Gericht und Theater
Umberto Eco hat den Kriminalroman in seinem Nachwort zu Der Name der Rose als ›metaphysische Gattung‹ bezeichnet, da sein zentrales Thema die Wahrheitssuche sei. Mit noch größerem Recht lässt sich das über Gerichtsprozesse sagen: Zielen diese doch ebenfalls darauf ab, die Wahrheit aufzudecken – und zudem geht es dabei um Fragen von Recht und Unrecht.
Vorausgesetzt ist, dass es eine aufzudeckende Wahrheit gibt und dass sie durch das Gericht feststellbar ist. Dazu müssen Wissenslücken gefüllt, Täuschungen aufgedeckt und Ausflüchte (des Angeklagten) entkräftet werden. Zur ›Normalidee‹ eines Gerichtsprozesses, an der wir uns zu orientieren pflegen, gehören neben einem Richter, einem Angeklagten, einem Vertreter der Anklage und einem Verteidiger die Existenz einer Rechtsordnung, die den Maßstab für die Feststellung von Schuld oder Unschuld bietet, sowie eine Öffentlichkeit, vor der die Verhandlung stattfindet. Diese repräsentiert die Gemeinschaft, die an die bestehenden Gesetze gebunden ist, ja durch diese als Gemeinschaft erst konstituiert wird. Der Richter muss über ein Urteilsvermögen verfügen, das es gestattet, den anstehenden Fall angemessen einzuschätzen. Der Angeklagte wird sich in der Regel zu rechtfertigen suchen. Sein Verteidiger steht ihm darin bei, während der Anklagevertreter deutlich machen muss, worin nach seiner Überzeugung die Schuld des Angeklagten besteht. Die Frage, was jemand getan hat bzw. wer etwas getan hat, wird vor Gericht nicht nur um der bloßen Erkenntnis der Wahrheit willen aufgeworfen. Es ist Aufgabe des Gerichts, durch Bestrafung von Schuldigen die moralische Ordnung wieder herzustellen, die durch ein Verbrechen aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist. Wichtiger noch als der Ausgleich zwischen angerichtetem Schaden und zu leistender Kompensation ist der durch Sühne ermöglichte Sieg des Rechts über das Unrecht.
Das klingt alles wie selbstverständlich, aber in literarischen Texten wird gerade mit diesen Voraussetzungen vielfach gespielt und so eine Reflexion ausgelöst, die darauf abzielt, sich diese Voraussetzungen bewusst zu machen und ihre Implikationen neu zu überdenken. Dies gilt noch für einen weiteren Vorstellungskomplex, der mit dem des Gerichtsprozesses verbunden ist: die Beurteilung der Toten durch ein Gericht. Schon in Ägypten glaubte man an ein Totengericht; die jüdische und die christliche Welt teilen sich die Vorstellung eines göttlichen Endgerichts. Mit der Gerichtsvorstellung assoziiert ist darum nicht zuletzt die einer radikalen Offenlegung des menschlichen Schuldenkontos, der endgültigen Abrechnung und der möglichen Verdammnis. In der bildenden Kunst des (christlichen) Mittelalters wie der Neuzeit gibt es eine Fülle von Gerichtsdarstellungen, die diese Vorstellung des Weltgerichts popularisiert haben. Auch die Idee eines über den einzelnen Verstorbenen abgehaltenen individuellen Gerichts ist dem rabbinischen Judentum seit kurz nach der Zeitenwende geläufig. Mit der jüdisch-christlichen Idee eines Endgerichts eng verknüpft ist ein teleologisches Geschichtsdenken, ist die Vorstellung einer linear verlaufenden, einsinnig ihrem Ende zustrebenden Zeit. Ausgehend davon wird in der abendländischen Geschichtsspekulation die Vorstellung, die Weltgeschichte selbst sei das ›Weltgericht‹, in der romantisch-hegelianischen Geschichtsphilosophie zum vielfach zentralen Topos. Geschichtsphilosophische Darstellungen des geschichtlichen ›Prozesses‹ bedienen sich oft der Bilder und Begriffe aus der Sphäre des Gerichtswesens.
Gerichtliche Prozesse sind der Gattung des Dramas in manchem verwandt; Gerichtsverhandlungen und Schauspiele haben vieles gemeinsam. Vor Gericht wie auf dem Theater übernehmen die Beteiligten verschiedene Rollen. Es gibt eine Öffentlichkeit, vor der agiert wird; diese beobachtet und bewertet die Akteure der Verhandlung. Wer im Mittelpunkt des Interesses steht versucht hier wie dort, sich möglichst gut darzustellen. (Wie das Gericht zum Modell für eine bestimmte Etappe der Weltgeschichte geworden ist – nämlich die letzte – und nur im Kontext der romantisch-hegelianischen Geschichtsphilosophie zum Gleichnis der Geschichte als ganzer (Weltgeschichte als Weltgericht), so ist das Schauspiel seit der Antike eine bevorzugte Metapher für das Weltgeschehen gewesen; das Leben galt und gilt als Rollenspiel. Oft verschmelzen Theater- und Gerichtsmetaphorik auch miteinander.)
Die auf römisch-antike Vorstellungen zurückgehende Begriffsgeschichte von ›Person‹ und ›Charakter‹ sind historisch eng mit Vorstellungen über das Gerichtswesen verknüpft. Das lateinische Wort ›Persona‹ bedeutet zunächst ›Maske‹, in zweiter Linie auch ›Rolle‹, ›Charakter‹. Aus der erstgenannten entwickelten sich schon in der römischen Antike diverse übertragene Bedeutungen. Die Doppeldeutigkeit von ›Rolle‹ eines Schauspielers und der ›Rolle‹ eines Mitglieds der Gesellschaft existiert schon hier.
