Übergang und Regierungserklärung
Der ursprüngliche Ansatz in der Ost- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition war von Kiesinger in seiner ersten Regierungserklärung damit umschrieben worden, daß die Bundesrepublik mit ihrem außenpolitischen Handeln auch und gerade eine Brücke nach Osteuropa schlagen wolle. Je mehr Vorwürfe aber seitens der CDU/CSU beispielsweise gegen Walter Scheel und Helmut Schmidt formuliert wurden, in denen diese wegen ihrer Moskaureisen als »politische Wallfahrer« oder »Moskaupilger« verunglimpft wurden (so z.B. Franz Heubl (CSU) in: Die Welt, Bonn 3. Juni 1969), desto stärker zeigte sich, daß Christdemokraten und Christsoziale die von den Sozial- und Freidemokraten praktizierte Gesprächsbereitschaft mit dem Osten ablehnten. Es zeigte sich auch, daß ostpolitische Gemeinsamkeiten in der Großen Koalition auf verbale Verkündigungen beschränkt blieben, sich mit den konservativen Koalitionspartnern jedoch nicht durchsetzen ließen.
Die Bundestagswahlen vom 28. September 1969 verhalfen der SPD und der FDP unter ihrem Vorsitzenden Walter Scheel zu einer nur knappen Mehrheit, die Willy Brandt aber nicht daran hinderte, noch in der Wahlnacht ein Koalitionsangebot an die FDP zu richten. (Baring 1982, S.166-170) Diese Risikofreudigkeit Brandts, die als erstes Ergebnis die Bildung der sozialliberalen Koalition zur Folge hatte, eröffnete einer Politik gegenüber den osteuropäischen Staaten und der DDR gänzlich neue Perspektiven und einen erweiterten Handlungsspielraum. Während der Großen Koalition recht bald ihre Grenzen bewußt geworden waren, zeigte sich bei Sozialdemokraten und Liberalen ein Vorrat an gemeinsamen politischen Zielen, die schon vor den Wahlen auf ihren jeweiligen Parteitagen klar hervorgetreten waren. Die Entschließung der SPD zur Außenpolitik bzw. jene der FDP zur Deutschlandpolitik wiesen einen hohen Grad der Ähnlichkeit vor, in Teilen erreichten sie sogar Deckungsgleichheit.
So konnten Sozialdemokraten und Liberale innerhalb kürzester Zeit ein Bündnis für eine neue Ost- und Deutschlandpolitik bilden. Baring ist in seiner Beschreibung des »Machtwechsel(s)« zu dem wohl richtigen Schluß gekommen: »Die Regelung unseres Verhältnisses zur Sowjetunion und zu den osteuropäischen Staaten einschließlich der DDR war die eigentliche, wenn nicht sogar die einzige wirkliche Basis des sozialliberalen Bündnisses an seinem Beginn.« Angesichts der ostpolitischen Stagnation der Regierung der Großen Koalition, die freilich nicht nur auf eigenes Verschulden zurückzuführen war, schien ein Neuansatz und Neuanfang, nachdem Moskau seit dem Frühjahr 1969 wieder Entgegenkommen zeigte, dringend geboten.
Für den Moskauer Kurswechsel, der erstmals im Budapester Appell vom 17. März 1969 manifest wurde, führte Willy Brandt in seinen Memoiren »Begegnungen und Einsichten« mehrere Gründe an, so wie er sie Anfang 1970 gegenüber Harold Wilson geäußert habe: Die sowjetische Führung zweifle nicht an der Stabilität der NATO. Der territoriale und politische Status quo in Europa werde von ihr akzeptiert. Die UdSSR habe ein Interesse an »besseren Handelsbeziehungen und an einer engeren Zusammenarbeit auf technologischem Gebiet«. Nach der CSSR-Invasion könnten bessere Beziehungen zur Bundesrepublik »aus sowjetischer Sicht zur Stabilisierung im eigenen Lager beitragen«. Der chinesisch-sowjetische Konflikt trage möglicherweise dazu bei, daß die UdSSR wieder bessere Beziehungen zum Westen suche«. (Brandt 1976, S.485)
Tatsächlich waren gerade in dem letzten Punkt weltpolitische Veränderungen angesprochen, die sich aus der Sicht der Sowjetunion in einem Zweifrontendruck durch die NATO und durch China, das in Gespräche mit der seit Januar 1969 bestehenden Nixon-Administration eingetreten war, äußerten.
