Das Alphazet, ursprünglich eine Gemeinschaftsarbeit von Paul Mersmann, Anne Corvey und mir, ist nach und nach in meine Hände übergegangen, so darf man das wohl sagen, jedenfalls nach der Menge der geschriebenen Artikel zu urteilen, daher nehme ich mir heute heraus, etwas zu der Frage zu schreiben, wie man es lesen könnte. Monika Schmitz-Emans hat als Literaturwissenschaftlerin bereits einige Schneisen in den Text geschlagen und ich bin ihr dankbar dafür, aber die hier zu verhandelnde Frage hat sie wohlweislich ausgeklammert: Gibt es einen roten Faden, an den sich die geneigte Leserin / der geneigte Leser halten kann, wenn sie oder er, der Artikelkramerei überdrüssig, das Ganze in den Blick nehmen möchte?
Natürlich könnte ich mir die Antwort auf diese Frage leicht machen und achselzuckend bemerken, dass Lexika nicht dazu da sind, als Ganzes ›in den Blick genommen‹ zu werden. Das stimmt im Allgemeinen, aber stimmt es auch in diesem besonderen Fall? Lexika sind Nachschlagewerke, wer sich ihrer bedient, tut dies für gewöhnlich, weil er zu einem Stich- oder Schlagwort (gute Güte!) recherchiert und sich Sachaufklärung verspricht. Natürlich gibt es auch Speziallexika, bei deren Lektüre die Wissenslust am unbekannten Wort überwiegt, satirische Lexika, die den Wortschatz zu Erheiterungszwecken erweitern, doch es bleibt in der Regel dabei, dass, wo ein Wort ist, die gemeinte Sache auf dem Fuß folgt: weil sie eben, so wie das Wort, ›gemein‹ ist, abrufbar und somit wissbar. Ich hebe dieses Wort so hervor, weil das, was es meint, im Hinblick auf das Alphazet eine Bedeutung genießt, die sich von der gewöhnlichen lexikalischen doch etwas abhebt.
Alles, wovon das Alphazet handelt, ist wissbar, selbst das Nicht-Wissbare in der Form, in der es in diesen Texten hier und da angesprochen wird. Mancher Alphazet-Leser wird die Erweiterung seines Sach-Horizontes zu schätzen wissen. Ein nächster wird vielleicht behaupten, nichts von alledem, was in diesen Artikeln verhandelt wird, sei ihm vorher zur Gänze unbekannt gewesen. Ganz im Gegenteil, er habe den Eindruck gewonnen, dass ohne mitgebrachte Sachkenntnis selbst die wohlwollendste Lektüre schon nach wenigen Absätzen gescheitert wäre. Vermutlich haben sie beide recht. Auf einer ersten Ebene treibt das Alphazet ein Verwirrspiel mit seinen Lesern: unter vielen Hüten, sprich Stichworten oder Lemmata, vor allem den allgemein vertrauten, finden sie nicht das Erwartete, sondern etwas anderes – eine unerwartete Kette von Überlegungen, ein Wortspiel, mit dem niemand rechnen konnte, gelegentlich auch nur einen Kalauer, aus dem sich vorerst nicht Absehbares entwickelt. Gelegentlich handelt es sich um eine regelrechte Verschiebungspraxis – eine Praxis der verschobenen Inhalte, doch sicher sollte man sich in keinem Fall sein.
Und was wäre die zweite Ebene? Das Alphazet will seine Leser nicht verwirren, jedenfalls nicht zu sehr und schon gar nicht grundsätzlich: dazu ist unser aller Zeit zu kostbar und die Weltlage zu ernst. Eher will es einen Deutlichkeitsgewinn aus der Wirrnis ziehen, die aller sprachlichen Äußerung innewohnt. Die klarsten Sätze sind bekanntlich die unberechenbarsten, da ihre Klarheit auf nichts weiter beruht als auf schlichter Konvention. Man betrachte sie etwas genauer und sie trüben sich ein. Daraus zu schließen, die Welt sei in ihrem Grund trübe, wäre voreilig und überdies wenig hilfreich. Wer sich im Alphazet orientieren will, kann gar nicht anders als weiterzulesen und nur hin und wieder, denn der Artikel sind viele, sich ein neues Stichwort herauszusuchen. Vieles klärt sich auf diesem Weg von alleine, anderes sinkt zurück und wirkt dann wie Hintergrundmalerei, der niemand auf den Grund gehen möchte, weil er den Grund dafür nicht einsehen will und die Leseposition nicht gern wechselt.
