Gedenkjahre inspirieren in vielschichtiger Weise zum Nachdenken über Geschichte und Politik: zur Einsicht in die Komplexität eines jeden historischen Zusammenhangs, zur Schwierigkeit einer »exakten«, faktengerechten Rekonstruktion vergangenen Geschehens, sodann zum Urteilen, verknüpft mit Werturteilen, über Akteure und Fakten. Historische Urteile sind sodann verquickt mit Hypothesen, weithin identisch mit Geschichte im Irrealis: »Was wäre gewesen, wenn...« Nur späten Hegelianern oder politisch Rechtgläubigen erschließt sich der Sinn des Vergangenen. Jüngstes Beispiel für die vergebliche Suche nach wünschbaren Alternativen in der Vergangenheit ist das 100jährige Gedenken an die Russische Revolution im Kriegsjahr 1917.
Im Deutschen sind die Ausdrücke Macht und Gewalt nicht klar unterschieden. Oft werden beide gleichgesetzt mit der Folge, dass dann nicht nur Gewalt, sondern auch Macht als etwas Negatives erscheint. Ein beliebter Vorwurf gegen Politiker lautet: der ist ja nur an seinem Machterhalt interessiert. Das ›nur‹ ist kritisierbar. Aber ein Politiker, der an seinem Machterhalt nicht interessiert wäre, wäre womöglich bald machtlos oder – ohnmächtig. Man braucht nur die entgegengesetzten Adjektive zu bilden, um zu merken, dass Macht und Gewalt nicht dasselbe sein können. Machtlos zusehen müssen oder ohnmächtig sein – niemand erstrebt das. Trotzdem wird immer wieder einmal ein angebliches Zitat von Jacob Burckhardt beifällig zitiert, welches besagt, dass ›die Macht an sich böse‹ sei.
Panzerkreuzer Aurora, Quelle: Wikimedia Commons
Im Centennial der Russischen Revolution wollen wir ein paar unsystematische Erinnerungen aus dem Alltag der Sowjetgesellschaft in der Hochzeit des Kalten Krieges mitteilen. Diese Erinnerungen‚ ›von unten, wo das Leben konkret ist‹ (Hegel), stammen von Dieter Uhlig (*1934 in Chemnitz), der sich als einer der ersten deutschen Philosophie-Studenten nach dem Krieg an der Universität der Blockade-Stadt Leningrad einschreiben durfte. Er lebte zwischen September 1953 und Juni 1958 in dieser für die russische und sowjetische Kultur so besonderen Stadt.