VI Die Bürde alten Ballastes: Sozialismus, Genosse
Die Kehrseite der Medaille ließ leider nicht lange auf sich warten. Der Vertrauensgewinn in die ostdeutschen Sozialdemokraten, die nun endlich einen gesamtdeutschen Namen trugen, schmolz doch wieder ein Stück dahin. Halbe Sachen konnte es nicht geben. Entweder SDP ohne Genosse, ohne Sozialismus und mit DDR oder SPD mit Genosse, mit Sozialismus und mit Einheit. Das war ein großes Dilemma. Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte sich gerade vom ideologischen Plunder des SED-Staates befreit, wollten die jahrzehntelange Zwangsanrede ›Genosse‹ nie wieder hören. Von Sozialismus egal welcher Provenienz hatte diese Mehrheit ein und für allemal den Kanal richtig voll und jetzt kamen diese Sozialdemokraten und quäkten ausgerechnet wieder diese Litanei, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, vor sich her? Dies schien ein Stück aus dem Tollhaus und entfernte die frischgebackene Ost-SPD sehr von ihrer angestammten Wählerschaft in der Industrie. Mit dem trotzigen Beharren auf ›Genosse‹ und ›Sozialismus‹ schnitt sich die SPD in den Industriegebieten von ihrer natürlichen Wählerschaft ab. Die Ingenieure, Techniker, Facharbeiter wollten eine Sozialdemokratie, die nach Brandt und Schmidt schmeckte, und keine sozialistisch verquaste SPD, die wie Lafontaine daher kam. Das Genossen-Gesülze vom Sozialismus hatten die Leute noch von den ständigen Parolen in ihren Betrieben, PGHs und LPGs deutlich in den Ohren. Wer sollte dies und vor allem warum unterscheiden zwischen SED-Sozialismus und SPD-Sozialismus? Es war nicht die Zeit für diese Art Feingeisterei.
Interessanterweise waren es in der SDP die vormals eher staatsfern in kirchlicher Umgebung ihren Weg Absolvierenden, die mit diesen Begrifflichkeiten geringere Probleme hatten. Möglicherweise war dies dem Umstand geschuldet, dass an deren DDR-Nische das penetrante tägliche SED-Gesülze nicht stattfand und in dieser Nische der tägliche Kampf um Ersatzteile, um das tägliche ›wie weiter‹ in der (sozialistischen) Produktion in eigenen Erfahrungen relativ unbekannt geblieben war? In der DDR hatte jede Nische ihr eigenes DDR-Bild. In der Industriearbeiterschaft war die DDR richtig im Ar…, in der kirchlichen Nische war das DDR-Bild vielleicht doch mehrheitlich etwas rosaroter, zumindest in der evangelischen Kirche?
Viele Freunde in der West-SPD sahen diese Schwierigkeiten mit ›Genosse‹ und ›Sozialismus‹ und nahmen Rücksicht auf uns. Diese Rücksichtnahme ging stärker in die Bundestagsfraktion über als in die Parteigliederungen, doch gab es diese auch dort. Meist waren es Seeheim-Sozialdemokraten, die im Osten die Anrede Genosse vermieden, die nie vom Demokratischen Sozialismus sprachen und uns damit peinliche Erklärungen ersparten.
Willy Brandt, Helmut Schmidt, Annemarie Renger, Hans-Ulrich Klose, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und viele, viele andere begrüßten uns immer als ›Liebe Freunde‹ und nie als ›Genosse‹. Dies war uns sehr wichtig und wir waren jenen für diese Höflichkeit dankbar. In der Bundestagsfraktion kam die Anrede Genosse sogar für einige Jahre fast aus dem Gebrauch, damit wir Ostdeutschen uns heimischer fühlten. Es waren dann die linken Ostsozis, die diese Dämme einrissen. Ich persönlich verwende die Anrede noch immer nicht und sehe auch keine Veranlassung hierzu. Besser vermag ich noch immer nicht bereits in einem ersten Kennenlerngespräch meinen anderen Weg in die Sozialdemokratie deutlich zu machen. Sozialismus geht mit mir als Begriff sowieso nicht. Ich bin Sozialdemokrat in dem freiheitlich-demokratischem System, in dem ich mich zu Hause fühle. Ich will es nicht ändern und benötige für meine Politikbeschreibung keinen quaisreligiösen -ismus. Ich komme im Leben ohne Esoterik aus.