Sprache ist für Prozesse wie für Schauspiele konstitutiv. Dramen sind (zumindest traditioneller Weise) sprachliche Gebilde; Gerichtsverhandlungen vollziehen sich im Medium der Sprache. Auch das Gesetz, auf dessen Grundlage über Recht und Unrecht befunden wird, ist ein sprachlicher Text. Die Wahrheitssuche vollzieht sich im wesentlichen im Medium sprachlicher Interaktionen, auch wenn nicht-sprachliche Beweisstücke und Indizien in diesen Vorgang einbezogen werden. Die Wahrheit nimmt, zugespitzt gesagt, im Verlauf des Prozesses sprachliche Gestalt an. Das abschließend ergehende Urteil ist sprachlich verfasst; d.h. die Wiederherstellung der gestörten ethisch-moralischen Ordnung durch Sühne ist an eine sprachliche Äußerung gebunden. Mit dem Vorstellungsfeld um Person und Rolle verbunden ist in Rom vor allem der Gedanke einer sprachlichen Selbstdarstellung; so wird der Begriff der Person auch zur grammatischen Kategorie. Wer spricht, spricht als ›Person‹ und nimmt damit schon eine Rolle ein. Das öffentliche Leben ist eine Interaktion von ›Personen‹ – wie auf dem Theater. Aus der Perspektive der römischen Kultur ist vor allem das Gerichtswesen Herzstück und Inbegriff des sozialen Lebens; entsprechend wird gerade hier evident, dass Menschen in verschiedenen Rollen auftreten und miteinander interagieren. Die verschiedenen an einem Prozess beteiligten Personen nehmen als spezifische Rollen-Träger den jeweils verhandelten Fall aus verschiedenen Perspektiven wahr – und diese Vorstellung einer sich ausdifferenzierenden Perspektivik wird auf den grammatikalischen Diskurs übertragen: Man spricht in der ersten, zweiten oder dritten ›Person‹.
In literarischen Texten werden vielfach Gerichtssituationen dargestellt – bis hin zur Gegenwartsliteratur. Dabei werden einige mit Gerichten verknüpfte leitende Vorstellungen vorausgesetzt; ausgehend von diesen wird aber auch mit solch konventionellen Vorstellungen gespielt. Dichterische Darstellungen von Prozessen sind zumindest implizit, oft explizit Reflexionen über Wahrheit und Wahrheitssuche, über moralische, rechtliche und soziale Ordnungsideen. In König Ödipus ist die Ordnung in zweifacher Hinsicht gestört: Ein (Königs-)Mord ist geschehen und bislang ungesühnt – und derjenige, der vor die Schranken des Gerichts gehört, übt (zunächst) das Richteramt aus. Mittels eines Prozesses – der das Drama ›ist‹ – wird ersterer aufgeklärt und letzteres korrigiert. (All das spielt sich sprachlich ab.) Die König-Ödipus-Parodie in Kleists Der zerbrochne Krug zeigt eine Akzentverschiebung: Es ist mehr zerbrochen als ein Krug. Die Weltordnung wird zwar geflickt, aber sie behält, wie der Krug, ihre Klebestellen und Löcher. Niemand – kein Schicksal, kein Gott – wacht mehr darüber, dass es in der Welt gerecht zugeht. Menschliche Richter müssen das Amt des Welt-Richters übernehmen – und die Weltordnung ist so gebrechlich wie sie.
Parallel zur Weltgerichtsmetaphorik wird die Theatermetaphorik in der Romantik (also zu Beginn der Moderne) umcodiert: An die Stelle eines göttlichen Regisseurs tritt ein transzendenzloses Welttheater. Statt festgelegter, damit aber auch als sinnvoll im Gesamtplan abgesicherter Rollen sucht sich jeder seine eigene Rolle, manchmal auch mehrere, manchmal sogar einander widerstreitende Rollen. Statt eine durch die von Gott zugeteilte Rolle gesicherte Identität zu besitzen, entwirft und wechselt der Mensch die eigene künstliche und kontingente Identität. Er wird zum Maskenspieler ohne identifizierbaren Charakter. Manchmal trägt er mehrere Masken neben- oder übereinander, aber das Gesicht dahinter ist selbst nur wieder eine Maske. Das ist, sehr grob abgesteckt, ein zentrales Themenfeld der modernen Literatur, insofern diese mit Vorstellungen aus der Sphäre des Gerichtswesens und des Theaters arbeitet. Darstellungen von Gerichten, bei denen die genannten Voraussetzungen nicht (mehr) gegeben sind, keine klare Verteilung der Rollen, kein Interesse an der Wahrheit, kein Glaube an die Existenz einer solchen Wahrheit und kein Streben nach (Wieder-)Herstellung von Gerechtigkeit – nehmen via negationis Bezug auf diese Vorstellungen – so wie literarische Darstellungen eines Theaters, das aus den Fugen gerät, ein Wissen darum voraussetzen, was ein ›ordentliches‹ Schauspiel mit klarer Rollenaufteilung zwischen Spielern, Regisseur und Publikum sowie mit einer klaren Abgrenzung zwischen Spiel und Wirklichkeit, Schein und Sein ist.
Ein falsches Weltgericht: Nachtwachen von Bonaventura
Die unter 1804 dem Pseudonym Bonaventura erschienenen Nachtwachen, ein kurzer Roman, der erst vor wenigen Jahrzehnten klar einem Verfasser zugewiesen werden konnte (August Wilhelm Klingemann), sind charakterisiert durch weitläufige Rückgriffe auf Theater- und Gerichtsmetaphorik, die miteinander verschmolzen werden. Im Zusammenhang damit wendet sich der Text auf subversive Weise gegen die metaphysischen Vorstellungen, die mit der Idee eines Welttheaters unter göttlicher Regie und eines vor einem göttlichen Gericht stattfindenden Prozesses verbunden sind. Der Protagonist stellt sich als Nachtwächter vor und nennt sich Kreuzgang. Als Nachtwächter ist er jemand, der weiß, ›was die Stunde geschlagen hat‹, also durchaus ein Erbe der Aufklärung, und dies beweist er vor allem in seiner Rolle als Satiriker. Gegenstand seiner Kritik sind verschiedene Stände sowie ihre Lebens- und Denkformen. Behörden, Polizei, Gerichte und andere Autoritäten werden von Kreuzgang wiederholt als inhuman und verblendet dargestellt. Ein früh ins Blickfeld gerückter Richter, der gedankenlos und kalt Todesurteile in Serie unterschreibt, erscheint als Repräsentant einer gnadenlosen und mechanischen Justiz, die keine moralische Ordnung mehr zu gewährleisten vermag. Ein gerechter Richter oder ein Repräsentant einer himmlischen Rechtsordnung tritt im Roman gar nicht erst auf.
