Geburt der Moderne

Auf den ursprünglich weißen Grundierungen bewegen sich jetzt nicht nur dem Menschen verwandte Gestalten, sondern auch, in gleichem Anschein, den Steinen verwandte Steine, dem Wasser verwandte Wasser, den Bäumen verwandte Bäume, den Vögeln verwandte Vögel sowie Zwischenformen in zunächst schwer beschreibbaren Verbindungen, die wie eine Freude des Pinsels, wie Ausbrüche wirken, die sich der Pinsel entsprechend der geschmeidigen Farbe erlaubt. Dieser Mörtel zwischen den Fugen der eigentlich bedeutenderen Gefangennahmen höherer Figuren bildet die rhythmische Lust eines Taktes und einer magischen Grundstimmung, die zur künstlerischen Verbindung jenseits logischer Konstruktionen werden.

Das lange Bild mit dem Boot der Vögel besteht aus zwei Inseln in einem von Land umschlossenen Teich. Dies zeigt das Heimische beider Gebiete. Es zeigt, dass es gemütvoll der Brust innewohnt. Die Vögel sind die eigentlichen Feinde, nicht die beiden Frauen. Es sind Feinde in der Bedeutung einer pendelnden, neugierigen Durchschnittlichkeit. Es sind die schlechten Professoren, die Bildungsspießer, nicht angekommene Fremde, Touristen ohne Verständnis. Der antike steinerne Kopf ihnen gegenüber ist das Symbol eines Wächters, zugleich ein Beispiel für den Ringkämpfer und jugendlichen Helden der androgynen Männerwelt der Antike. [...] Durch ihn fällt auf die Vögel auch etwas von deren Heimat, die nicht abendländisch ist, sondern orientalisch. Durch das blasse Haupt des antiken Mannweibes schimmert selbst etwas Persisches, etwas Alexandrinisches.

Der Teich endet in der Ferne unter einem ockerfarbenen Ufersaum. Dieser Ufersaum ist barock und westfälisch zugleich, ein Damm, hinter welchem die Wiesen in niemals endenden Nebel und Regen ziehen, in einen alten Himmel, der nichts von seinen ehemaligen Bewohnern verrät. Er ist aber nicht leer, sondern nur arm und dem Schmuck seiner Einrichtung nach sehr einfach. Niemand will ihn jetzt mehr betreten. Die blauen Flecken, die dort aus den Bäumen fallen, sind Bannungen, ein Kunstgriff des Malers, um das Bild mahnend ins Innere von Ereignissen zu senden, die dem Betrachter aus der Jugend, aus Stunden der Absonderung bekannt sind. Der Maler hat sie herabgeworfen, nicht im Sinne einer den Bildern entsprechenden Allegorie, sondern als einen blauen Befehl, als Aufruf an den Betrachter, die Empfindungskraft zu schärfen. Es ist ein Schlag mit dem Stock wie in einem Mönchskloster: »Lass ab von den Ablenkungen.«

Man sieht auf dem Weg zur bunten Insel ein französisches Gitter aus Binsen. An ihm weht eine Freiheitsfahne. Sie hat noch kein Wappen, es ist nur eine Anlage, die Vordeutung eines Wappens darauf, ein gemaltes Etwas der Poesie und des Mutes. Man könnte meinen, es fiele einmal jemandem angesichts dieses Vorzeichens wie Schuppen von den Augen. Meines Wissens nach kommt die Darlegung eines solchen Zeichens, das wahrhaftig ein gefangener Proteus ist, in den übrigen Malereien nicht wieder vor.

Nach dem Kopf des Wächters im Stein beginnt eine Wirrnis der bunten Insel.

Felsen und Pflanzennatur vereinigen sich. Der Baumstamm mit seinen Zweigen ist felsvermischt. Ein paar blattförmige Goldmünzen entwachsen zur linken Seite dem Stein. Sie sollen auf ihre Weise, als Gedenkmünzen italienischer Prägung, an Mantegna und Signorelli erinnern. Die Enten und ihre Eier bewohnen den Ort als Zierde. Sie wurden prächtig angesiedelt und dienen der gewünschten Vermischung der Felsen und Pflanzen, des Ölbaum-Lorbeers und des feurigen Marmors.

