Aorta: Frontbild

Aus einem Abschlussbericht der Strafvollzugseinrichtung Cottbus, der erst einen Monat nach meiner »Blitzentlassung« geschrieben wurde
(Ungebräuchliche Abkürzungen wurden ausgeschrieben, Rechtschreibung leicht angepasst, jedoch nicht korrigiert)

Seit November 1974 befindet sich Faust in der hiesigen Strafvollzugseinrichtung. An den Maßnahmen der staatsbürgerlichen Schulung nahm er nicht freiwillig teil. Seine politische Grundeinstellung richtet sich grundsätzlich gegen die DDR. Er gibt sich als Feind der DDR aus und will hier im Strafvollzug unter Beweis stellen, dass er nicht gewillt ist, seine Meinung zu ändern.

Schon während der Aufnahme, bei der Erarbeitung des Erziehungsprogramms erklärte er, dass er für diesen Staat, gemeint ist die DDR, nichts tun würde. Dies bezieht sich besonders auf die produktive Tätigkeit. Auf Grund seiner negativen Haltung und mangelhafter Produktionsleistungen musste er bereits während der ersten Tage seines Hierseins disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden.

In individuellen Gesprächen bringt er zum Ausdruck, dass er nie ein Freund der sozialistischen Gesellschaftsordnung war und es auch nie sein wird. Seine Bestrafung betrachtet er als ungerecht. Mit dieser Maßnahme kann und will er sich nicht einverstanden erklären. Er hat die Absicht, sein Leben in der BRD neu aufzubauen und davon wird ihn keiner abhalten. In der DDR gibt es nach seiner Meinung keine Demokratie und Freiheit. Die Freiheit wird er aber in der BRD haben und diesem Ziel ordnet er alles unter.

Charakterlich ist er überheblich, arrogant und unbelehrbar. Trotz Aussprachen und Disziplinarmaßnahmen lehnt er seit März 1975 grundsätzlich im Strafvollzug eine Tätigkeit aufzunehmen ab. Er zeigte keinerlei Bereitschaft zur Umerziehung.

Da die Verhaltensweise des Faust gröblichst die Ordnung und Disziplin verletzt hat und dazu angetan war, andere Strafgefangene aufzuwiegeln, bzw. negativ zu beeinflussen, wurde er im März 1975 in Einzelunterbringung verlegt. Die hier geführten Aussprachen brachten keinen Erfolg, er blieb bei seinem Entschluss, keine Tätigkeit innerhalb der Strafvollzugseinrichtung aufzunehmen.

Faust schloss sich dem negativen Kern der Mitgefangenen an und beeinflusste auch Mitgefangene in negativer Richtung.

Gegenüber den Strafvollzugsangehörigen trat er provozierend auf. Auf Hinweise und Kritiken reagiert er undiszipliniert und versteigt sich dabei bis zur Provokation.

Während des Vollzugs der Freiheitsstrafe stand Faust mit seiner Ehefrau in Verbindung. Von einer positiven Einflussnahme auf den Umerziehungsprozess kann hier nicht gesprochen werden. Der Strafgefangene Faust lehnt jegliche Maßnahme der Wiedereingliederung ab, da er seine Perspektive in der BRD sieht.

Zusammenfassend wird eingeschätzt, dass beim Faust der Zweck der Freiheitsstrafe nicht erreicht wurde und die Gefahr einer erneuten Straffälligkeit besteht. Einsicht in die Verwerflichkeit der strafbaren Handlung liegt bei Faust nicht vor. Während des Vollzugs der Freiheitsstrafe bereitete er erhebliche Erziehungsschwierigkeiten. Faust ist nicht gewillt, den gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden und sträubt sich hartnäckig, sich den Gesetzen unseres Staates unterzuordnen. Er zählte in unserer Einrichtung zu den besserungsunwilligen Strafgefangenen und wird auch in Zukunft versuchen, sich außerhalb der Verhaltensnormen zu bewegen.

Der von einem »Hauptm.d.SV« unterzeichnete Bericht trägt das Datum des 25.06.75.

Anmerkungen des Betroffenen

Grundsätzlich wurde meine damalige Haltung richtig wiedergegeben, freilich oberflächlich, phrasenhaft, ohne konkrete Belege und nachprüfbare Tatsachen. Dass ich »nie ein Freund der sozialistischen Gesellschaftsordnung war« ist eine erfundene Behauptung, die keinesfalls stimmt, denn ich war während meiner letzten Schuljahre bis in meine Studentenzeit 1968 hinein ein ziemlich überzeugter, wenn auch nicht fanatischer Jungmarxist und wollte mithelfen, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen. Dafür engagierte ich mich über das übliche Maß hinaus, wie Zeugnisse vor allem der Parteigruppe an der damaligen Karl-Marx-Universität Leipzig belegen.

Das andere, viel wichtigere Manko dieses Abschlussberichtes ist, dass hier grundsätzlich gelogen werden musste, um eigenes Versagen vor der Stasi zu kaschieren. Denn es stimmt keinesfalls, und jeder Haftkamerad kann das bezeugen, dass ich, wie hier unterstellt, »grundsätzlich im Strafvollzug eine Tätigkeit aufzunehmen« abgelehnt habe und vor allem deshalb in die Kellerhaftabsonderung gesteckt werden musste. Mit der Tautologie »überheblich, arrogant« wurde jeder bezeichnet, der sich nicht beugen ließ, also nicht zum »Arschkriecher« wurde.

