Strategie für die Entmachtung der SED und innerdeutsche Annäherung
Es kam darauf an, eine Handlungsperspektive für die Menschen in der DDR in ihrem beginnenden Aufbegehren gegen die SED-Herrschaft aufzuzeigen, eine Handlungsperspektive, die nicht nur von den Mitbürgern als realistisch und wünschbar, sondern letztlich auch von den europäischen Nachbarn der DDR akzeptiert werden konnte.
Die Absicht, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, war sowohl Proklamation, wie auch Tat. Sie war beides gemeinsam und gleichzeitig. Die Botschaft lautete: wir wollen unser Land demokratisieren, nach westlichem Vorbild, wir wollen in der DDR nach den gleichen demokratischen und rechtsstaatlichen Standards leben, wie sie für die europäischen Demokratien selbstverständlich sind, und wir machen uns daran, dieses Wollen in die Tat umzusetzen. Für die Realisierung unserer Absichten bedienen wir uns der sozialdemokratischen Traditionen, nicht nur in wertmäßiger Hinsicht, sondern in Form der Gründung einer sozialdemokratischen Partei – auch durch Schaffung einer politischen Kraft. Dabei wurde die Geschichte der sozialdemokratischen Partei samt der von ihr verkörperten Traditionen zur Botschaft selbst. Für die Kommunikation mit der Öffentlichkeit der DDR, aber auch mit den Nachbarn der DDR, war dies ein Himmelsgeschenk.
Denn die SPD steht für eine deutsche Geschichte, vor der die Menschen weder in Deutschland noch außerhalb Deutschland je Angst zu haben brauchten. Sie steht für Menschenrechte, Freiheit und Rechtsstaat. Sie steht für eine soziale Republik, die frei ist von der Diskriminierung Andersdenkender, für die Garantie der Menschenrechte und die Gleichberechtigung aller Bürger, unabhängig vom sozialen Stand, von Geschlecht, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit. Sie steht für Selbstbestimmung und Selbstverwaltung, und sie steht für einen friedlichen Umgang aller Menschen innerhalb des Landes, wie auch innerhalb der Staatengemeinschaft.
Man muss nicht viel über die sozialdemokratische Geschichte wissen. Drei Daten allein kennzeichnen ihren Charakter. Das ist die Realisierung der sozialen Republik nach dem Ende des Wilhelminischen Reiches, als der Kaiser und die Heerführung abdankten und die Geschicke Deutschlands in die Hände der Sozialdemokratie legten. Das ist das Einstehen für die so geschaffene soziale Demokratie als die SPD den Hitlerschen Ermächtigungsgesetzen die Zustimmung verweigerte. Und das sind nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um die politische Zukunft der sowjetischen Besatzungszone, als Stalin und die KPD ihre Vorstellungen von einem stalinistischen Ostdeutschland nur realisieren konnten, indem sie die SPD ausschalteten, was ja dann mit Hilfe der Zwangsvereinigung 1946 auch geschehen war.
Natürlich spielten auch die Erfahrungen mit der westeuropäischen Sozialdemokratie nach dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle, insbesondere der westdeutschen SPD. Mit der Entspannungspolitik hatte letztere ihren kriegsabwehrenden Charakter erneut unter Beweis gestellt. Und es war der europäischen Sozialdemokratie gelungen, Wohlstand und Sozialstaat miteinander zu verbinden, so dass der ewige Vorwurf vom menschenfeindlichen Kapitalismus für die Nachkriegsjahrzehnte in Westeuropa gegenstandslos geworden war.
In diese Traditionen wollten die Gründer der sozialdemokratischen Partei in der DDR in ihrem Land einsteigen. Wer sollte davor Angst haben? Gorbatschow? Er führte ja ähnliche Reformen selber gerade in seinem Land ein. Und was noch wichtiger war, Gorbatschow führte ja selber eine Politik der Überwindung der Systemgegensätze durch, er wollte mit dem gemeinsamen europäischen Haus ja die Annäherung von West und Ost. Sein Problem in der DDR war vielmehr die SED, die sich einer solchen Politik verweigerte. Was sollte er gegen eine sozialdemokratische Partei haben?
