Auf dem Weg zur Vertragspolitik
Die von der Regierung der sozialliberalen Koalition erbrachte Vorleistung in der Frage der Anerkennung hatte Willy Brandt aus einer weitgehendst von ihm allein getragenen richtigen Einschätzung der DDR-Führung für angebracht gehalten, um Ostberlin von der Glaubwürdigkeit einer neuen deutsch-deutschen Politik, zu überzeugen. Der wesentliche Satz der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969, jener über die Existenz von »zwei Staaten in Deutschland», wurde tatsächlich sowohl von den osteuropäischen Ländern als auch von der Regierung der DDR als Signal verstanden, das diese zu einer neuen Gesprächsbereitschaft animierte. Einem ersten Brief vom 17. Dezember 1969 an den Bundespräsidenten Heinemann fügte der DDR-Staatsratsvorsitzende Ulbricht bereits einen Vertragsentwurf »über die Aufnahme gleichberechtigter Beziehungen« zwischen der DDR und der Bundesrepublik bei, wobei diese Beziehungen »auf der Grundlage der allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts« gründen sollten. Bereits im Januar 1970 sollte verhandelt werden. Brandt antwortete im Rahmen seines »Bericht(s) zur Lage der Nation« am 14. Januar 1970 vor dem Deutschen Bundestag. Die völkerrechtliche Anerkennung der DDR lehnte er entschieden ab, die Verträge mit der DDR, die von den »anderen Staaten des Warschauer Paktes« erwartet würden, sollten gleichwohl ebenso verbindlich sein. Brandt legte Wert darauf, daß alle Punkte und Fragen der deutschdeutschen Situation auf den Tisch kamen und sozusagen als Endprodukt Verträge und Abkommen stehen, die, abgestimmt mit den jeweiligen Verbündeten, auch voll anerkannt werden sollten.
Es kam zu weiteren Briefwechseln, wobei die DDR-Führung jeweils die völkerrechtliche Anerkennung als zwingendes Ergebnis von Gesprächen hervorhob, während es Brandt in seinem Brief vom 18. Februar 1970 an Stoph notwendig erschien, «den Versuch zu unternehmen, das Trennende zurückzustellen, und das Verbindende zu suchen. Wenn dies gelingt, dann sollte es auch möglich sein, zu vertraglichen Absprachen zu gelangen.« (Texte, S.295)
Zu einem ersten Treffen zwischen Brandt und Stoph, einem ersten deutsch-deutschen Treffen auf einer derart hohen Ebene überhaupt, kam es am 19. März 1970 in Erfurt. Ein Folgetreffen fand am 21. Mai 1970 in Kassel statt. Die Gespräche blieben ergebnislos, sie waren zumindest »für das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR nicht unmittelbar von irgendwelchem Nutzen«. So lautete die Beurteilung vieler Beobachter und vor allem der Opposition, rückblickend ist die Begegnung jedoch anders zu beurteilen. Sie war der Beginn einer großen Hoffnung auf Veränderungen für viele DDR-Bürger – aber auch für viele Westdeutsche. Wenn man so will, entstand eine mit dem bloßen Auge wahrzunehmende Bewegung. Offenbar hatte die sowjetische Führung im Vorfeld dieser Gespräche die DDR-Einheitssozialisten drängen müssen, die Treffen überhaupt zu realisieren. Brandt schrieb später, daß alles darauf hingedeutet habe, daß Moskau nachgeholfen hatte. Baring vermutet gar, »Gromyko mußte den ostdeutschen Genossen tagelang ins Gewissen reden.« (Baring 1982, S.258)