Die Fülle der (Welt-)Theatermetaphern deutet auf ein barockes Erbe der Nachtwachen, doch die Metapher wird umcodiert. In Abweichung von christlich-barocken Jenseitsvorstellungen, denen zufolge hinter der scheinhaften diesseitigen Welt eine andere, wahre Wirklichkeit liegt, gibt es für den Nachtwächter aber kein solches ›Jenseits‹ der Kulissen und Masken. Er übernimmt aus der barocken Theatermetaphorik die Akteure und die Kulissen, aber er streicht den göttlichen Spielleiter und nimmt dem Erdenschauspiel zugleich seinen Sinn.
»[…] Es ist alles Rolle, die Rolle selbst und der Schauspieler, der darin steckt, und in ihm wieder seine Gedanken und Plane und Begeisterungen und Possen – alles gehört dem Momente an, und entflieht rasch, wie das Wort, von den Lippen des Komödianten. – Alles ist auch nur Theater, mag der Komödiant auf der Erde selbst spielen, oder zwei Schritte höher, auf den Brettern, oder zwei Schritte tiefer, in dem Boden, wo die Würmer das Stichwort des abgegangenen Königs aufgreifen […].«
Es gibt kein Sein jenseits des Scheins; alles Sein facettiert sich in unendliche Spielarten des Scheins, alle Wahrheit zerfällt in diffuse Interpretationen. Ohne Sinn, ohne Plan, ohne Ziel, ist die Welt grund-los. Geschichte steht im Zeichen der Beliebigkeit; wo einst ein Regisseur plante, macht sich der Zufall geltend.
Die Dekonstruktion des Welttheater-Konzepts ist zugleich eine Dekonstruktion des Weltgerichts-Konzepts. Der Nachtwächter Kreuzgang selbst schlüpft in spielerisch-satirischer Absicht in die Rolle des Weltenrichters hinein. Um die spießigen, selbstgefälligen und verlogenen Menschen zu verunsichern, ruft er eines Nachts den Jüngsten Tag aus und hält den Aufgestörten eine satirische Predigt. Die Sechste Nachtwache berichtet davon, wie es ihm »in der letzten Stunde des Säkulums einfiel mit dem jüngsten Tage vorzuspuken und statt der Zeit die Ewigkeit auszurufen, worüber viele geistliche und weltliche Herren erschrocken aus ihren Federn fuhren und ganz in Verlegenheit kamen, weil sie so unerwartet nicht darauf vorbereitet waren.« Das Jüngste Gericht wird zum Straßentheater. Alle werfen zunächst ihre Masken und Larven ab (S. 74). Aber hinter den Charaktermasken der Gesellschaft tauchen keine menschlichen Gesichter auf, nur die Masken der Heuchelei, der falschen Demut und Menschenfreundlichkeit. Und nachdem sich das vermeintliche Jüngste Gericht als Inszenierung eines Satirikers entpuppt hat, geht man allgemein wieder zur Tagesordnung über. Zur Strafe wird der Nachtwächter entlassen und durch eine mechanische Nachtuhr ersetzt. Später weist man ihn in ein Irrenhaus ein, wo er u.a. auf einen Wahnsinnigen trifft, der sich für den Weltschöpfer hält. Auch dieser hat Weltgerichts-Phantasien. Er urteilt den Menschen schlechthin ab – als ein Wesen, das besser gar nicht geschaffen worden wäre und demnächst bei einem Jüngsten Tag endgültig abzufertigen ist.
Das Gerichtswesen bietet dem Verfasser der Nachtwachen also ein Modell zur Darstellung, Beurteilung und Deutung der Welt, aber es ist ein in doppelter Hinsicht verfremdetes Gerichtswesen: Erstens beruht die Rollenverteilung auf Willkür (der Nachtwächter und Dichter setzt sich an die Stelle des Weltenrichters), und zweitens verstößt er gegen die Spielregeln seiner Rollenidentität. Man könnte die in den Nachtwachen vollzogene spezifische Verschmelzung von Gerichts- und Theatermetaphorik so charakterisieren: Das Aus-der-Rolle-Fallen wird hier in die dem Schauspiel strukturell affine Sphäre des Gerichtswesens übertragen. Ein Gericht wird inszeniert, und dann werden die Rollen willkürlich verteilt, gespielt und wieder aufgegeben. Der Begriff der Metalepse bietet sich an, um dies zu beschreiben. Von Metalepsen im Drama spricht man, wenn die Handlung eines Binnenstücks plötzlich auf das Rahmenstück ausgreift, wenn ein Akteur des Binnenspiels ›aus der Rolle fällt‹, eine Kommunikation zwischen den Rollen der einen und der anderen Spielebene stattfindet. Solche Kurzschlüsse werden Metalepse genannt. Im Bereich der erzählenden Literatur sind Rahmendurchbrüche verschiedenster Art denkbar und belegbar: 1. Die Erzählung von bildlich dargestellten Gestalten, die plötzlich lebendig werden und mit dem Erzähler zusammentreffen 2. Die Erzählung von Figuren aus gelesenen Texten, welche plötzlich lebendig werden. Ein solches Lebendigwerden von Phantasiewesen ist innerhalb der Texte stets ein wichtiger Umschlagpunkt. 3. Der Eintritt einer Leser-Figur von der Rahmengeschichte ins Buch. Eine Metalepse liegt, anders gesagt, dort vor, wo zwischen zwei Ebenen dargestellter Wirklichkeit respektive zwischen fiktionaler und nichtfiktionaler Welt ein Kurzschluss stattfindet, ein Rahmendurchbruch, ein Bruch mit dem Prinzip geschlossener Funktionssysteme. Kreuzgang, der Nachtwächter, ›spielt‹ Gericht, gibt dann zu erkennen, dass er Gericht nur gespielt hat, indem er aus der Rolle fällt und den unfreiwilligen Mitspielern verdeutlicht, dass sie nur in einer Inszenierung mitgewirkt haben – und in der Haltung, die sich darin artikuliert, drückt sich seine Aburteilung der Welt aus.