Die gedämpfte Glut des Ortes verdankt der Terra di Pozzuoli viel. Die vulkanische Macht dieser Farbe ist nicht zu verleugnen. Adern durchziehen den Stein und schaffen etwas dem Fleisch Verwandtes, das mich während so mancher Felspartie an die herrlichen Verse aus Novalis’ Hymnen an die Nacht gebunden hat, in denen es heißt:

Oh wenn das Weltmeer schon sich rötete und in rosiges Fleisch aufquölle der Fels.

Im Vordergrund läuft das Kind. Es trägt ein Gefäß, das der Hütung bedarf, denn es ist eine Flamme darin, die auslöschen könnte. Die Form des Reliquariums lässt auf das frühe achtzehnte Jahrhundert schließen. Es könnte aus Süddeutschland stammen. Dieses Kind befindet sich nicht auf der Flucht, sondern gleich Hermes in der zu seiner Botschaft gehörenden Bewegung, die symbolisch zu verstehen ist. Es eilt, wie der berühmte Hermes auf der Weltkugel, ohne sich zu entfernen. Wo man es auch sähe, es würde ruhend in Eile sein. Es ist auch ein Bild der Hoffnung, die keinen Ort hat, sondern immer miteilt, wie eine neben dem Zugfenster mitfliegende, immer gleiche Landschaft.

Das Reliquarium ist zugleich ein Topf mit Speise, die dem Kind gehört. ›Das Licht der Stuben‹ könnte diese Speise heißen, in Erinnerung an das Bauernhaus, das in Achim von Arnims Die Kronenwächter als etwas Winterliches und tief Träumerisches den Reisenden und suchenden Helden am Fuße des Schlosses aufnimmt. Hinter dem Kind, zwischen Büschen, liegt eine gestürzte Halbgestalt. Sie scheint, als gefallener junger Soldat, zugleich Grabmal und Denkmal zu sein eine traurige und vergessene Episode aus den Briefen einer einstmals erschütterten Familie. Die Patronenkiste und der Hut eines amerikanischen Soldaten des Ersten Weltkriegs beschwören etwas vom Geist der Südstaaten.

Das achtzehnte Jahrhundert, das dort tief ins neunzehnte Jahrhundert hineinragte, geriet durch den Sezessionskrieg in die neue Zeit. Der junge Soldat, noch von Partikeln einer französischen Bildung beeindruckt, kommt statuenhaft darin um. Er liegt auf seinem Gesicht. Das ist ein trauriges, doppeltes Ende. Amerika, jetzt keine Kolonie mehr, sondern ein barbarisches Großreich, das keinen wahren Anschluß mehr an Europa hat, pendelt wie Russland, das auch nur durch Europa zu erlösen ist, durch das Zeitalter.

Wir rücken an das Kleid einer Frau. Sie ist die Beherrscherin dieser Gegend. Ich spreche von ihrem Kleid zuerst, weil das Bild, auf diese Weise beschrieben, einer aufsteigenden Tendenz folgt, die von dem Boot der Vögel den reicheren Ausdrücken gewisser Geheimnisse hinter den Gestalten entgegengeht. Dieses Kleid wird von einem Flor überdeckt und wirkt, ebenso wie der fliegende Halbkorb, die Vögel mit den Schärpen oder die Fahne mit dem Binsengitter, französisch. Man soll an die Kleider der Hofdamen Eugénies, von Winterhalter gemalt, denken.

