Die Fraktion bezieht Position
Die Gesamtentwicklung führte auch dazu, daß über die Weiterentwicklung der Deutschlandpolitik innerhalb der Fraktion nachgedacht wurde. Die führenden Deutschlandpolitiker drängten auf eine Diskussion, um Grundprinzipien – wie Selbstbestimmungsrecht der Deutschen in der DDR, die richtige Zuordnung des Freiheitsbegriffes und ihre Politik gegenüber der SED verbindlich zu definieren.
Unabhängig von dieser Diskussion blieb in der Fraktion dreierlei Aufgaben unbestritten: Kritische Begleitung der amtlichen Regierungspolitik, Einwirkung auf die SED mit dem Ziel einer schrittweisen Verbesserung der materiellen und Menschenrechtssituation in der DDR und die Entwicklung einer sicherheitspolitischen Konzeption für Europa, in der die beiden deutschen Staaten eine aktive Rolle spielen sollten.
Das Ergebnis der fraktionsinternen Diskussion wurde der Öffentlichkeit im November 1984 mit folgenden Kernthesen vorgestellt: »Deutschlandpolitik ist ›Teil der Friedens- und Entspannungspolitik. Ihr Ziel ist die gesamteuropäische Friedensordnung, die den trennenden Charakter der Grenzen überwindet. Sie stellt die Grenzen nicht in Frage, sondern sucht im Interesse der Menschen die Zusammenarbeit. Auf lange Sicht sollten dadurch auch die Militärblöcke überwunden werden.« Und weiter: »Die Unterschiede der inneren Ordnung der beiden deutschen Staaten, die ideologische Auseinandersetzung und der Wettbewerb der Systeme bleiben davon unberührt. Auch dieser Streit darf nur in Frieden ausgetragen werden – einschließlich die Frage nach der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts, das den Deutschen ebenso zusteht wie anderen Nationen. Heute kann nicht vorweggenommen werden, für was sich das deutsche Volk in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts entscheiden wird. Das ist die Grundlage für die einzige praktische Politik, die auch den Menschen in der DDR zusätzliche Freiheiten bringen kann.« ... »Die deutsche Nation ist eine von der Teilung unabhängige Realität.« ... »Die deutsche Frage ist also eine europäische Frage. Eine adäquate Antwort kann es nur geben, wenn sie von den beiden deutschen Staaten und der Völkergemeinschaft in Ost und West getragen werden.«
Wichtig war die Durchsetzung und Verankerung des Absatzes: »Die Sozialdemokraten sind Verfechter der freiheitlichen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die sie mitgeschaffen haben. Daher bleiben Kommunisten ihre Gegner. Das kommunistische System lehnen wir ab, weil für uns Sozialismus und Freiheit zusammengehören. Wir werden auch weiterhin die geistig-politische Auseinandersetzung mit der SED offensiv führen und diese mit den Widersprüchen und inneren Unwahrheiten ihrer Ideologie konfrontieren. Der Maßstab dieser Auseinandersetzung sind für die SPD die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.«
Die »Stabilität der in Europa bestehenden Lage« (46) als Voraussetzung von Deutschlandpolitik war schon Anfang der sechziger Jahre von der SPD erkannt. Sie bedeutete eine Übernahme der »Strategie des Friedens« des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und deren entspannungspolitische Anwendung auf das besondere deutsch-deutsche Verhältnis. Die Sozialdemokraten stemmten sich so auch im Jahre 1984 gegen einen deutschen Sonderweg, der die Einheit mit einer Neutralität erkaufen könnte. Die Akzeptierung der in Europa bestehenden Grenzen, die Verpflichtung der Bundesrepublik darauf, gegen keinen anderen Staat in Europa Gebietsansprüche zu hegen, wurde zu einer der wichtigsten Grundlagen für Deutschlandpolitik überhaupt.
Die Sicherung des Friedens als Ausgangspunkt aller deutschlandpolitischen Überlegungen hatte die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zu dem Begriff der Sicherheitspartnerschaft geführt. Darunter wurde verstanden, daß »alle europäischen Staaten innerhalb ihres Bündnissystems und mit ihren jeweiligen Handlungsmöglichkeiten für stetig wachsende Friedfertigkeit zwischen den in Europa vorhandenen Blöcken und allen europäischen Staaten sorgen sollen«. (47) Die Sicherheitspartnerschaft verstand die SPD als einen wichtigen »Schritt zum Abbau der Konfrontation«, der die Voraussetzung für eine europäische Friedensordnung« bilden werde.