Aufklärung setzt eine Differenz zwischen Sein und ›bloßem‹ Schein voraus. Mit der Gegenüberstellung von ›Realität‹ und Scheinwelt wird in den Nachtwachen hingegen nur gespielt. Gerade weil die Nachtwachen mit ihren satirischen Zügen auf der Aufklärung wurzeln, weil sie zunächst als ein Demaskierungs-Roman in aufklärerischer Tradition erscheinen, der durch Kritik die ›Wahrheit‹ über Menschen und Sachverhalte entlarven möchte, wird die Distanzierung von dieser Zielsetzung so wichtig. Die letzte, ernüchterndste Entdeckung des radikalen Aufklärers ist die, dass alles Leben dazu verurteilt ist, zu Staub zu werden, dass hinter der Kulissenwelt des menschlichen Treibens nur der Tod wartet. Das Buch endet mit einer Vision vom endgültigen Sieg des Nichts über die Schöpfung. Hier wird – in Fortsetzung des inszenierten Jüngsten Tags – der Welt selbst durch den Menschen der Prozess gemacht – und aufgedeckt, dass ›nichts dahinter‹ steckt. »Nichts« ist das letzte Wort des Romans (16. NW), von einem Echo gerufen, das dem Nachtwächter aus einem Leichenhaus entgegen schallt, nachdem er beobachten musste, wie der Leichnam seines Vaters in Nichts zerfiel und ein Gespensterseher nichtige Phantome zu greifen suchte.
Die Literatur re-inszeniert in den Nachtwachen das Weltgericht: als bloßes Zitat. Der Dichter hält Gericht über das ›Gericht‹ – es ist nichts dahinter. Das zeigt man am besten, indem man aus der Rolle fällt. Dichtung – verkörpert in Kreuzgang – erscheint als eine Instanz, welche um den Inszenierungscharakter von Gerichten weiß und sich darum die Freiheit nimmt, selbst solche Gerichtsspiele zu inszenieren. Dichtung beobachtet aus der Distanz das Welttreiben und entlarvt es als Theater – auch dort, wo die Weltgeschichte als Weltgericht erscheint. Darum gibt es in der unheilen nächtlichen Welt, der da ihr Ende und ihr Endgericht fälschlicherweise verkündet werden, neben dem Nachtwächter noch eine andere Figur, die als Beobachter des Getümmels ruhig bleibt: den Stadtpoeten. Die Nachtwachen sind ein poetologischer Roman. Sie bespiegeln die Literatur in ihrer radikal desillusionierenden Funktion – und als Instanz, die über die Welt Gericht hält, ein improvisiertes Gericht, bei dem sich die Nichtigkeit aller Dinge enthüllt. Dies geschieht – ganz allgemein gesagt – auf der Mikroebene einzelner Episoden sowie auf der Makroebene des ganzen Textes dadurch, dass der Nachtwächter Kreuzgang der Welt erstens den Prozess macht (er übernimmt die Rolle des Richters am Weltende und urteilt die menschlichen Welt als ganze ab), dass er zweitens aber auch mit seiner Rolle noch spielt. Er fällt aus der Rolle, nachdem er seinen ›falschen Jüngsten Tags-Lärm‹ gemacht hat – um dann im Irrenhaus gleich die nächste Rolle zu spielen: die des Narren, der weiser ist als die sogenannten Verständigen.
Ein Gericht der Papierfiguren: Lewis Carroll
Auf weniger dramatische Weise, aber in nicht weniger prägnanten Szenen, geht es auch in Lewis Carrolls Alice-Romanen um die Entdeckung, dass ›nichts dahinter‹ steckt. Wiederum wird dies vor allem in einer Gerichtsszene evident. Und wiederum geschieht dies dadurch, dass jemand aus der Rolle fällt. Carroll erzählt zweimal von den Abenteuern des Mädchens Alice in einer Gegenwelt; die eine erreicht sie durch einen Tunnel, der in die Erde führt, die andere beim Durchtritt durch den Spiegel (Alice's Adventures in Wonderland, 1865; Through the Looking-Glass, 1872). Die Alice-Abenteuer sind insgesamt Geschichten über Irritationen – bezogen auf das eigene Ich der Heldin wie auf die Wirklichkeit, mit der sie es zu tun bekommt. Immer wieder ist von Spielregeln die Rede, ja diese Regeln liegen der Welt zugrunde, in denen die Episoden sich abspielen: Die Figuren der beiden Bücher sind ja auch zum einen Spielkarten, zum anderen Schachfiguren, und im letzteren Fall entsprechen auch die Ereignisse den Zügen eines Schachspiels. Aber immer wieder gibt es Spielregelverstöße (Spielgeräte laufen weg wie bei der Croquetpartie der Königin), die Regeln werden nicht erklärt (Caucus-Race-Episode) – oder sie werden auf absurde Weise erklärt (etwa wenn Humpty Dumpty Alice Auskünfte über das Funktionieren von Wörtern gibt) oder sie widersprechen sich – wenn es denn überhaupt Regeln gibt, was manchmal ebenfalls zweifelhaft erscheint, wie im Fall des »Caucus-Race«.
Alice steht im übertragenen Sinn immer wieder vor Gericht. Dauernd wird sie von Bewohnern des Wunder- bzw. des Spiegellandes belehrt, zurechtgewiesen, korrigiert. (Vor allem ihre Ausdrucksweise wird kritisch kommentiert, und scheinbar harmlose und selbstverständliche Bemerkungen lösen lange und umständliche Beurteilungen aus.) Typisch für die Obrigkeit im Wunderland ist die Herzkönigin, die unablässige Standgerichte abhält und jeden, der sie ärgert, zum Tod durch Köpfen verurteilt. All dies geschieht einerseits zwar nur im Spiel – ist andererseits aber ebenso verunsichernd wie der Gedanke, man werde vielleicht vom Roten König nur geträumt. Die Begegnungen mit den Bewohnern des Wunderlandes und später dann des Spiegellandes werden vielfach zu peinlichen Befragungen, bis Alice ahnt, dass es richtige Antworten – etwa auf die Frage, wer sie denn sei – eigentlich gar nicht gibt.