Die ganze Gestalt gehört zum Halbleibe eines außermenschlichen Wesens. Es hat die ernsten, etwas schmerzlichen und mütterlichen Züge Madame de Warens, der Geliebten Rosseaus. Sie erscheint ebenso rätselhaft wie letztere in den Confessions. Ihre wolkigen Hörner bestehen aus der milden Masse eines gepuderten Seifenschaums und verraten eine sinnliche Sanftmut. Es sind Ergänzungen, die das Leibliche entsprechend dem Ort seiner wahren Abkunft auszeichnen, übersteigerte Locken, das Marzipan der Schäferinnen. Aus ihrer erhobenen Hand bricht eine Flamme. Die Hände sind in der Malerei meist sehr ungewisse Mitteilungen, aus denen sich ablesen lässt, was die Figuren anscheinend selber tun und vordergründig wollen. Sehr weit kommt man damit nicht.

Die Flamme wird nicht ohne eine gewisse Verhaltenheit vorgewiesen. Es liegt ein Zögern in der Bewegung. Wer diese Flamme pflückt – denn sie wird nicht verteidigt werden gewinnt ein Rätsel, das zu seltsamen Gedanken führen kann, aber zu keiner Lösung. Es wird durch den altertümlichen Charakter dieser Dame, deren Lippen auf ein altes Französisch deuten, etwas gehütet, das heute niemand mehr haben will, weil es eher überdeutlich ist als unlösbar. Wenn man diese weibliche Gestalt auf eine ursprünglichere Weise ernst nimmt und an Rousseau vorbei mit ihr in die Tiefe geht, so sieht man das französisch anmutende Griechenland Alexandrias in der späten Antike.

Das alexandrinische Bücherwesen inmitten der Ströme und Geistesblitze einer nicht unschuldig zerfallenden Götterwelt wird von Ahnungen und Albträumen orientalisiert. Das Christentum und die Anachoreten lassen den Wüstenwind in die Philosophie der Antike eindringen. Die Streitgespräche des Glaubens materialisieren das Denken. Die Gedanken werden zu Gewürzen und so wirken sie auch noch jetzt. Es wird ein Manierismus geboren, der Zauberei und Technik miteinander verbinden will. Die Alchimie und die Zauberei wollen immer, ob wahr oder nicht, an dieser Stelle und zu dieser Zeit geboren worden sein.

Die bunte Insel vor den Augen des Betrachters erhebt auch diesen Anspruch. Sie entspringt der Sehnsucht nach einer religiösen und moralischen Wissenschaft, die nicht handelt, sondern Schattenspiele treibt und hinter Mauern, die den Charakter von Klostermauern tragen, beziehungsreiche Erkenntnisse sucht. Göttliche Kräfte sollen in den Dienst der Materie gestellt werden und mechanische Wunder bewirken.

Die Darstellung dieses weiblichen Halbwesens scheint mir dazu berufen, solche Gedanken zu erwecken. Frankreich, der Orient und die späte Antike auf dem Boden Afrikas sind hier zu spüren. Schon dass diese schwebende Dame mit Rousseau befreundet sein kann, deutet in eine bestimmte Richtung. Es handelt sich um einen für den Glauben, nicht für das Wissen bestimmten Materialismus, den diese Gestalt behütet. Das ist es, was hinter ihr als das Unmalbare wirkt. Die Schwierigkeit, dies zu erkennen, liegt darin, dass der Materialist in Bildern nichts suchen kann. Man ist in diesem Fall mitten in dem, was das Bild der Dame hütet, befangen, man ist selber in so etwas Ähnlichem und kommt weder in das Bild hinein noch hindurch. Andererseits ist es hierdurch eine Art Heilquelle, der sich auszusetzen dem hart gewordenen Verstand wohltut. Dass hier auch noch sonst eine Heilsamkeit wohnt, erkennt man an der Schlange und den Vögeln, die Schärpen tragen. Es sind fliegende Apotheker, Heilboten, kundige Geschöpfe. Eine Waldesfeuchtigkeit bestimmt den Boden. Sie spricht für eine Macht, die zum Grübeln stimmt, die Vergessenes aufweckt. Der Baum darüber ist auch so etwas wie eine Apotheke mitten im Wald. Es kann sich vieles an ihm öffnen. Die klugen Vögel können wie aus einem natürlichen Schrank manches entnehmen und verstreuen. Es war mir nie möglich, den grünen, etwas flüchtig und streifig gemalten Hintergrund unter den Ästen der linken Seite des Baumes zu verbessern, aber ich fand ihn auch nie ganz unbedeutend. Mir kam hier immer etwas entgegen, das dem feuchten Hauch eines empfindlichen Schimmels entspricht, wie er Pilze und glatte Baumrinden befallen kann. Es ist ein zarter Anwurf, keine Luft, eine zauberische Wirkung, die eigentlich durch eine bloße Berührung mit dem Finger auszulöschen ist.