Daß der Bundeskanzler die Gespräche überhaupt geführt hatte, begründete er damit, es sei ihm eben darauf angekommen, »negative Einflüsse Ostberlins auf Moskau abzuschwächen und gleichzeitig deutlich zu machen, daß es im Sinne unserer Politik wichtige Bereiche gab, in denen wir mit den einzelnen Partnern des Warschauer Paktes selbst zu Regelungen kommen wollten.« Tatsächlich hielt sich Brandt bei dem zweiten Treffen in Kassel nicht zurück; er präsentierte Stoph einen zwanzig Punkte umfassenden Katalog, der die vom Bundeskabinett diskutierten und gebilligten »Vorstellungen über Grundsätze und Vertragselemente für die Regelung gleichberechtigter Beziehungen« zwischen den beiden deutschen Staaten umfaßte. Vorgeschlagen wurde in diesem recht umfangreichen Katalog zuallererst ein allgemeiner Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR. In Punkt 3 wurden die Menschenrechte und das Prinzip der Nichtdiskriminierung als Grundlage deutsch-deutscher Beziehungen genannt. Punkt 4 hatte den Gewaltverzicht zum Inhalt, im fünften Punkt wurde die Souveränität beider deutscher Staaten erklärt und Punkt 6 setzte dem Alleinvertretungsanspruch ein Ende. Die folgenden Punkte betrafen den Frieden, der von deutschem Boden ausgehen müsse, und den Willen, sich an Abrüstung und Rüstungskontrolle zu beteiligen. In Punkt 10 fand sich die Formel der »zwei Staaten einer Nation« wieder. Im weiteren wurden die Rechte der Siegermächte und die deutschen Verpflichtungen gegenüber diesen betont. Die restlichen Einzelpunkte betrafen praktische Maßnahmen, die zum Vorteile der Bürger auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze einzuleiten wären. Konkret waren dies Fragen des erweiterten Reiseverkehrs mit dem Ziel der Freizügigkeit, der Lösung von Problemen getrennter Familien, der Zusammenarbeit von Kreisen und Gemeinden entlang der Grenze sowie der Post, des Informationsaustausches, der Wissenschaft, der Erziehung und Kultur, der Umweltfragen, des Sports und des innerdeutschen Handels.
Schließlich sah der neunzehnte Punkt die Ernennung von Bevollmächtigten und deren Beauftragten vor, die am Sitz der jeweiligen Regierung – noch verklausuliert – ständigen Vertretungen der beiden Deutschlands vorstehen sollten. Auf der Grundlage eines zwischen der Bundesrepublik und der DDR zu vereinbarenden Vertrags sollte schließlich auch die Mitgliedschaft beider Staaten in internationalen Organisationen geregelt werden. (Texte, S.100-102)
Dieser Maßnahmenkatalog enthielt Punkt für Punkt eine Aufzählung der Mißstände im innerdeutschen Verhältnis, das in einer fast ein Vierteljahrhundert währenden Trennung offensichtlich iıı eine neue Phase eingetreten war. Nicht die Wiedervereinigung wurde von Brandt in Kassel beschworen, sondern erste Schritte zur Erleichterung der Situation der Menschen in beiden Teilen Deutschlands standen im Vordergrund seiner an der Praxis und den menschlichen Sorgen ausgerichteten Deutschlandpolitik.
Die dazu kontroverse Position Stophs, die er offen bekundete, indem er der Bundesregierung eine »destruktive Haltung« vorwarf und sie bezichtigte, mit den von Brandt vorgetragenen Grundsätzen lediglich »ein verschleiertes, aber eindeutiges Nein zur Herstellung gleichberechtigter Beziehungen« zu meinen, zeigte, daß es angebracht war, den Meinungsaustausch erst nach einer »Denkpause« zu einem späteren Zeitpunkt fortzusetzen. (Texte, S. 169)
Dieser Zeitpunkt kam dann gegen Ende Oktober, als die Regierungen der Bundesrepublik und der DDR darin übereinkamen, »auf offiziellem Wege einen Meinungsaustausch über Fragen zu führen, deren Regelung der Entspannung im Zentrum Europas dienen würde und die für beide Staaten von Interesse sind.« Ein erstes Treffen aufgrund dieser Übereinkunft fand am 27. November 1970 zwischem dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr, und dem Staatssekretär beim Ministerrat der DDR, Dr. Michael Kohl, in Ostberlin statt.