Im einzigen wirklichen Prozess, der in der Wunderland-Geschichte stattfindet (Kap. 11 und 12, also am Ende der Zeit), ist nicht Alice die Angeklagte, sondern der Herzbube (der Hutmacher). Als Alice den Gerichtssaal betritt, zu dem sie auf ein Rufsignal hin geeilt ist, bietet sich ihr ein groteskes Bild. Der Herzkönig in Richterrobe sowie die Herzkönigin, thronen im Saal, umgeben von einer Schar verschiedener Tiere und den einzelnen Figuren des Kartenspiels. Für die zwölf Schöffen auf der Schöffenbank findet Alice nur den Sammelausdruck ›Wesen‹ (creatures) (übrigens ohne recht zu wissen, was Schöffen sind), da sich hier Vögel und Vierfüßler eingefunden haben, die noch dazu Befremdliches treiben. Den Herzbuben hat man in Ketten gelegt, ein weißes Kaninchen mit Fanfare und Pergamentrolle dient als Herold. Inmitten des Saals steht eine Platte mit Törtchen, welche Alice zunächst irrigerweise für einen Imbiss hält. Tatsächlich handelt es sich aber wohl um das corpus delicti. Das Kaninchen verliest als Anklageschrift ein Gedicht über den Diebstahl von neun Törtchen der Herzkönigin durch den Herzbuben. Und der Richter – der seine Perücke über der Krone trägt, als gelte es, sich doppelt zu maskieren – fordert die Schöffen unmittelbar nach der Verlesung des Törtchen-Gedichts zur Bekanntgabe ihre Urteilsspruches auf. Offenbar ist der Herzbube, als sein Prozess beginnt, schon verurteilt.
Der hier geführte Prozess ist in mehr als einer Hinsicht befremdlich, und das liegt nicht nur an der exzentrischen Aufmachung und dem unlogischen Benehmen des Richters. Zu Alices Verwunderung notieren die Schöffen etwas, noch bevor der Prozeß begonnen hat; laut Auskunft des Greifs schreiben sie ihre Namen auf, um ihn bis zum Prozessende nicht zu vergessen. Es gibt keine Darlegung der Anklage durch eine Anklageschrift; was überhaupt verhandelt wird, bleibt unklar (dass es sich um einen Törtchendiebstahl handelt, wird nur angedeutet, etwa auch durch die Kapitelüberschrift, die aber nicht zur Szene selbst gehört), es gibt keine Beweisaufnahme, welche diesen Namen verdiente, keinen Zeugen, der etwas zu der sich ohnehin entziehenden Verhandlungssache zu sagen wüsste, keine Verteidigung und keine Urteilsfindung. Es gibt auch kein Verbrechen, denn die Törtchen sind ja vorhanden. Ein angeblich für die Täterschaft des Herzbuben zeugender Brief hat mit diesen nichts zu tun. Dieses Gericht spielt Theater – und bietet die bloße Parodie eines seriösen Gerichts. Der Prozess endet mit dem Befehl der Königin, Alice zu köpfen – also mit einem Hinrichtungsbefehl ohne jede Begründung, der noch dazu jemanden betrifft, der gar nicht auf der Anklagebank saß. Dies ist der Moment, in dem Alice aus der Rolle dessen fällt, der sich etwas vorspielen lässt – und sei es durch die Figuren des eigenen Traumtheaters – und die Spielsituation eigenmächtig verändert. Sie wirbelt die Spielkarten durcheinander, hält ihnen vor, dass sie nur Spielkarten sind – die Szene erinnert an das Chaos, das Bonaventuras Nachtwächter beim falschen jüngsten Tag anrichtet. Auch Alice macht sich zur Richterin über dieses Gericht. »›Who cares for you?‹ said Alice, (she had grown to her full size by this time.) ›You're nothing but a pack of cards!‹
At this the whole pack rose up into the air, and came flying down upon her: she gave a little scream, half of fright and half of anger, and tried to beat them off, and found herself lying on the bank, with her head in the lap of her sister, who was gently brushing away some dead leaves that had fluttered down from the trees upon her face.«
Alle spielen Rollen, aber beliebige; die Gesellschaft besteht aus Spielfiguren: so Carrolls Variante der Welttheatermetaphorik. Eine subversive Alice kippt das Gericht buchstäblich aus den Bänken zugleich distanziert sie sich von der ihr selbst zugeschriebenen Rolle (bzw. den Rollen: als Beobachterin und als hinzurichtende). Diese Metalepse wirkt befreiend, auch wenn – oder weil – ›nichts dahinter‹ steckt. Die Gerichts-Episode mit ihrer metaleptischen Schlussgeste ist ein autoreflexiver Hinweis auf das Selbstverständnis der Literatur angesichts fragwürdiger, als kontingent durchschauter Ordnungen: Der literarische Erzähler treibt sein Spiel mit Spiel-Karten, mit Papier-Figuren, arrangiert sie als Parodie geordneter Verhältnisse und löst die konstruierte Welt dann in einem spielerischen End-Gericht wieder auf. Alices Rolle korrespondiert zumindest in einer Hinsicht der des Nachtwächters Kreuzgang: Sie verkörpert eine Literatur, die auf die Kontingenz von Ordnungen aufmerksam macht und mit diesen Ordnungen spielt – ein Spiel, dass insofern ernst ist, als die Entdeckungen, die dabei gemacht werden, nicht nur für die Zeit des Träumens gelten.
Ein unsichtbares Gericht: Franz Kafkas Process
Der in Kafkas gleichnamigem Roman geschilderte Prozess ist – wenn man ihn mit der konventionellen juristischen Praxis vergleicht – bekanntlich alles andere als konventionell. Zu den zentralen Fragen, mit denen der Protagonist und der Romanleser konfrontiert sind, gehört die, um was für ein Gericht es sich überhaupt handelt, das K. verhaften lässt – und ob dieses Gerichtswesen überhaupt irgendwelchen Gesetzen und Regeln folgt.
