Das Ideologiepapier
Anders ist das sogenannte Ideologiepapier zu beurteilen. Dieses von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED erarbeiteten und am 27. August 1987 vorgestellten Papier über den »Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« wurde für die SPD zum ersten größeren Streitpunkt seit dem Thesenpapier 1984. Für eine Gruppe innerhalb der Bundestagsfraktion wurde dieses gemeinsame Papier als ein »Dokument der Hoffnung« bezeichnet, eine »Garantie des Gelingens« (vgl. den Titel des Aufsatzes von Thomas Meyer: Dokument der Hoffnung, Meyer 1988) Viel Optimismus und noch mehr Hoffnung war seitens dieser Sozialdemokraten um Erhard Eppler hinsichtlich eines Wandels in der DDR mit dem gemeinsamen Papier verbunden. Zur Zukunft der Streitkultur bemerkte beispielsweise Thomas Meyer, daß er und mit ihm die Sozialdemokraten hofften und erwarteten, daß »der offene und ungehinderte Dialog aller gesellschaftlichen Gruppen und Kräfte, den das Papier als eine Voraussetzung für einen wirklichen friedlichen Wettbewerb der Systeme erkannt hat, nach und nach bei uns und in der DDR alltägliche Lebenspraxis wird und die Feindbilder, auch die verklausulierten, aus der Debatte verschwinden«. (Meyer 1988, S.35)
Für die anderen war es ein Diskussionspier, um freiheitliches Gedankengut in die DDR hineinzutragen. Diese Gruppe setzte sich im wesentlichen über manche sozialdemokratischer Grundsatzpositionen hinweg und gab dem Einwirken in die DDR hinein den Vorrang. Sie sah im Papier einen Ansatz, der ihr erlaubte, ) alle Fragen mit DDR-Bürgen offen zu diskutieren und den Austausch von Informationen (z.B. Zeitungen) zu ermöglichen.
Eine dritte Gruppe um MdB Dieter Haack und z.B. Konrad Porzner lehnten das Papier ab, weil sie hierin grundsätzlich eine ideologische Bestandsgarantie für die SED und eine Bestätigung ihrer Reform- und Friedensfähigkeit sahen. »Wer Menschen im eigenen Land unterdrückt, kann nicht friedensfähig sein.« (ähnliche Äußerungen finden sich in: Haack 1988, S.40ff.)
Im Dialogpapier schrieb die SPD den grundsätzlichen Dissens zwischen der Sozialdemokratie und dem »real existierenden Sozialismus« in der DDR unter anderem dadurch fest, daß sie feststellte: »Für Sozialdemokraten haben die Menschenrechte in sich selbst absoluten Wert.« Und: »Der Streit über so gegensätzliche Grundpositionen läßt sich weder durch Kompromißformeln noch durch den Appell an den Friedenswillen beenden.«
Innerparteilich und in der Publizistik wurde jedoch eine andere Feststellung des Papiers heftig diskutiert und vielfach im Sinne einer Festschreibung des Status quo interpretiert: »Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, währenddessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen. Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen.«
Tatsächlich dämmerten für die SED und die DDR-Staatsführung aus dem Papier doch einige unangenehme Konsequenzen herauf. Möglich schien, daß der größte Teil ihrer ideologischen Literatur nach und nach Makulatur werden und die alte Schwarz-Weiß-Darstellung der Medien bald obsolet werden könnte. Die Abgrenzungspolitik schien in etlichen Punkten in Gefahr zu geraten, je objektiver die Informationen über die Bundesrepublik werden sollten. Innenpolitisch sollte es immer schwieriger werden, Fehlleistungen und Defizite in der DDR zu erklären. Auch für die Wehrpolitik könnte durch das Papier leicht eine neue Situation entstehen: Armee und Kampfgruppen lebten bisher von einem massiven Feindbild, das nun langsam abgebaut werden sollte. Der heimliche Verdacht vieler Intellektueller in der DDR, daß sich ideologische Orthodoxie und realpolitische Vernunft immer weiter auseinanderentwickeln würden, kam nicht von ungefähr.
Jedoch, weil die ideologische Ost-West-Auseinandersetzung zu einem spürbaren Hemmnis in der sich anbahnenden ökonomischen, politischen und auch militärpolitischen Annäherung werden konnte, sollte ihr mit diesem Papier erstmalig Zügel angelegt werden. Das Primat hatte die gemeinsame Sicherheit. Der »Streit der Ideologien« sollte sich dem unterzuordnen. Für die Unbelehrbaren in der SED bedeutete dies eine Niederlage. Die blockübergreifende unabhängige Friedensbewegung in der DDR konnte neue Anhänger gewinnen.