Zum engeren Auftrag der Deutschlandpolitik, die über die weiter gefaßten Grundlagen hinaus weitere Schritte der Annäherung aufzeigen sollten, gehörte es weiterhin an erster Stelle, »die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden deutschen Staaten und ihren Bewohnern hervorzuheben und zu fördern«. Menschliche Erleichterungen und die Bewahrung und Gestaltung des Zusammengehörigkeitsgefühls der Deutschen gehörten ebenso zu den wesentlichen Interessen einer sozialdemokratischen Deutschlandpolitik.
Die Hauptsorge der SPD war seit Beginn ihrer Oppositionszeit, daß die Deutschlandpolitik – wie sie formal von der neuen Bundesregierung übernommen worden ist – nur noch recht und schlecht verwaltet werden würde. Dies wurde bald bestätigt, weil keinerlei Initiativen von der Regierung bzw. den Regierungskoalitionen ausgingen. Die DDR-Regierung wurde nicht gefordert und gezwungen zu reagieren, ganz im Gegenteil: Es kamen mehr deutschlandpolitische Initiativen aus der DDR, die ständig die Bundesregierung deutschlandpolitisch in die Defensive brachten. Die Sozialdemokraten waren diejenigen, die drängten, versuchten die Gespräche zwischen den Regierungen anzukurbeln. Sie forderten Gespräche zwischen Kohl und Honecker über die immer drängenden Fragen »Umweltverschmutzung« (Elbe und Luftemissionen), unter denen auch die westdeutsche Seite zu leiden hatte. Die Erhaltung des gemeinsamen Kulturgutes war ein wichtiger Punkt, der angesprochen hätte müssen, weil für jedermann ersichtlich war, daß die historische Bausubstanz in der DDR verfiel und im internationalen Kunstmark immer mehr Kulturgüter aus der DDR zum Kauf anstanden. Es wäre dringend gewesen, über die wirtschaftlichen Fragen zu sprechen, ganz zu schweigen davon, daß ja die einzelnen Elemente des Grundlagenvertrages (vor allem der Art. 7) bei weitem noch nicht mit Leben (z.B. Kulturabkommen) erfüllt waren.
Eine klare Linie in der Deutschlandpolitik war nicht zu erkennen. Das ständige Hin und Her zwischen Bundeskanzleramt und dem Ministerium für innerdeutsche Beziehungen half der offiziellen Deutschlandpolitik nicht weiter, war aber für die Opposition ein ständiger Anlaß zu kritischen Anmerkungen. Ein besonderes Kapitel deutschlandpolitischer Fehlleistungen aus dieser Zeit war der unionsinterne Disput über den geplanten Besuch Erich Honeckers in Bonn. Die Regierung »zeichnete« sich auch bald dadurch aus, daß sie sehr großzügig bei finanziellen Forderungen der DDR war. Ein typisches Beispiel dafür lieferte der Milliardenkredit. Den beträchtlichen finanziellen Leistungen der Bundesregierung standen keinesfalls entsprechende Entgegenkommen der DDR gegenüber, wie z.B. mehr Freizügigkeit, praktische Erleichterungen für die Menschen in der DDR oder das Voranbringen von Projekten (z.B. Werra-Entsalzung), an denen auch wir großes Interesse hatten. Dazu kamen die permanenten handwerklichen Fehler der Regierung, so z.B. das Nichteinbeziehen der Berliner Bevölkerung in die 2-Tage-Regelung zum Besuch der DDR für Bewohner des grenznahen Gebietes oder die überhöhte Transitpauschale vom Herbst 1988, ohne entsprechende Gegenleistungen herausgehandelt zu haben. Die Regelung über den SED-eigenen Genex-Geschenkdienst gehörte auch zu den handwerklichen Fehlern, da er die SED in die Lage setzte, an mehr Devisen heranzukommen, wie überhaupt die ganze Vereinbarung über DM-Überweisungen in die DDR die Gefahr bedeutete, daß die SED plötzlich Informationen über Konten von DDR-Bürgern in der Bundesrepublik bekamen.