobos. Notat-Gedichte, Heidelberg (Manutius) 2012, 111 Seiten
Der Gedanke der Einseitigkeit stört die Menschen, sie denken sich gern eine andere Seite hinzu und schmücken sie mit eigenem Seelenstoff aus, vor allem, wo es sich nicht um Gegenstände, sondern um Menschen handelt – Menschen wie du und ich, vor allem ich, der ich vielseitig bin wie kaum jemand sonst. Ein Autor hat den Vorteil, dass er in seinen Büchern dem Leser eine Seite nach der anderen zum Erblättern hinhält: Da habt ihr eine Seite von mir, ihr könnt auch eine andere dafür nehmen, ganz wie es euch beliebt. Der Leser erkennt schnell, dass viele Seiten nur Übergänge darstellen. Einige hingegen stehen ganz für sich und damit für den Autor: Was will er uns damit sagen? Das fragt die lesende Vernunft, die bekanntlich stets eine ablesende ist, so wie der Stromableser keinen Strom erzeugt, sondern sich mit der Information zufriedengibt, um sie an andere weiterzureichen. Die entscheidende Frage lautet daher stets: Für wen liest der Leser?
Rainer Paris: Gender, Liebe & Macht. Vier Einsprüche, Waltrop und Leipzig 2008
›Selbstbornierung‹ wird endemisch, wenn sie ins Geflecht staatlicher Förderprogramme gerät. Was, fragt sich der nüchterne Zeitgenosse, hat sie dort verloren? Der Fanatismus des Antifanatismus gebiert Ungeheuer der praktischen Vernunft, allein schon deshalb, weil die theoretische schweigt oder ihre Dienste zum Nulltarif anbietet. Fanatisch antifanatisch gebärdet sich nur, wer den Hass von der Pike auf gelernt hat und endlich mitmischen will. In der Regel dürften das Leute sein, die irgendein Regierungssiegel für ihr Tun brauchen, überschießende Sympathisanten des aktuellen ›Regimes‹, irgendeines, nur nicht der offenen Gesellschaft, in der jedes ›Regime‹ sich verläuft, weil gerade darin das Bewegungsgesetz der Freiheit besteht. Frage: Welche Regierung lässt sich diese wirklichen, weil versteckten Feinde der Freiheit gefallen? Wie weit geht das Gefallen? Schließlich: Wie naiv ist dieses Gefallen? Weiß die Regierung, auf welches Spiel sie sich einlässt? Es gibt eine Naivität der gewähnten Gleichheit der Ziele, die über die Wahl der Mittel hinwegsehen lässt, jedenfalls eine Zeitlang. Manch einem wird diese Zeit lang, zu lang vielleicht. Das ist die Zeit, in der das Nachdenken über die Ziele (oder vielmehr: das Ziel hinter den Zielen) einsetzen sollte.
Siegmar Faust: Der Provokateur. Ein politischer Roman, München (Herbig) 1999
Ob einer von der Gedankenlosigkeit seiner Mitmenschen überzeugt ist oder ihnen gedankenloses Überzeugtsein attestiert, kommt irgendwann auf dasselbe heraus. Es liegt darin sowohl eine Unter- als auch eine Überforderung: Wer mir Gedankenlosigkeit unterstellt, der erleichtert es mir, Gedanken zu äußern, die ich sonst nie geäußert hätte, bloß aus Verletztsein, um zu verletzen – Gedanken, die so wenig zu mir passen, dass der eine oder andere Mitmensch zusammenzuckt und sich fragt, wie gerade ich dazu komme, sie zu äußern. Würde er sich nur fragen! Er fragt sich aber in der Regel nicht wirklich, sondern nur pro forma und hakt mich ab. Pro forma denkt auch der Überforderte: Das ist ein Angriff und ich werfe alle mir verbliebenen Kräfte in die Schlacht, um ihn abzuwehren. Soll heißen: völlige Freiheit und völlige Unfreiheit liefern täuschend ähnliche Resultate.
