VIII Eine komplizierte Formel: GG 23 (Beitritt) oder GG 146 (Gemeinsame Verfassung)
Noch war es jedoch nicht soweit. Der Wahltag stand jetzt endgültig fest, die Parteien formierten sich für den ersten heißen Wahlkamp in der DDR. Die SPD beschloss in Markkleeberg bei Leipzig ihr Grundsatz- sowie ihr Wahlprogramm als ›Fahrplan zur Deutschen Einheit‹. Beide Papiere sind noch immer sehr lesenswert. Mit dem SPD-Fahrplan zur Deutschen Einheit wären die Ostdeutschen gut gefahren. Der vorgeschlagene ›Rat zur deutschen Einheit‹ hätte ab Mai 1990 eine gemeinsame Verfassung beider deutscher Staaten auf der Grundlage des Grundgesetzes erarbeitet und diese gemeinsame Verfassung im Sommer 1990 zum Volksentscheid vorgelegt. Im Anschluss an diesen Volksentscheid hätte es eine gesamtdeutsche Bundestagwahl gegeben. Am Tage des Zusammentritts des gesamtdeutschen Bundestages hätten sich die beiden deutschen Parlamente Bundestag und Volkskammer aufgelöst. Es wäre doch auch eine gute Lösung gewesen, oder? Eine ›Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion‹ wurde von der SPD-Ost für den 1. Juli 1990 auch vorgeschlagen.
Hier ein Auszug aus dem ›Fahrplan zur deutschen Einheit‹:
Die SDP-Ost war programmatisch und professionell gut aufgestellt. Dies passte weder Kohl noch Lafontaine. Kohl wollte das Ding alleine durchziehen und Lafontaine wollte diese Entwicklung verzögern. Zuerst wollte er die kommenden Bundestagswahlen gewinnen. Der gesamte innerdeutsche Prozess machte ihm diese Pläne zunichte. Seinen Ausweg sah er folglich im Anstacheln des westdeutschen Egoismus (›Kosten der Einheit‹) und im Verängstigen der Ostdeutschen. Kohl sah seine Chance in der Thematisierung des scheinbar komplizierten Einheitsverfahrens der Sozialdemokratie. Den Wunsch nach Geschwindigkeit und Unkompliziertheit der Bevölkerung gut einschätzend, versprach er die einfache Lösung, über GG 23 zur Einheit zu kommen. Einfach rein und alles wird gut. Das ging den Leuten runter wie Öl. Dass im Kohlschen Verfahren legitime Interessen der DDR-Bevölkerung per Handauflegen behandelt worden wären, konnte durch uns im Wahlkampf nicht differenziert thematisiert werden. Von Problemen wollten die Menschen nichts hören. Die Allianz für Deutschland stand im Wahlkampf für ›Alles wird schnell gut‹, die Sozis waren perfekt vorbereitet, mussten aber den Einheitsverweigerer Lafontaine und ihr zu erklärendes, faires Modell zur Einheit Huckepack tragen. Das konnte nicht gutgehen. Ging es auch nicht.
Hätte sich Hans-Ulrich Klose am 12. Februar 1990 in der SPD-West-Präsidiumssitzung durchgesetzt, die SPD-Ost wäre am 18. März 1990 erfolgreicher gewesen und hätte infolge dessen den Weg in die Einheit (Eigentumsregelungen, Treuhand u.v.m..) stärker mitbestimmen können. Klose schlug in besagter Sitzung vor, auf die Konföderationsüberlegungen komplett zu verzichten und stattdessen sofort nach GG 23 den DDR-Beitritt zu favorisieren. Es würde ohnehin so oder ähnlich kommen.
Am 18. März 1990 erteilten die Ostdeutschen ihrem ersten freigewähltem Parlament den eindeutigen ›Auftrag zur Deutschen Einheit‹. Die Parteien, die für die Einheit in der Wahl angetreten waren, wurden mit rund 85 Prozent gewählt, die SED-PDS als erklärte Einheitsgegnerin erhielt 16,4 Prozent. Unterschiede bei den strikten Einheitsbefürwortern der späteren großen DDR-Koalition gab es lediglich in den Einzelprozenten für die unterschiedlichen Parteien und deren scheinbar unterschiedlich angesetzte Einigungsgeschwindigkeit. Die Allianz für Deutschland (CDU-Ost, DA, DSU) erhielt 48 Prozent, die SPD 21,9 Prozent, der Bund Freier Demokraten BFD 5,3 Prozent. Damit hatten die Einheitsbefürworter 75,2 Prozent und verfügten über die verfassungsgebende Mehrheit in der Volkskammer. Ohne die SPD hätten die anderen Wahlgewinner Allianz und BFD die Verfassung der DDR nicht für den Einigungsprozess ändern können. Der SPD war ihr Wert bewusst und eine ihrer Bedingungen für den anstehenden Prozess waren die Zusagen zu einem Vertrag zur Wirtschafts-, Währung-, und Sozialunion und zu einem Einigungsvertrag. Mit der Zusage von de Maizière war für die SPD-Ost der Weg in die große Koalition in der DDR frei und folgerichtig.
Die SPD-Ost war sich ihrer großen Verantwortung vor den realen Notwendigkeiten bewusst. Sie machte den parlamentarischen und damit staatsrechtlichen Weg für die gesicherte Freiheit in der deutschen und europäischen Einheit nicht nur frei. Sie machte ihn möglich, auch weil sie bereits mit ihrer Gründung die Deutsche Frage auf den europäischen Tisch legte.
Die Allianz für Deutschland und die Freien Demokraten hatten die notwendigen Zweidrittelmehrheiten in der Volkskammer nicht beisammen. Ohne die SPD-Ost wäre es am 3. Oktober 1990 nicht zum Beitritt nach Grundgesetzartikel 23 gekommen.
Bei allem Ärger, ich bin stolz, als Sozialdemokrat dabei gewesen zu sein!