Und was sollte der Westen gegen eine Demokratisierung der DDR haben? Was sollte er gegen eine sozialdemokratische Partei in der DDR haben? Der einzige ernstzunehmende Vorwurf, der dagegen gelegentlich vorgebracht wurde, lautete Destabilisierung und damit Gefährdung der Position Gorbatschows. Dieser Vorwurf musste allerdings ernst genommen werden und bedarf einer gewissen Analyse.
Gorbatschows Politik lag, das kann man bei Daschitschew gut nachlesen, eine tiefgreifende Analyse der Krise der Sowjetunion zugrunde. Demnach lag die Ursache der Krise der Sowjetunion allein in der Politik Stalins, der sein Land komplett isoliert und damit von den Entwicklungsströmen des Westens abgeschnitten hatte. Dieser Zustand war nur durch eine Annäherung von Ost und West zu überwinden. In der Logik dieser Politik lag auch die Ermöglichung einer Wiederannäherung der beiden deutschen Staaten, denn sie waren der Ausgangspunkt für die Teilung der Welt in Ost und West. Für Gorbatschow war also die Überwindung des Status quo der Deutschen Teilung Teil der Öffnung Russlands in die Welt. Für eine Destabilisierung konnte das nur halten, wer der Sowjetunion auch unter Gorbatschow unterstellte, letztlich an ihren ideologischen Vorstellungen von Weltherrschaft festzuhalten, es also mit der Öffnung nicht ernst zu meinen. Gorbatschow kannte die stalinistischen Kräfte im eigenen Land, die das wollten. Er aber wollte es nicht. Er hatte den Kampf mit den innerstalinistischen Kräften lange vor dem Vorhaben der Gründung einer sozialdemokratischen Partei in der DDR aufgenommen und er war gewillt, diesen Kampf zu gewinnen. Die SED stand in diesem Kampf deutlich mehr auf der stalinistischen Seite der Bewahrer des Status quo des Kalten Krieges. Von wem also ging tatsächlich eine Gefahr für Gorbatschow aus? Von den Gründern der SDP sicher nicht. Sie spielten ihm in die Hände. Daher müssen diejenigen, die von einer Destabilisierungsgefahr Gorbatschows sprachen, mehr die alten Machtverhältnisse, die er überwinden wollte, im Auge gehabt haben, als Gorbatschow selbst. Entweder sie haben ihn nicht ernst genommen oder sie haben ihn für einen schwachen Generalsekretär gehalten. Auf jeden Fall unterschätzten sie die Chancen, die aus seiner Politik für Deutschland entstanden waren. Andererseits wird klar, wie sehr sie alleine in der SED einen handlungsfähigen Partner gesehen hatten, der sie wiederum schwer enttäuscht haben muss. Und sie unterschätzten die politischen Möglichkeiten aus der Mitte der von den Kommunisten unterdrückten DDR-Gesellschaft heraus, indem sie gleichzeitig die repressiven Möglichkeiten der SED–Diktatur überschätzten. Gewiss war die DDR ein totalitärer Staat, der keine Repression ausließ, wenn es um die Sicherung seiner Herrschaft ging. Aber die DDR war eben abhängig von der Sowjetunion, in der seit Gorbatschow ein anderer Wind wehte. Der Untergang der SED war mit der Politik Gorbatschows vorprogrammiert und er wäre nur zu umgehen gewesen, wenn die SED sich an die Spitze der Bewegung gestellt hätte. Doch die SED opferte sich selbst ihrem stalinistischem Grundcharakter. Wer in diesem Opfergang einen Verlust sah, der blieb geistig den dichotomischen Verhältnissen der Zeit des Kalten Krieges verbunden, der war nicht in der Lage, sich eine Überwindung des Kalten Krieges vorzustellen. Nicht die Gründer der SDP haben Gorbatschow destabilisiert, sondern die Bewahrer des status quo in Moskau selbst, aber auch in der DDR, und nicht zuletzt jene, die nicht müde wurden, vor einer Destabilisierung Gorbatschows zu warnen.