Ob ›die Politik‹ seit dem 11. September 2001 neuen Mustern folgt (oder vielleicht doch eher seit dem Ende des Warschauer Pakts und der Sowjetunion oder dem Kosovo-Krieg oder dem 4. September 2015 – dem Beginn der ›Grenzöffnungskrise‹ – oder dem 20. Januar 2017 – dem Tag des Amtsantritts Donald Trumps – oder einem anderen dringend benötigten Orientierungsdatum), scheint eine eher kurzatmige Frage zu sein, vibrierend vom Wunsch nach unerhörten Begebenheiten im Gefolge der Ausbildung bisher kaum im Ansatz analysierter Machtstrukturen und Handlungsoptionen.
Wer die langen Zeiträume überblickt, in denen Politik ›gemacht‹ wurde, dem fallen ohnehin eher Parallelen ein als das Neue. Auffällig ist allerdings, dass sowohl Geo- als Biopolitik in den zurückliegenden Jahren eine Wendung genommen haben, die, obgleich lange vorausgesagt, von vielen so nicht erwartet wurde. Das liegt nicht zuletzt an den vielfältigen Versuchen, beide Politikformen zu fusionieren. Allein das exzessive Deutungsgeschehen um den sogenannten ›Alterungsprozess‹ Europas und einiger anderer Gesellschaften, der scharf mit den Geburtenüberschüssen vor allem islamisch geprägter Weltregionen kontrastiert, ist im Kern politikinduziert und politikgeleitet. Wer das nicht begreift, findet sich rasch im argumentativen und gesellschaftspolitischen Abseits wieder.
Bevölkerungsentwicklung, Migrations- und Klimapolitik schaffen nicht nur neue Allianzen, sie verändern das Selbstverständnis von Nationen und supranationalen Zusammenschlüssen bis hinein in die Kernbereiche von Familie und Kultur und ihrer vom Gesetzgeber rituell zugestandenen Autonomie. Die umfassende Umprägung des Geschlechterverhältnisses, durch den Komplex der sogenannten ›Genderpolitik‹ nur unzureichend repräsentiert, ist eng mit der Ressourcenfrage verschwistert: Wie viele Kinder sich eine Gesellschaft leisten oder nicht leisten kann, welchen Geburtenschwund sie verkraftet, ohne instabil zu werden, entscheidet sich nicht nur an frei gehandelten Rollenbildern, sondern auch an der Verfügbarkeit von Technologie, Rohstoffen und Bioreserven (Wasser, Ackerland etc.) ebenso wie an ihrer primären Verteilung und den kapitalgesteuerten Verteilungsströmen. Das alles sind keine ganz neuen Themen. Neu ist vielleicht die Dringlichkeit, mit der sie sich im Alltagshandeln der Regierungen Bahn brechen, während man, sicher nicht ohne Grund, die ihm korrespondierenden gesellschaftlichen Aktivitäten in den Kontext religiöser Erweckungsbewegungen der Vergangenheit stellt.
Vielleicht vernebeln die allen geläufigen Schlagworte der politischen Szene, ›Populismus‹ und ›Identitätspolitik‹, eher den freien Blick auf die Gegebenheiten, als dass sie ihn schärfen hülfen. In den Kernländern des ›Fortschritts‹ lässt der durch unterschiedliche Machtzugänge erzeugte und durch die ökonomisch-kulturellen Auswirkungen der Globalisierung vertiefte Gegensatz von Elite und Volk längst überwunden geglaubte Politikmuster aufscheinen – bis hin zur faschistischen Versuchung in neuer Gewandung. Was daran als Inszenierung, was als Ausspielen wirklicher Interessengegensätze, was als Angriff auf den liberalen Staat gewertet werden muss, bleibt letztlich ebenso vage wie die Verrechnung des politischen Erfolgs respektive Misserfolgs von Parteien und Personal mit den unterschiedlichen Bildungsniveaus diverser Bevölkerungsgruppen. Stichwort ›divers‹: Das bloße Umstellen des Politikrasters von Kommunität auf Diversität ändert nicht schlagartig die Zusammensetzung der Gesellschaft. Eher wirft es Fragen auf nach der Art des Zusammenhalts, die in solchen von der gängigen Politik grundsätzlich intendierten Gemeinwesen wirksam erzeugt und in Szene gesetzt werden soll. ›Gesinnung‹ als einigendes Band, inszeniert als Inklusion durch Exklusion, sprich einen neuen pluralen gesellschaftlichen Manichäismus, flankiert durch erhöhten Polizeieinsatz und gefühlsechtes Denunziantentum, wäre weder des liberalen Rechtsstaats, dieser europäischen Institution par excellence, würdig noch das geeignete Mittel, ihn zu bewahren.
Februar 2019
Die Herausgeber
Abb.: ©Renate Solbach