Um das gesamte Bild zu umfassen, müssten wir wieder zur Mitte zurückkehren.

Auch hier steigen wir von tieferen Punkten nach oben auf. Steinerne Lemuren in blauer Farbe rotten sich unter dem Kopf des Wächters zusammen. Sie wirken fein verschliffen. Ich habe hierbei an eine für tot gehaltene Abteilung der Stoffe gedacht, wie sie der Nacht angehören, die wir kennenlernen, wenn wir Gebiete spekulativ betreten, die durch Wissen nicht mehr erfahrbar sind.

Dort ist es so dunkel wie in manchen Gebieten des Faust, wo gewaltige Schattengewölbe die Antike Goethes bedecken. Man könnte von erfundenen Erinnerungen sprechen. Sie sind sonnenlos, wenn auch nicht ohne Licht. Diese Lemuren verehren den Kopf des Wächters. Sie drängen sich zu ihm, ohne allerdings eine letzte Grenze übersteigen zu können. Sie bilden zugleich eine Rotte. Das kleine Schiff mit der gerupften Ente steht in seiner Selbständigkeit höher als diese Steine. Es ist dafür auch einsamer.

Dieses ganze Gebiet, diese ›Insel‹ ist kälter. Andere Ströme der Vergangenheit sollen durch die Anregung des schöpferischen Gedächtnisses das Neue bewirken. Dieses Neue entsteht hier, anders als bei Bildern, die äußerlich neu wirken, aber keinen tragenden Strom mit sich führen, durch eine gestützte Betrachtung, der sich nach vorne hin ein Gewünschtes und Gehofftes als spekulative Erkenntnis offenbart.

Alle diese Bilder hier haben hinter sich eine solche treibende historische Kraft.

Durch sie kann der Betrachter so blicken, wie die Bilder blicken. Sie sind es, die dem Zukünftigen oder dem Unbekannten entgegenschauen. Haben wir die Bilder von uns aus, von unserem Lebensbezirk aus erst einmal erreicht und betreten, so müssen wir uns von ihnen forttragen lassen. Daher ist es wichtig, sie nach der Beendigung, wenn der Maler beiseitetritt, auf ihren tragenden Grund hin, der aus der Vergangenheit, aus Deutungen und Anlagen der Vergangenheit kommt, zu untersuchen. Die Tradition ist, auf diese Weise begriffen, kein konservatives Verharren, das sich den Bewegungen in der Zeit entzieht, sondern ein belebtes Fundament, von dem aus das Bild den Anstoß und den Schwung, in eine bestimmte Richtung ins Neue hinaus zu blicken, erhält.

Verleugnet man das Eine, nämlich den Eintritt in ein Übermenschliches, so ist auch der richtungweisende Grund nicht zu betreten, die Richtung, mit den Bildern ins Neue hinaus zu blicken, nie zu erlangen. Das Bild, das diesen Prozess als das von Bildern kommende Leben, als die Lebensform der Bilder, nicht hervorrufen kann, bleibt nur ein Ding, eine Sache, ein die Welt der Sachen und Dinge vermehrendes blindes Objekt, mit dem man irgend etwas machen kann, bestenfalls ein Zierstück.