Das Alphazet macht es seinen Lesern leicht, bei der Sache zu bleiben, da es in der Sache die Position des Lesers vertritt. Kein Großwissen, kein System rollt da auf ihn zu, stattdessen führt es ihn zurück an die Quellen des Selbstdenkens und des Weiterspinnens alter, aber nicht ganz vergessener Gedanken, die immer für die eine oder andere unbekannte Wendung gut sind. Das Alphazet will Denken nicht lehren, es will auch nicht ›Anstöße‹ geben wie irgendein Rüpel, stattdessen will es mit dem Leser auf Du und Du verkehren: denkst du meine Gedanken, denke ich deine Gedanken, fällt es dir schwer, dich auf mich einzulassen, fällt es mir umso leichter, dich zu verstehen, sind wir ganz d’accord, fällt der Schlussakkord aus und das Ganze fällt auseinander, ganz wie im richtigen Da- und Fortsein.
Alle Realismen kranken daran, dass sie dem Denken etwas vorschalten wollen, was doch nur im Denken (und im Schmerz) greifbar wird, obschon bereits das Wort ›greifbar‹ gegen diesen Gedanken zeugt. Dass es sich ›im luftleeren Raum‹ nicht gut denkt, hat sich inzwischen auch unter philosophischen Idealisten soweit herumgesprochen, dass auf nähere Auskünfte verzichtet werden kann, abgesehen davon, dass bloße Atemzufuhr die Sache auch nicht wesentlich besser aussehen lässt. Ein Buch, eine Ansammlung von ›Texten‹ im Netz ist ein Produkt bestimmter Jahre, bestimmter Ansichts- und Denkmoden, bestimmter Ereignisse, ein verrücktes, verschobenes, verdrilltes Stück Zeit, das nicht mehr Zeit genannt zu werden verdient und noch nicht Geschichte. Nicht dass jene es ›fabriziert‹ hätten, womöglich selbsttätig, doch ein Großteil der Produktionskosten wurde von ihnen gedeckt, vor allem der intellektuellen. Intellektuell wird ein Denken dort, wo es für seine Kosten nicht aufkommen kann, weil es zu sehr in seine Kämpfe verstrickt ist: Es produziert Unkosten, die nur von der Zeit selbst, dem großen Produzenten im Hintergrund, ausgeglichen werden, manchmal mit Verspätung, doch denkbar sind auch glückliche Fügungen.
Bleibt als letztes die Frage zu klären, wofür der Autor des Alphazet steht. Ich habe da kein privilegiertes Wissen, ich rate nur geradezu. In manchen Artikeln scheint er fast greifbar zu sein, vor allem, wenn Grimm durch die Formulierungen wetterleuchtet, doch wie so oft erweist sich auch hier die Unterscheidung zwischen dem großen und dem kleinen Grimm als außergewöhnlich hilfreich. Der Autor scheint mit vielen Leuten zu reden, bekannten, halb bekannten und unbekannten, ob der Leser sich angesprochen fühlt und von was, bleibt ihm selbst überlassen. Der Autor mischt sich da nirgends ein. Sieht es einmal anders aus, dann handelt es sich um ein Missverständnis und im Weiterlesen glättet sich vieles. Denken, bestimmte Leute wussten es immer, denkt nicht nur, es spricht ums Leben gern und würde sich selbst gern redend betören, ungeachtet der Tatsache, dass es am Ende doch Denken bleibt und tatenarm und gedankenvoll seiner Wege zieht. ›Niemandes Denken‹ ist ein verführerisches Wort, das so manchem diskursbesessenen Denker den Kopf verdrehte, doch so, als Utopie seiner selbst, scheint nicht undenkbar, dass es das hier und da geben könnte.
Berlin, den 2. August 2019
Ulrich Schödlbauer