Die Lesarten der Hauptfigur sind kontrovers: K. erscheint als Opfer und als Täter; er scheint zu Recht gegen das Gericht zu protestieren oder zu Unrecht, er scheint die Wahrheit zu suchen oder zu heucheln. Sein widerborstiges Verhalten gegenüber dem Gericht kann nur dann als moralisches Versagen gewertet werden, wenn man die Rechtmäßigkeit des Gerichts unterstellt. Deutet man es hingegen als Sinnbild totalitärer Macht, so ist nicht einzusehen, warum K. sich nicht verstellen sollte. Sicher ist nur: Der ganze Roman spielt in der Sphäre des Gerichts; alle Figuren stehen in irgendeiner Weise in Beziehung zum Prozess, auch wenn dabei ihre Funktion ebenso unklar ist wie die Beschaffenheit des Gerichts. Zugleich spielt der Roman in einer eminent theatralischen Welt: man spielt einander etwas vor und beobachtet sich wechselseitig beim Spielen; das beginnt schon mit dem ersten Kapitel, der Verhaftungsepisode, als Nachbarn in Josef K.s Fenster hinein starren, es setzt sich fort, als er das Bedürfnis hat, Fräulein Bürstner abends vorzuspielen, was sich morgens in der Wohnung ereignet hat. Gespielt wird beim Advokaten, der sich von seinem Klienten Block die Hand küssen lässt, um K. eine repräsentative Szene zu bieten. Gespielt wird beim Maler Titorelli, wo lästige junge Mädchen die Szene beobachten. Gespielt wird schließlich am Ende. Die beiden Herren, die K. abholen, um ihn in einem Steinbruch hinzurichten, wirken auf ihn wie Tenöre, und er fragt sie, an welchem Theater sie spielen. Die für den Process-Roman prägende Verknüpfung von Gerichts- und Theatermetaphorik hatte übrigens schon das Ende des ersten Romans, Der Verschollene, bestimmt: Das Naturteater von Oklahama ist zugleich ein Theater – und ein Ort, der an das Weltgericht erinnert. Indizien sprechen dafür, dass der Held hier seinen Tod gefunden hätte. Die im Roman getroffenen Aussagen über K.s Prozess ergeben zusammen kein stimmiges Bild. Und Josef K. selbst lässt sich nicht auf eine in sich konsistente Weise auf seinen Prozess ein. Manchmal benimmt er sich devot wie ein schuldbewusster Angeklagter, manchmal verhält er sich wie jemand, der fälschlicherweise unter Anklage steht – und manchmal wie jemand, der das Gericht nicht ernst nimmt, ja sogar in seiner Existenz bezweifelt. Er fällt etwa aus seiner Angeklagten-Rolle, wenn er den Advokaten Huld verschmäht, wobei dieser freilich die Advokaten-Rolle auch nicht auf angemessene Weise spielt. Die Rolle des Kaplans im Dom ist ganz undurchsichtig; Analoges gilt für Titorelli.
Eine zentrale Frage, die die Kafka-Interpreten unterschiedlich beantwortet haben, ist die, ob es sich um ein äußeres oder um ein inneres Gericht handle. Gibt es überhaupt einen richtigen Prozess, der gegen Josef K. geführt wird, oder geht es um die Auseinandersetzung der Figur mit sich selbst? Denkwürdige Indizien sprechen für eine solche Lesart: So kommt es zu K.s Verhaftung, als er läutet (nach dem Frühstück): Hat er den Prozess selbst eingeläutet? – Das Untersuchungsgericht, zu dem er geladen ist, tagt genau dann, als er es sucht – vielleicht darum, weil es sein höchstpersönliches Gericht ist? Josef K. erwartet die Henker, die ihm niemand angekündigt hat, zu der Stunde, als sie kommen. Einer Auskunft des Kaplans im Dom zufolge will das Gericht nichts von den Angeklagten, es nimmt sie auf, wenn sie kommen, und entlässt sie, wenn sie gehen. Spricht all dies nicht für eine Lokalisierung des Gerichts im Inneren, für eine Transformation innerer Schuldgefühle in Angst vor einem äußerlich mächtigen Gericht? Immerhin meint K. selbst einmal, der Prozess sei »ja nur ein Verfahren«, wenn er ihn als solchen »anerkenne«.
Dass Josef K.s Prozess kontroverse Auslegungen zulässt, zeigt sich vor allem in der Szene vor dem Untersuchungsgericht, das K. intuitiv findet: Es ist unentscheidbar, ob sich das Geschehen in einem echten Gericht abspielt oder eine Art Schmierentheater aufgeführt wird. Vorwiegend schwarzgekleidete Leute füllen einen Saal, an dessen Podium ein dicker Mann sitzt, der K. wegen seiner Verspätung rügt und von einem anzustellenden Verhör spricht. Er fragt K., der ja Bankprokurist ist, ob er Zimmermaler sei; es scheint gar nicht klar zu sein, wer hier der Angeklagte ist und um was es geht. K. schmäht daraufhin das Verfahren und die Akten, die ihm zugrunde liegen, als ungerecht und konfus. Für seine Proteste erhält er Beifall aus dem Publikum, hat aber den Eindruck, die Reaktionen der Leute würden durch geheime Zeichen gesteuert; hat er sich zuvor selbst in Szene gesetzt, gewinnt er nun den Eindruck, ihm selbst werde etwas vorgespielt. Schließlich hält er alle im dunstig-nebligen Saal Anwesenden für Beamte des Gerichts. Das Gerichtswesen erscheint in vieler Hinsicht dubios – ähnlich wie bei Carroll. Dies ist K. deutlich bewusst und er möchte gern – analog zur befreienden Metalepse, die Alice am Ende des Wunderland-Buchs vornimmt – das Gericht durch Anzweiflung seiner Seriosität und Kompetenz um seine Macht bringen, es als ›Theater‹ entlarven und zeigen, dass nichts ›dahinter‹ ist. Aber der befreiende Ausstieg aus seiner Rolle als Angeklagter gelingt ihm nicht, weil ihm die Distanz zu diesem Gericht fehlt, zu der Kreuzgang und Alice schließlich gefunden hatten. Einem inneren Theater, einem inneren Prozess kann man nicht distanziert gegenübertreten, hier kann man nicht aus der Rolle fallen, weil es kein ›Außen‹ gibt.