Das schmale Uferband im Vordergrund zeigt Ähnlichkeit mit Lethes Ufer ohne die manchmal von älteren Malern dort gezeigten Spuren der Verwesung. Es handelt sich allerdings auch um den Lethe der Jahreszeiten. Das Jahr in seinem Zug sich verändernder Witterungen zieht hier entlang. Jetzt ist es winterlich gestimmt. Es ist bereits eine klare Kälte vorbeigezogen. Was nachfolgen wird, ist schon erinnerungshaft wie Schilderungen Homers, in denen Odysseus strandet.

Eine kalte und klare Dunkelheit schärft die hier denkbaren Auftritte. Der Ort bittet fast um eine Belebung. Der gestrandete Fisch mit den Flügeln ist bis hierhin entkommen. Jetzt ist er zu einem Denkmal und Zeugnis geworden. Soweit kann ein Wesen der Unterwelt kommen. Es kann seinen unerwarteten Leib, von lebenden Augen bisher nie gesehen, hier niederwerfen. Alle sehen es jetzt und sein Untergang bedeutet seine Sichtbarkeit. In diesem Zustand bittet es um etwas Unverständliches. Mühsam fleht es um etwas, das man in seinem fernen Reiche verstehen würde, hier aber nicht. Es ist selber zu sehr überrascht und stammelt noch vom Alten, während es schon im Neuen untergeht.

Die stehende Frau in einer Kleidung, die ebenso bühnenmäßig an eine Tracht wie an den Aufputz einer Tempelgestalt erinnert, ist auch zugleich eine Stifterfigur mit porträtartigen Zügen. Winterliche Adlervögel, Boten, die jetzt nicht mehr fortwollen, schmiegen sich an ihr Knie. Sie wird sie auch jetzt nicht fortsenden. Sie würden niemanden mehr treffen, für den sie früher hinauszufliegen bestimmt waren. An ihre Stelle wird ein Wesen treten, das in der Hand ihrer Herrin soeben das Licht der Welt erblickt. Die Geburt des magischen Vogels verkündet die Ankunft eines kleinen, aber bunten Lebewesens in dieser Gegend. Besonders wenn man im Rücken der Gestalt das Winterliche und mondhaft Kalte des letzten Streifens mit dem Vogelkopf betrachtet, so mag man an Teile und Reiche des Unerlösten, des sich Verweigernden und Versteckenden denken, das auf seiner ernsten und alterswürdigen Barbarei leer beharrt, aber auch schön ist wie ein Winter in Sibirien.

Das Symbolhafte dieses Streifens erweckt Gedanken an Pilger und an Verse von Stefan George. Auch dieses Gebiet ist alt geworden. Es ist ein Reich, auf das bisher keine Lehren gepasst haben, von wie vielen es auch schon beeindruckt sein mag. Traurig daran ist, dass es auf diese Weise so etwas wie Greisenhaftigkeit angenommen hat, ohne zu einer wahren Würde berechtigt zu sein. Man könnte von der Würde eines grauhaarig gewordenen Dummkopfs sprechen, am Ende wäre auch das eigene Vaterland denkbar.

Über dem Kopf dieser weiblichen Gestalt, die ebenso Priesterin sein könnte wie Sängerin, zerbrechen Teile eines Tempelgebälks und entfernen sich durch die Luft. Die Wärme des Gebäudes flieht unter dramatischen Umständen aus der Kälte dieses Gebietes. Die Hoffnung verkündende Geste der Frau hat etwas Heroisches. Erfahrung will uns inzwischen lehren, es sei aber schon wieder etwas vergessen worden, wir müssten schon bald eine neue unberechtigte Würde in dem grauen Magen der alten Nation verdauen und es würde uns auch nicht wohler.

