Drei Jahrzehnte nach dem großen Umbruch sollte man meinen, die tragenden Linien, die zu ihm führten und seine Form bestimmten, würden sichtbar werden, ins öffentliche Bewusstsein treten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bundesrepublik spinnt ihr altes Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort – doch inzwischen hört dort niemand mehr zu. (...) Am Anfang steht ein ganz präzises Datum und sogar eine einzelne Person. Es ist der 10. September 1989, die Person heißt Bärbel Bohley. Ein Jahr lang hatte diese kleine Frau das Treffen von 30 Oppositionellen aus den 15 Bezirken der DDR vorbereitet, auf dem jetzt die Bürgerbewegung ›Neues Forum‹ gegründet wird. (Es war übrigens der Grundgedanke, sie jenseits der Kirche und außerhalb der Opposition zu verankern.) – Natürlich, ein solcher weltgeschichtlicher Wirbel, wie er sich nun im Herbst 1989 entfaltet, hat 100 Bedingungen und 1000 Randbedingungen – die Form des Handelns aber, in denen die Menschen agieren (werden), die wurde hier gesetzt...
Rede vor der Akademie der Künste. November 2019
Das Konzept der Oral History berührt Historiker, Praktiker wie Rezipienten, die sich auch außerhalb der traditionellen Geschichtswissenschaft bewegen können. Dieser Ansatz lässt es zu, sich der Geschichte ›von unten‹ bzw. ›von innen heraus‹ zuwenden. Die Zeitzeugenarbeit in der Wissenschafts- und Professionsgeschichte zielt darauf neben den in den jeweiligen Fachkulturen tradierten Narrativen stehender Aspekte subjektiver Erfahrungsgeschichte zu eruieren.
Die liberale Demokratie blickt in den letzten Jahrzehnten auf eine historisch beispiellose Erfolgsgeschichte zurück. Die Wiederauferstehung Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg verdankt sich nicht zuletzt einem geistigen Paradigmenwandel vom Kollektivismus zum Individualismus und einem strukturellen Wandel vom Totalitarismus zu liberalen Strukturen. Auch der sowjetische Sozialismus ist vom Wunsch der Menschen nach individueller Freiheit besiegt worden.
Der Ausgang zeitgenössischer Globalisierung lässt sich auf den Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West Konfliktes zurückführen. Es ist nicht verwunderlich, dass der Fall der Berliner Mauer Ausgangspunkt einer neuen Weltanschauung wurde, welche Entgrenzungen, ob bei Staaten, Produkten oder Menschen als etwas Positives erachtet.
30 Jahre danach erkennen wir jedoch, dass auch Grenzenlosigkeit Grenzen kennt und dass es daher eines Ausgleichs zwischen Offenheit und Abgrenzung bedarf. Die offene Gesellschaft tritt im Zeitalter der Globalisierung neuen Herausforderungen gegenüber.
Vortrag zur Eröffnung der Tagung des Liberal-Demokratischen Laboratoriums (Libdela) in Köln am 12.Juli 2019