Es stimmt zwar, dass ich mir während der äußerst gesundheitsschädlichen Zwangsarbeit für die volkseigene Firma »Sprelacart« keine Mühe gab, im Gegenteil, sogar die Arbeit sabotierte und zum Beispiel einen zweitägigen Arbeitsausfall der gesamten Abteilung veranlasste, was mir jedoch zum Glück nicht nachgewiesen werden konnte. Einige Kameraden, allen voran der Brigadier Uwe Erdmann, der als Krimineller einsaß, sorgten mit Tricks dafür, dass ich meine Norm erfüllte, um nicht aufzufallen, damit ich selbst an der Werkbank meiner subversiven Schreibtätigkeit nachkommen konnte.

Der eigentliche Grund meiner über 400-tägigen Absonderung bei kärglicher Nichtarbeiterverpflegung inklusive der insgesamt 63 Tage strengen Arrestes bei Muckefuck und drei Scheiben Trockenbrot war also die von mir insgesamt 13 Mal in Umlauf gesetzten Häftlingszeitungen unter dem Titel »Armes Deutschland«. Dank der Intelligenz und Kameradschaft unter den meisten politischen Gefangenen, die dort 70 bis 80 Prozent der Häftlinge ausmachten, wurde die Verbreitung dieser handgeschriebenen Ein- oder Zweiblattzeitung klug überwacht, so dass die Spitzel unter uns keine Chance bekamen, ein Exemplar dem Wachpersonal oder dem Stasi-Offizier der Anstalt abzugeben. Im Gegenteil, die Haftkameraden ermöglichten es mir, selbst in der strengen Kellerabsonderung diese Zeitung weiter schreiben und gestalten zu können, in größerer Ruhe als zuvor. Sie ließen sich allezeit etwas einfallen, mir Papier und Stifte verschiedener Farben, ja, sogar Lebensmittel und Vitaminträger zukommen zu lassen. Obwohl meine Zelle immer mal wieder gründlich »gefilzt« wurde, fanden sie bis zuletzt das Versteck, den doppelten Boden, unter dem stinkenden Kübel nicht, wo ich die Schreibutensilien aufbewahrt hatte.

Es war der Anstaltsleitung und dem Stasi-Verbindungsoffizier (OKS) peinlich, und es provozierte sie ungemein, dass eine solche »Straftat«, die mir damals noch etwa fünf Jahre »Nachschlag« eingebracht hätte, nicht aufgeklärt werden konnte. Deshalb wurde diese »Zeitung« zu ihrer eigenen Sicherheit nicht erwähnt, und es musste eine Lüge herhalten, meine Absonderung begründen zu können. Doch auch hier waren die Umerzieher nicht konsequent, denn es gab ja tatsächlich Strafgefangene, die wirklich jede produktive Arbeit für diesen Staat unter diesen Haftbedingungen von vornherein ablehnten. Sie wurden zu meiner Zeit auf eigene Weise bestraft, indem sie als »Besserungsunwillige« (BU) in eine besondere Gemeinschaftszelle gesperrt wurden, die aus zwei miteinander verbundenen Einzelzellen im Haus 2 bestanden. In der einen Zelle waren drei Doppelstockbetten zum übernachten, dann mussten sie tagsüber durch eine kleine verschließbare Gittertür in die nächste Einzelzelle, wo ein Tisch stand, darum sechs Hocker gruppiert waren und an der Wand Regale für die Wasch- und Essen-Utensilien. Oft durften sie nur in der Dämmerung ihren gesetzlich vorgeschriebenen »Freigang« auf dem Hof wahrnehmen. Ansonsten hat man sie dort ohne jede Beschäftigungs- und Lesemöglichkeit bei Minimalverpflegung sich selber überlassen. Warum wurde mir also eine exklusive, wenn auch zumeist feuchte und kalte »Einzelunterbringung« (EU) zugedacht, wo ich sogar fast jeden Tag das Neue Deutschland und aller 14 Tage ein Buch lesen durfte?

In den Westen verkaufte Häftlinge berichteten dort über mein Schicksal, so dass ich »Gefangener des Monats« von amnesty international (ai) wurde und damit viele Briefe an die Verantwortlichen gelangten, in denen meine Freilassung gefordert wurde. Zugleich gelang es mir, einen geheimen mit Holzspan und Zuckerwasser geschrieben Brief an meine Frau herausschmuggeln zu können, der über Wolf Biermann und Prof. Robert Havemann an dessen Haftkameraden Erich Honecker gelangte, der daraufhin am 22. Mai 1976 einen Staatsanwalt nach Cottbus schickte, sodass ich plötzlich unverzüglich aus der Kellerabsonderung wegen »guter Führung« sofort entlassen werden musste.

Erst als ich ab 1. September 1976 im Westen war, konnte mein Kübel-Versteck entdeckt und die Herstellung der Zeitung einigermaßen aufgeklärt werden. Der Ingenieur Wolfgang Risch, der an der Verbreitung der Zeitung mitgewirkt und den Zivilmeistern von »Sprelacart« Kugelschreiberminen und Buntstifte »stibitzt« hatte, die ich nicht haben durfte, aber brauchte, wurde nach seiner Haftentlassung in die DDR nochmals zur Kasse gebeten und erhielt ein Urteil von sieben Jahren Freiheitsentzug wegen »staatsfeindlicher Hetze«. Vor Gericht bekannte er sich stolz dazu, das »Arme Deutschland« unterstützt zu haben. Anderthalb Jahre darauf wurde er durch eine mit dem Springer-Journalisten Lutz-Peter Naumann, der ebenfalls Häftling in Cottbus war, eingeleitete Protestaktion am Berliner Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße in den Westen freigekauft.

Siegmar Faust

 

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