So haben wir auf dem ganzen Bild etwas Europäisches, das in seinen Umrissen auch nur mit einem kleinen Wechsel von Beziehungen spielt. Ein Bild kann nur logisch sein in seinen eigenen Elementen, dafür ist es so wahr, wie die wahre Wahrheit in ihren Teilen wäre, würde man sie nicht immer zu einem Ganzen glätten und aus ihren Bildern heben, als müssten diese Bilder etwas Zusätzliches werden, eben ›Geschichte‹.

Der heilige Sebastian der Frauen

Das große, fast quadratische Bild auf der gegenüberliegenden Seite sollte wie ein italienisches Bild, ein neues deutsches Bild werden. Wie ein italienisches Bild, sage ich, weil es kein deutsches Bild gibt, das Bildern, wie sie Mantegna oder Signorelli gemalt haben, auch nur annähernd gliche. Dies soll kein Widerspruch sein. Ich meine aber, es müsste auch in Deutschland das erzählende und gleichwohl geschlossene Bild möglich sein, das ohne Drama aus einem lichten, heiteren Bau besteht, aus einer dicht zusammengefügten Masse künstlerisch geformter Ereignisse. Ich habe daher an gar kein bestimmtes Bild dieser großen Meister gedacht, sondern nur gehofft, am Ende irgend etwas vor mir zu sehen, das, jenseits von Starre und expressiver Dunkelheit über jeder Lehrmeinung schwebend, ein Bild sei und kein Beispiel. Seltsamerweise erinnert mich aber nun die große, im Vordergrund kniende Dame an Elsheimer. Einen kleinen Waserfall im Schatten, bemooste Steine, nicht der freien Natur, sondern eines verlassenen alten Parks, wollte ich schon mit siebzehn oder achtzehn Jahren malen, in den Zeiten meiner Freundschaft mit einem anderen jungen Maler. Das Porträt Sebastian Riegels wird von einem blauen Berggeist gehalten, der mich an Nietzsche, an Sils Maria und die Alpensymphonie von Richard Strauß erinnert. Hier ist ein Element des Jugendstils, mit einer italienischen Gebirgssehnsucht vermischt, zur Wirkung gelangt. Das blaue Donnerrad am Himmel entstand in plötzlicher lebhafter Erinnerung an Goethes Worte im ersten Teil des Faust:

Die Sonne tönt nach alter Weise In Brudersphären Wettgesang...

Die Abschweifungen des Denkens und Empfindens, welche die Arbeit begleitet haben, sind inzwischen ganz von mir gewichen. Der Geist, der mich zu diesem Bild bewegt hat, hat sich entfernt, wenngleich ich ihn über den Umweg literarischer Arbeit zurückrufen kann. Ich möchte aber durchaus ein wenig von dem Licht dieser Kunst geschaffen haben, und so ist es jetzt ein etwas zu groß geratenes Plakat zu Ehren Italiens geworden, mit einer Figur, die mich an Elsheimer erinnert, und dem Porträt eines jungen Mannes in der ›Uniform‹ eines Punks. Die Auseinandersetzung mit dem Geist der ›luftigen Öffnung‹ kann Scheingestalten hervorbringen, die nur dem Spiel des Pinsels dienen, das, wie das sinnlose Geklapper einer Schere in den Händen eines übereifrigen Friseurs, eine Vorbereitung ist, die der Dämon des Bildes keineswegs ungern hört. Lassen wir solche Zwischenglieder bestehen. Ihr Wert liegt im Beispiel. Langeweile und Öde in den an sich schon tödlichen Zuständen der für autark gehaltenen Selbsthilfe der Menschen werden durch einen manchmal sehnsüchtig erfüllten Historismus in der Betrachtung einer alten Mauer, eines verfallenen Restes, den Gärtner und Besitzer übersehen haben, unterbrochen und aufgehoben. Und zwar aufgehoben bis zu dem Grade, dass alle Fäden des Unheils aus den Systemen dieses eigentlichen dritten Reiches, dieses Irrsinnsreiches des autonomen Menschen gelockert und zerrüttet werden. Wir können gedankenvoll einmal allein sein. Diese etwas überflüssig erseinende Mulattin trägt eine gewisse historistisch anmutende Schwermut in das Bild. Sie belastet es. Sie vertritt die heilsame Schwermut, die uns vor dem vergessenen undvielleicht mit Recht vergessenen Kunstwerk befallen kann. Die Wirkung dieses Bildes beruht sehr auf seinem abwechslungsreichen Bau und bleibt Vordergrund. Ich habe nie an etwas sich dahinter Verbergendes gedacht wie bei dem großen, gegenüberliegenden Bild.

