Wann, wenn nicht jetzt?
Die Stimmung im Land war erhitzt. Da ging etwas in diesen letzten beiden Jahren der SED-Diktatur. Die Partei hatte das Land nicht mehr im Griff. Die Leute wurden aufmüpfig, mutig, wagten etwas, an das vor einigen Jahren noch nicht zu denken gewesen wäre. Das konnte man nicht nur an den steigenden Ausreisezahlen ablesen, an den Botschaftsbesetzungen, sondern es war auch auf der Straße zu spüren, in den Betrieben, beim Einkaufen, beim Umgang mit der Polizei oder den Behörden. Der Überdruss über den Alltag der Diktatur nahm zu. Die Protestwelle anlässlich der Verhafteten aus der Rosa-Luxemburg-Demonstration war keine Eintagsfliege gewesen. Sie war nur der vorläufige Höhepunkt einer für die SED-Führung zunehmend kritischen Lage, die sie nicht mehr in den Griff bekam.
Das hing natürlich mit dem Bruder, der großen Sowjetunion zusammen, deren Krise den Kreml dazu veranlasst hatte, mit Gorbatschow einen Mann an die Spitze der KPdSU zu berufen, der gewillt war, mit dem Weltmachtanspruch des sowjetischen Kommunismus zu brechen, weil er einsah, dass unter seiner Last das sowjetische, alias russische Imperium einzubrechen drohte. Die Krise der SU, ja des ganzen sowjetischen Blocks war offenbar geworden, und zwar so stark, dass sie trotz aller kommunistischen Propaganda nicht mehr zu übertünchen war, faktisch für jedermann, nicht nur für die Genossen in den kommunistischen Parteien, sondern auch für die einfachen Leuten.
Wann, wenn nicht jetzt waren politische Veränderungen möglich? Doch niemand schwang sich auf, die Richtung vorzugeben.
Die SED stellte sich tot, vergreist, handlungsunfähig. Einen kritischen, analytischen Intellektuellen vom Schlage Vaclav Havels gab es in der DDR nicht. Diejenigen Intellektuellen, die Zugang zur Öffentlichkeit hatten, wie einige Schriftsteller oder Funktionäre, wagten nicht, das Undenkbare zu denken: das Ende der DDR.
Doch das galt auch für die oppositionelle Bewegung in der DDR. Es hätte neuer Themen, neuer Impulse, echter Politik bedurft. Mir wurde immer klarer, dass Ruth Misselwitz Recht hatte, als sie vom Selber-Tätigwerden sprach. Das aber bedeutete Selbstverantwortung, Eigenverantwortung. Und damit wurde die Dimension des Kraftaktes deutlich, der vor uns lag und dem ich mich stellen wollte, musste. Es gab damals niemanden, besser, ich kannte niemanden, dem ich zugetraut hätte, eine Richtung vorzugeben, eine Lösung für das politische Problem der SED-Diktatur in der Hand zu haben. Ich wusste, was ich wollte: eine radikale Systemänderung. Ich wollte keine irgendwie gearteten großen oder kleinen Reformen, ich wollte keine Politik der kleinen Schritte. Ich wollte die SED und ihre verhasste Herrschaft los werden. Ich wollte frei sein, und ich wollte, dass meine Kinder frei aufwachsen können würden. Für mich waren alle Reformversuche der DDR, die es faktisch nicht gab, nur Hinhaltemanöver, um die Macht der SED weiter aufrecht erhalten zu können. Für mich war die SED das Problem, nicht das Medium irgendwelcher reformerischer Experimente. Und deshalb war für mich auch die Politik der West-SPD zumindest an dieser Stelle nicht akzeptabel, die immer wieder Reformen in der DDR einforderte. Ja mein Gott, sollte denn die SED ewig regieren?