Willy Brandt hatte erkannt und betonte dies auch immer wieder – wie es auch andere führende Köpfe innerhalb der SPD taten –, daß gegenüber der DDR keine Annäherung erreicht werden könne, solange man an sich an den weltpolitischen Realitäten vorbeimogeln wollte. Aus ebendiesen Gründen enthielt seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler einer sozialliberalen Koalition am 28. Oktober 1969 auch deutliche Worte: Die Deutschen seien »nicht nur durch ihre Sprache und ihre Geschichte« verbunden; die Deutschen hätten vielmehr »auch noch gemeinsame Aufgaben und gemeinsame Verantwortung für den Friggen unter uns und in Europa. 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR müssen wir ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation verhindern, also versuchen, über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen. Dies ist nicht nur ein deutsches Interesse, denn es hat seine Bedeutung auch für den Frieden in Europa und für das Ost-West-Verhältnis.«
In der Frage eines Verhandlungsangebots sah Brandt die Politik seiner Regierung in der Kontinuität der Großen Koalition: Der DDR angebotene »Verhandlungen beiderseits ohne Diskriminierung auf der Ebene der Regierungen« sollten keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR bedeuten, wenn auch die zwischen Hallstein-Doktrin und Verhandlungsbereitschaft lavierenden Sentenzen aus Kiesingers Regierungserklärung 1966 bei Brandt nicht zu finden waren. Einen »dilatorischen Formelkompromiß« (Lehmann 1984, S.133-137) konnte es in der sozialliberalen Koalition in dieser Beziehung nicht geben, nachdem die FDP in den Koalitionsverhandlungen gefordert hatte, die Hallstein-Doktrin fallen zu lassen. Das kam auch weiten Teilen der SPD entgegen. Das bisherige Ministerium für gesamtdeutsche Fragen wurde entsprechend seiner Aufgaben in ein Ministerium für innerdeutsche Beziehungen umbenannt, das dann bis 1982 von Egon Franke geleitet wurde. Die Deutschlandpolitik wurde erstmals als eine zentrale Aufgabe der ganzen Regierung bezeichnet, welche Aspekte der auswärtigen Politik, der Sicherheits- und Europapolitik und die Bemühungen um den Zusammenhalt unseres Volkes sowie die Beziehungen im geteilten Deutschland umfaßte.
Die »entscheidende Richtungsänderung« (Baring 1982, S.247) in Brandts Regierungserklärung, die genau im Kontext der eben erwähnten Grundsätze lag, sprach der DDR nur leicht verborgen in der Formulierung der »zwei Staaten in Deutschland« eine Anerkennung als Völkerrechtssubjekt zu, die einer Aufhebung der Hallstein-Doktrin gleichkam. Da diese Formel selbstverständlich auf Widerstand der ehemaligen Koalitionspartner stoßen mußte, versuchte Brandt Mißverständnisse am Abschluß der Aussprache zu seiner Regierungserklärung auszuräumen. Im Sinne der Politik, die Brandt schon in den Jahren vor 1969 ständig vertreten hatte, daß man nämlich »in allen Teilen der Welt und in allen Blöcken und Gruppierungen vor großen Wandlungen steht«, müsse die Bundesrepublik, ohne sich dabei zu überheben, ihre »eigene Rolle spielen und dabei weniger jammern und mehr gestalten«. Für die sozialliberale Koalition, so führte Brandt erläuternd aus, sei die DDR kein Ausland: vielmehr gehe es ihr »um besondere Beziehungen, Beziehungen besonderer Art«. Damit war die sogenannte Formaldiskussion beendet. Die war einzuordnen in die internationale Politik. Dazu wurde schon viel geschrieben.