Selbst der Kopf mit der Mütze, der aus den Felsen wie aus einem Fenster blickt, deutet eher auf eine Galerie, die von hinten in das Bild führt, als auf ein tieferes Geheimnis. Rätsel freilich finden sich in diesen Bildern überall. Sie müssen entstehen, wenn man inneren Befehlen blind gehorcht. Ich könnte über den Charakter dieses Jünglings reden, aber nicht über seine Bedeutung. Er wirkt tiefsinnig und scheu und scheint bereit eine Mahnung auszusprechen. Diese Mahnung wird leise ausfallen und könnte die Dame betreffen. Es werden private Bemerkungen sein, Erinnerungen und Fingerzeige. Diesem Bild gegenüber steht ein einzelner Baum. An diesen Baum denke ich besonders gerne. Seine Oberfläche ist weich und malerisch. In verschiedenen Strichlagen liegt das Licht verschwimmend auf dem Stamm. Eine kleine Schlucht beengt sein Wachstum. Aber die Steine sind ohne Gewalt und als malerische Geschöpfe ihm beigefügt, sie bilden weder Schlund noch Abgrund. Der Baum besitzt lauschende Ohren. Auch sie bestehen aus einem waldhaften Fleisch, aus Bast und Holundermark. Sein ganzer Wuchs entwickelt sich in unterschiedlichen Abteilungen, die übereinander geordnet sind. Die oberen runden Blattkugeln sind südlicher Natur und bilden den Wipfel eines kleinen Baumes, der aus dem großen hervorwächst. Dass dieser Baum lauscht und Ohren besitzt, bedeutet nicht, dass er etwas verrät. Man kennt dieses fragende Rauschen von Spaziergängen und Wanderungen. Man tritt in einen Wald und könnte denken, es würde auf eine sehr sanfte Weise etwas gefragt, das die Ohren zum Lauschen bewegt, weil auch der Wald lauscht. Man gerät in einen Bann, der aufmerksam macht. Keineswegs gerne hervorgetreten, zeigt der gemalte Baum sein stilles inneres Vermögen zuzuhören, mit einer diffusen Weichheit, die ihn malerisch schwimmen lässt. An diesem allein durch Malerei erreichten Zustand eines nicht gerne hervortretenden Baumes kann man die eigentümliche Fruchtbarkeit der Phantasie, ihre Fähigkeit zum Überwechseln, von Pilzen zu Zwergen,von Bäumen zu Riesen, sehr gut beobachten. Der Wald kommt nicht aus ohne den Menschen, der ihn betritt, denn er ist ein fragendes Vorgebiet, das von allen Seiten einen Druck ausübt, den Wechsel, die Verwandlung ohne fühlbare und gefährliche Übergänge zu vollziehen. Der Wald verändert, daher ist er die Stätte des Märchens. Dieser einzelne, aus diesem Grund wirklich in Gefangenschaft genommene Baum verrät ungern, aber durch die List der Malerei genötigt, etwas vom ganzen Wald.

Wiesbaden, 10. April 1982

 


Aus: Dif­fu­sion der Mod­erne. Paul Mers­mann und die Kunst, in: Stef­fen Diet­zsch /​Renate Sol­bach (Hg.), Paul Mers­mann — Dif­fu­sion der Mod­erne, Hei­del­berg 2008, S.177-184

Paul Mersmann
Paul Mersmann

Maler, Bildhauer, Schriftsteller 

 

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.