Verkehrte‹ Prozesse und der Zeichner im Hintergrund: Marc-Antoine Mathieu und Monsieur Acquefacques
Seltsame Dinge erlebt Marc-Antoine Mathieus Comic-Figur Julius Corentin Acquefacques als ›Gefangener der Träume‹ (prisonnier des rêves) in den fünf Comic-Büchern, die ihm gewidmet sind; und diese sind in vielem durch literarische Texte inspiriert. Vieles erinnert an Kafka. Schon der Name seines Helden ist ein Lautpalindrom zu dessen Namen, und der Band Le processus enthält im Titel eine klare Kafka-Allusion. Alle Bewohner der Acquefacques-Welt werden durch eine gigantische Apparatur rigide kontrolliert; die autoritär auftretende, aber auch eigentümlich abstrakte Behörde erinnert an den Process und an das Schloß. Acquefacques arbeitet selbst in einer Behörde, wie denn überhaupt alle Figuren der Geschichten in irgendeiner Beziehung zu dieser stehen. Die Riesenhaftigkeit und Undurchschaubarkeit der Kontrollinstitution drückt sich in ihren gigantischen und verwinkelten Architekturen aus. Neben dem Gerichtswesen sind auch theatralische Elemente für die Acquefacques-Welt konstitutiv. Der Band La Qu... zeigt den Helden schon auf dem Einband vor einem Theatervorhang.
Zahlreiche Metalepsen charakterisieren Acquefacques Abenteuer. Le processus handelt davon, dass sich Acquefacques aus seiner zweidimensionalen gezeichneten Welt vorübergehend hinausbegibt, wodurch der Konstruktcharakter dieser Welt deutlich wird. Auch in anderen Abenteuern bewegt Acquefacques sich zwischen der zweiten und der dritten Dimension hin und her (vgl. La 2.333. Dimension). Dabei wird er immer wieder daran erinnert, dass er eine gezeichnete Figur ist. In gewissem Sinn machen die Bände der gezeichneten fiktionalen Wirklichkeit, die den illudierenden Anspruch erhebt, eine ›Welt‹ zu bieten, den ›Prozess‹.
In La Qu... kommt es zu einem absurden Gerichtsverfahren. Hier wird Acquefacques von zwei Mitarbeiten einer Behörde aufgesucht, die genau vermessen, welche Erstreckungen sein Wohnraum hat, damit dieser auch ja nicht die vorgeschriebene Norm überschreitet. Als man entdeckt, dass Acquefacques eine Schublade nicht korrekt geschlossen hat, wird er verhaftet und von den beiden Herren abgeführt wie Josef K. imProcess. Man führt ihn zu einem monumentalen Palais de Justice, über dessen Portal eine Allegorie des Gesetzes (Lex) und eine Aufhängevorrichtung über der Tür wenig Gutes ahnen lassen. Im Justizpalast wird Acquefacques ohne Vorbereitung und ohne Verteidigung mit der absurden Anklage konfrontiert, trotz der allgemeinen Enge zu viel Raum für sich eingenommen zu haben. Groteskerweise singen die Geschworenen im Chor das Urteil; Acquefacques soll geschlagen werden. Man verbindet ihm die Augen, als gehe es zur Hinrichtung, er wird aber nur vor die Mauer des Gebäudes geführt, wo er von einer Art Wächter geweckt wird. Der Alte teilt Acquefacques mit, vor ihm liege nun das Nichts (Le Rien); er müsse es durchqueren und den Bahnhof erreichen. Doch zunächst legt sich der Held schlafen. Im Traum steigt er in ein Bild ein und findet sich auf einem Theater wieder. Hier wird er von einem Wärter allein im Auditorium platziert, während sich eine Schar von applaudierenden Männern auf der Bühne einfindet: die ›société des auteurs‹. Erwachend stellt er am nächsten Morgen fest, dass der gigantische Bahnhof über Nacht dem Wirtshaus nahe gekommen ist. Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass Acquefacques von der Gesellschaft, die ihn beobachtet und lenkt, ein Auftrag zugedacht ist: Er soll mit der Bahn zu einem Turm fahren, auf dessen Spitze er einen Durchstieg entdeckt, der von der schwarzweißen Comic-Welt, zu der er gehört, in die Welt der Farben führt. Der rätselhafte Titel des Bandes, La Qu..., steht für Quadrochromie, Vierfarbigkeit – und vorübergehend dringen die Farben in Acquefacques Welt ein. Er selbst allerdings bleibt bleich, und die Farben verlieren sich wieder. Einmal mehr ist Acquefacques dazu verurteilt zu erkennen, wer und was er ist: eine Figur aus einer bande dessinée, die von bestimmten medialen Bedingungen abhängt (etwa der Existenz von Farben im Buch).
Mathieus Prozesse sind Darstellungs-Prozesse, paralogisch, grotesk und zugleich komisch. Sie knüpfen an die Tradition der Theater- und Prozess-Darstellungen in der Literatur an und stellen in einer radikalen Weise, die an Klingemann, Carroll und Kafka erinnert, die mit konventionellen Prozessen verbundenen Ordnungsvorstellungen auf den Kopf. Dabei sind sie konsequent selbstbezüglich, indem sie das thematisieren, was die Welt der bandes dessinées bedingt: die Kunst des Zeichners, die Techniken perspektivischen Zeichnens, die Farben, die Buchform. Wenn in L’origine das Team von Comiczeichnern unter Leitung eines Wissenschaftlers zur Erklärung der Welt beitragen soll, so tritt an die Stelle einer metaphysischen Erklärung der Welt als ein Theater, an dem ein göttlicher Regisseur seine Stücke inszeniert oder an dem ein göttlicher Richter über die Menschen urteilt, nur der Tisch des Zeichners. Dienten in früheren Zeiten das Theater und das Gericht als Modelle, mittels derer der Mensch die Ordnung der Welt nachstellte bzw. nachvollzog (vielleicht auch deren Unordnung und Ungerechtigkeit), so dient bei Mathieu das Nachzeichnen einem analogen Zweck. Wenn die Comiczeichner durch ihre Arbeit die Welt zu erklären, ihr also auf den Grund zu gehen versuchen, dann unter der Prämisse, dass die Welt eine gezeichnete ist (was für diese Welt ja auch zutrifft). Das Nichts, mit dem Herr Acquefacques mehrfach konfrontiert wird, ist nichts als eine weiße Papierseite, die der Zeichner füllen kann.