- von Ralf Willms
Imre Kertész’ Letzte Einkehr rührt noch einmal wie mit letzten inneren Fingern Themen wie Beziehung/Ehe, Liebe, Auschwitz, Reisen, Erfolg, vieles mehr an. Wohltuend die Lebendigkeit, das Lebende in der Sprache, die Beweglichkeit bei den Nuancierungen. Nahezu jeder Absatz enthält so etwas wie eine Kernbotschaft, die ungewöhnlich genug ist, um etwas für sich mit davonzutragen. Auf der Buchrückseite ist von der «Geschichte einer Erkaltung« die Rede. Und auch das ist durchgängig spürbar und darüber hinaus oder damit einhergehend: Ansichten und Einfälle, bei denen der Gedanke aufkommen könnte, dass der Verfasser auf ›merkwürdigen Arten‹ der Verblendung – in unmittelbarer Nachbarschaft von Hellsichtigkeit – besteht. Lässt man hier das Präfix «Ver« weg, hat man es noch mit «Blendung« zu tun, die sich wohl primär von Wunden bzw. Schlussfolgerungen aus ihnen herleiten ließen, die bei dem Verfasser selbst immer wieder in dem Wort «Auschwitz« zusammenlaufen.
- von Thomas Körner
Notiz
Während die Anderen durch die neuen Verhältnisse in ihrem Verhalten in die einzig verbliebene Richtung gedrängt wurden, fand in mir zwar ebenfalls der alchymische Prozess der Umwandlung statt, aber mein Bestreben nach außen war, mich innerhalb des geschlossenen Systems möglichst aus dem Retortenversuch und der Retortenentstehung der Anderen herauszuhalten – innerhalb der Vakuole zwar, doch nicht Teil des Umformungsprozesses, der in dieser stattfand, sondern der in mir stattfand – und das hieß von Anfang an, möglichst keine oder nur unvermeidbare gesellschaftliche Verhältnisse einzugehen...
Die Freiheit in der Beschränkung, die mir verblieb, war ihrer Art und ihrem Genuß nach um vieles größer als die, welche mir aus dem Nachgeben an die Verführung und die Versuchung erwachsen wäre – dem Angebot einer unlauteren Sicherheit, nicht gewonnen, sondern verspielt, verflossen, aufgelöst...
Damals habe ich den Grundstein zu mir und meiner Arbeit gelegt. Ich begab mich in die Wildnis meiner Unabhängigkeit, sammelte die Bruchstücke einer zertrümmerten Freiheit und setzte sie zu ihrem Torso zusammen. In der Sekunde, da die Freiheit des Landes vorbei war, entstand sie unter den neuen Bedingungen in mir erst recht. Sie lehrte mich die Unfähigkeit, von allem, was Obrigkeit oder Macht hieß, beeindruckt zu sein (Wert der Unfähigkeit).
Gunnar Heinsohn: Die Sumerer gibt es nicht. Von den Phantom-Imperien der Lehrbücher zur wirklichen Epochenabfolge in der »Zivilisationswiege« Südmesopotamien, 2007
Nichts bewegt die Menschheit so wie Datierungsfragen. Was wann geschah, darauf kommt es an. Radikale Umdatierer halten das Schicksal der Welt in Händen und ordnen es neu. Zum Beispiel weiß das gebildete Publikum relativ gut über das Jahr 1984 Bescheid, über das detaillierte Aufzeichnungen existieren (1984, 1949). Eine Person der Zeitgeschichte, die in diesem Standardwerk nicht vorkommt, hat schlechte Karten und wir können nicht mit Gewissheit sagen, ob sie je existierte.
Der Sozialpädagoge Gunnar Heinsohn zum Beispiel gilt als Autor eines 1988 erschienenen, 2007 in korrigierter Fassung zum zweiten Mal aufgelegten Buches mit dem herausfordernden Titel Die Sumerer gibt es nicht. Einer breiteren Öffentlichkeit ist Heinsohn als Schöpfer des ›Kriegsindex‹ bekannt geworden, einer Art Treibhaustheorie der menschlichen Aggressionsgeschichte, die mit dem steilen Anstieg der Massenproduktion junger Männer im 21. Jahrhundert neuen kriegerischen Höhepunkten zustrebt. Dahinter scheint irgendein Fake der Historiker zu stecken. Was haben der radikale Vereinfacher der früh- und altgeschichtlichen Chronologie und der Aggressionsforscher des dritten Jahrtausends P.C. miteinander gemein?