Diese und andere Erkenntnisse und Befürchtungen – aus SED-Sicht – wurden mit Sicherheit auch in der SED-Spitze erörtert. Kurt Hager, Sekretär für Ideologiefragen in der SED, grenzte das Papier ein und entzog damit die Grundlage für einen offenen Dialog. Das Papier war für weitere politische Gestaltungen wertlos geworden. Gleichwohl haben sich tausende von Menschen in der DDR auf das Papier gegenüber den SED-Machthabern berufen und fanden durch das Papier erste Möglichkeiten zur Äußerung von oppositionellen Gedanken. Wie sich Ende 1989 beim Zusammenbruch der SED zeigte, hatte das Papier auch auf der unteren und mittleren Ebene der Partei ganz nachhaltige Wirkung für die SED.
Erhard Eppler, unser Verhandlungsführer von damals und Vorsitzender der Grundwertekommission zieht drei Jahre nach Erscheinen des Dialogpapiers eine durchaus kritische Bilanz:
»Das SPD-SED-Papier vom 27.8.87 war nur nach seiner Entstehung, nicht nach seiner Intention ein deutsch-deutsches Papier. Begriffe wie ›Bundesrepublik‹, ›DDR‹ oder auch ›Deutschland‹ kommen in dem Papier nicht vor. Es beschäftigt sich mit der Friedens- und Reformfähigkeit zweier Systeme, wobei die SPD für die westliche Demokratie spricht. Ausgeschlossen wird, daß ein System das andere von außen her, also militärisch, abzuschaffen versucht. Nicht ausgeschlossen wird der Wettbewerb zwischen den Systemen. Schiedsrichter sind die Bürgerinnen und Bürger. ›Jedes der beiden Systeme kann die von ihm beanspruchten Vorzüge nur durch das Beispiel zeigen, das die Menschen innerhalb und außerhalb seiner Grenzen überzeugt.‹ Diesen Wettbewerb hat die kommunistische Seite viel rascher und gründlicher verloren, als 1987 irgendjemand voraussehen konnte. Heute gibt es das System, mit dem wir als Vertreter westlicher Demokratie diskutierten, nicht mehr. Insofern ist das Papier ohne Gegenstand, also gegenstandslos. Das Papier setzte auf strittigen Dialog, auf eine Kultur des Streits über Gegensätze, die keine Seite für überwindbar hielt. Vor allem im Kapitel 5 wurde dargelegt, daß dieser Dialog auch ›innerhalb eines jeden Systems möglich sein‹ müsse. Dies war eines der entscheidenden Zugeständnisse der SED, auf daß sich die opponierenden Gruppen, vor allem auch die Kirchen, die bei der Ausarbeitung des Papiers ständig konsultiert waren, sofort und bis zuletzt berufen haben. Darin liegt wohl der wichtigste Grund, daß in den Kirchen bis heute die Meinung vorherrscht, daß das Papier die Ereignisse des Herbstes 1989 maßgeblich vorbereitet und beschleunigt hat.« (Erhard Eppler in einem Gespräch mit dem Verfasser Anfang Januar 1991)
Zurück in das Jahr 1987 und die ersten Monate 1988: Trotz der Existenz des Papiers trotz Michail Gorbatschow ging die SED-Führung in der DDR wieder den alten Weg der Repression statt der Reform. Die Vorgänge um die Ostberliner Zionskirche, die Verhaftungen und Ausweisungen von gesellschafts- und SED-kritischen Bürgern, die Folgen für die im Januar 1988 Rosa Luxemburg zitierenden Ausreisewilligen zeugten von einer dem gemeinsamen Papier entgegenstehenden Grundüberzeugung in der DDR-Staatsführung. Gleichzeitig wurde die DDR-Bevölkerung angesichts der sowjetischen Reformpolitik selbstbewußter und organisierte sich mit steigender Mitgliederzahl in Initiativen, beispielsweise für »Frieden und Menschenrechte«, in Arbeitsgruppen, Friedens- und Umweltkreisen. Vielmals bot die Kirche diesen Gruppen materielle und ideelle Unterstützung. Herzberg analysierte bereits 1988 die mögliche Entwicklung in der DDR, die im Laufe des Jahres 1989 dann auch tatsächlich ihren Gang nahm, und die im Herbst 1989 die friedliche Revolution der DDR-Bevölkerung hervorbrachte, von der jede Deutschlandpolitik heute auszugehen hat: »Die Entwicklung in der DDR läuft auf einen Punkt zu, wo sich die Führung entscheiden muß: Repressionen oder Reformen. Die wachsenden Erwartungen auf positive Veränderungen können zwar unterdrückt werden (das Potential dazu ist immer da) – aber das würde zu tiefen Frustrationen, Verweigerungen, zu einer großen Loyalitäts- und zu einer weiteren Legitimationskrise führen«. (Herzberg 1988, S.611f.)