Vergleichender Rückblick auf die Theater- und Gerichtsgeschichten
Die Funktionen metaleptischer Strukturen in den skizzierten und in anderen Werken sind komplex. Die Skala reicht von der Reflexion über die Konstitution von ›Welten‹ (im Sinn konstruktivistischer Theorien) bis zur Reflexion über Kunst. Hinsichtlich der Effekte, die Metalepsen auslösen, reicht die Skala von nihilistischer Ent-Täuschung bis hin zur stimulierenden Bespiegelung künstlerischer Kreativität. Die Nachtwachen können als Dokument eines literarischen Experimentalnihilismus gelesen werden, in dem unter Verschmelzung von Gerichts- und Theatermetaphorik der Gedanke artikuliert wird, dass hinter der Wirklichkeit, die die Welt des Menschen ausmacht wie auch hinter seiner rollenhaften Identität ›nichts‹ stecke. Diese Idee wird nicht in Form theoretischer Begriffe ermittelt, sondern ihrerseits durch Inszenierung dargestellt. Die wichtigsten Momente in der Inszenierung des Erzählers sind diejenigen, in denen er aus seiner Rolle fällt, vor allem beim falschen Weltgericht. Die Metalepse ist ein Mittel, mit dem sich die Vorspiegelung gleichsam gestisch als solche zu erkennen gibt. Der Künstler ist derjenige, der aus der Rolle fällt, wenn er Gericht spielt – und das ist seine Art, der Welt den Prozess zu machen. Bei Carroll erscheint das Gericht als Inhalt eines surrealen Traums und wiederum als theatralische Inszenierung, die es nicht verdient, ernst genommen zu werden. Doch die in diesem Gerichts-Theater-Traum erlebten Situationen besitzen ein irritierendes Potential, das über die Traumsphäre hinausreicht. Sie betreffen die Frage nach der Existenz einer Ordnung der Dinge und nach der Identität des Ich. Kafkas Process-Roman schildert ein undurchschaubares, ein ›unsichtbares‹ Gericht – und es stellt den Protagonisten als jemanden dar, der gern mit dem Gestus eines Aufklärers eine Entlarvung dieses Gerichts als Theater vollzöge, dem aber der befreiende Rollenwechsel misslingt. Denn er steht vielleicht vor einem inneren Gericht, vielleicht wenigstens auch vor einem solchen, und seine Rolle ist auch sich selbst gegenüber widersprüchlich. Mathieu nutzt Prozess- und Theatermetaphern zeichnerisch zur Reflexion über die ästhetische Konstitution von Welt. Damit tritt hier der doppelte Motivkomplex nachdrücklich in den Dienst der Selbstdarstellung von Kunst.
Bilanzierende Thesen
(1) Theater- und Gerichtsmetaphern dienen in der Moderne in Umkehrung ihrer vormodernen Funktionen gleicherweise dazu, die Nichtexistenz respektive den Konstruktcharakter aller Ordnungen – der der Dinge wie der moralischen – zu bespiegeln.
(2) Zu diesem Zweck werden sie in der Literatur oft miteinander verknüpft – in Erinnerung daran, wie nahe sich die Sphäre des Gerichts und des Theaters immer schon gestanden haben, also an Gerichtsdarstellungen im Drama und an die Theatralik von Prozessen.<
(3) Die vielleicht wichtigste Strategie, den Inszenierungscharakter von Welt-Theater und Welt-Gericht zu bespiegeln ist das Aus-der-Rolle-Fallen (die Metalepse).
(4) Klingemann-‹Bonaventura‹ und Carroll stellen solche Metalepsen dar. Bonaventura setzt bei dem von ihm inszenierten Zusammenbruch eines artifiziellen Weltgerichts und bei der Entlarvung des scheinhaften Welt-Theaters einen nihilistischen Akzent. Bei Carroll hat der Moment des Zusammenbruchs der Gerichtssituation etwas Befreiendes.
(5) Josef K. im Process Kafkas scheitert mit seinen Versuchen einer befreienden Metalepse. Daß sein Prozess zumindest auch ein innerer Prozeß, sein Theater auch ein inneres Theater ist, verhindert die notwendige Distanzierung vom Gerichts-Theater-Spiel.
(6) Mathieu stellt die Verknüpfung von Theater- und Gerichtsmotivik zur ästhetischen Autoreflexion, zur Bespiegelung der Existenzbedingungen seiner Comic-Figur und ihrer Welt. In Modifikation der These, es stecke ›nichts‹ hinter der dargestellten Welt zeigt er, dass ein Zeichner und seine Materialien ›dahinter‹ stecken.
Literaturhinweise:
August Wilhelm Klingemann: Nachtwachen von Bonaventura. (Zuerst 1804) Hrsg. v. Jost Schillemeit. Frankf./M. 1974.
Lewis Carroll: Alice's Adventures in Wonderland / Through the Looking-Glass. In: The Complete Works of Lewis Carroll. With an introduction by Alexander Woollcott and the Illustrations by John Tenniel. London (Penguin Books) 1988.
Franz Kafka: Der Process. Roman. In der Fassung der Handschrift. Hrsg. v. Malcolm Pasley. Frankf./M. 1990.
Marc-Antoine Mathieu: Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. Tome 1-5: Textes et dessins Marc-Antoine Mathieu. Tournai (Delcourt). – Julius Corentin Acquefacques, prisonnier des rêves. Tome 1: L’Origine (1990/1991). – Tome 2: La QU... (1991) – Tome 3: Le processus (1993) – Tome 4: Le début de la fin / La fin du début (1995) – Tome 5: La 2,333e Dimension (1993).
Marc-Antoine Mathieu: L’ascension & autres récits. Scénario: Marc-Antoine & Jean-Luc Mathieu. Dessin: Marc-Antoine Mathieu Tournai (Delcourt). 2005.
Zum Konzept des ›Gerichts‹ vgl. den Art. »Prozess« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 1548ff. (Von Kurt Röttgers). Insbes. Sp. 1551.
Zum Begriff ›Person‹ vgl. den Art. »Person« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd .7, Darmstadt 1989, Sp, 269-338. (Von M. Fuhrmann, G. Scherer und M. Scherner). Insbes. Sp. 269.
Ferner: Person. Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Martin Brasser. Stuttgart 1999.