- von Ralf Willms
Ulrich Schödlbauer: Deutsches Roulette. Festgabe zu Peter Brandts 70. Geburtstag, Heidelberg 2018
Schödlbauers Deutsches Roulette – dem Wort nach eine Sonderform des Roulettes, die politisch übertragen werden kann, und schon «Roulette« spiegelt den Spielcharakter in der politischen Situation (nicht nur) dieses Landes – besticht, sticht in «Seifenblasen« hinein, die, wie jeder weiß, aufgebauscht politisch wie sonstwie lange bestehen können und bestehen. So stellt sich, dem vorangestellten Passus nach, dem Selbst- und interessensgerechten politisch Handelnden ja tatsächlich «das Volk«, das ihn erhob, bald als größtes Hindernis dar. Denn: Verwickelt in Scheingefechte um die wirklich gute Sache, lugt doch bald das falsche Ergebnis aus der Lüge hervor, die durchaus bemerkt wird. Jedoch: Die «Neunmalklugen« ziehen die Fäden immerhin mit so viel Geschick, sodass ihre Gaukeleien – langfristig, in endlosen Verschiebungen – getragen werden. So bleibt der demokratische Traum, was er ist. So wird, ließe sich pointieren, ein ganzes Volk (heißt: die in einem Land wohnenden Menschen) verhökert und stimmt dem – vielfach partizipierend – zu.
Rudolf Borchard: Weltpuff Berlin, Reinbek 2018
Thilo Sarrazin: Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht, München 2018
Rudolf Borchardts Weltpuff Berlin – eine Überraschung für alle, die sich in seinem Nachlass nicht auskannten und daher nicht schlecht staunten, aus der Feder des Kulturzauberers einen saftigen Porno serviert zu bekommen, mit einem jungen Mann aus gutem Haus als Mittelpunktsfigur plus Erzähler, dazu einem sich zügig drehenden Karussell junger und reiferer Damen, allesamt erpicht darauf, auf der Stelle die Vorzüge seines Geschlechtsinstruments zu erproben – als hätten sie jahrelang nur auf den idealen Liebhaber gewartet und seien ganz schnell ganz sicher, ihn soeben gefunden zu haben. Der Mix aus ›Casanovas Lebensbeichte‹ und ›Proust-unter-den-Röcken‹ wirkt gewöhnungsbedürftig, vor allem deshalb, weil sich weder Absicht noch Ziel der Recherche beim ersten Lesen erschließen. Möglicherweise auch nicht beim zweiten, aber wer will es darauf ankommen lassen? Jedenfalls wächst der Erzähler an seinen Aufgaben. Der Stil ist glänzend und der Sinn bleibt dunkel – es sei denn, alles ist gewollter Un-Sinn und Spiegel-Protzerei. Entstanden in den dreißiger Jahren, in denen die Erforschung der Lust sich in manchen Köpfen der kulturellen Avantgarde zur Raserei verdichtete – kann B. mithalten? Will er überhaupt … mithalten? Zweifellos reiht er sich mit diesem Buch unter die Ahnherren des Fu-Projekts ein.
Als ich zu Reich-Ranickis Zeiten eine Handvoll Besprechungen für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb (damals schon Fatz genannt, obwohl sie es erst noch werden sollte), galt die Regel: Nichts liegen lassen! Ein Buch, das ungeöffnet vierzehn Tage auf dem Schreibtisch des Rezensenten herumliegt, ist überfällig, ein angelesen zurückgelegtes (um der Nachdenklichkeit Raum zu verschaffen) ist bereits tot. So kann man besprechen, aber nicht lesen. Das aggressiv Besprochene rächt sich, es bleibt ein Relikt, das sein Geheimnis nicht preisgibt, es wandert verschlossen ins Antiquariat oder in die Buchwand. Alles produktive Lesen hat seine Zeit. Wer sie staucht oder presst oder schnipselt, weil er keine hat, könnte es genauso gut lassen. Besser, einer macht sich Notizen und vertraut seinem Gedächtnis.