Die Bevölkerung nahm diesen differenzierten Umgang innerhalb der SPD wenig wahr. Für die Leute wurden wir auch in Konkurrenz zu den anderen Parteien, die sich solche Umständlichkeit nicht leisten mussten, zu einer Partei, die ihren Weg nicht klar zu wissen schien und die die Bevölkerung vielleicht doch wieder mit gesellschaftlichen Experimenten à la Sozialismus konfrontieren würde?
Perplex war ich auch an dieser Stelle über meine heißersehnte Sozialdemokratie, die doch nur über den Weg des Ablegens des Klassenparteiabziehbildes, des Marxismusablegens in den späten 50ern zur Volkspartei wurde und als Volkspartei anderthalb Jahrzehnte später für dreizehn Jahre die Kanzler der Bundesrepublik stellen konnte. Und genau diese Partei wusste das alles 1989/90 nicht mehr? Aus den ersten Büchern, die ich mir nach dem Mauerfall über Willy Brandt besorgen konnte, wusste ich von den Diskussionen im Vorfeld des Godesberger Programms. Ich verstand diese West-SPD an dem Punkt überhaupt nicht. Ihren Bundeskanzler Willy Brandt, den Friedensnobelpreisträger, den Erfurter Helden hatten sie nur über die Wandlung zur Volkspartei ›erhalten‹. Jetzt, 1989/90 stand vor der deutschen Sozialdemokratie dasselbe Problem, weil Ostdeutschland mental noch irgendwo in den 50ern hing und diese erfahrene Sozialdemokratie erkennt die auch mentalen Notwendigkeiten nicht? Die DDR-Gesellschaft war ein Konglomerat unterschiedlichster Nischen. Diese Nischen kannten keine Binnen-Kommunikation, sie kannten erst recht keine Inter-Kommunikation. Alles Problematische war konserviert. Unter dem jahrzehntelangen Dauerberieseln mit Sozialismus, mit Demokratieverachtung und der Angst vor der allgegenwärtigen politischen Polizei trafen sich 1989/90 mit der Bundesrepublik und der DDR Gesellschaft höchst unterschiedliche Entwicklungsstände. Und die höher entwickelte war nicht in der Lage, mit ihren eigenen Erfahrungen der faktisch hinterwäldlerischen Verwandtschaft mental entgegen zu kommen. 25 Jahre später haben wir es mit Pegida zu tun. Vermutlich lässt sich dies zum Teil auch als Spätfolge des damals nicht erkannten und nicht bewältigten Konfliktes diagnostizieren. Die Pegidianer wissen nämlich heute noch nicht, dass Demokratie nicht das Versprechen auf Wohlstand, sondern das friedliche Prinzip der Teilhabe an Verantwortung/Gestaltung und an den Ergebnissen ist.
Meine damalige Fassungslosigkeit war grenzenlos. Bezüglich ›Genosse‹, Sozialismus, Marxismus war Brandts Position 1955, wie hier in »Willy Brandt« von Peter Koch, Bastei Lübbe 1989 (!) auf Seite 232 unten treffend beschrieben:
Ich möchte nicht von Ballast abwerfen reden. Aber der Kapitän entledigt sich toter Ladung, wenn er dadurch lebendiges Gut erhalten kann… Die Zeit der Postkutsche ist vergangen. Das Gesicht der Partei muss vor dem Gericht der Epoche bestehen können…Die SPD müsse sich von einer Partei der Nein-Sager zu einer Partei entwickeln, die ihre Forderungen positiv vertrete.
Mit dem Willy Brandt des Godesberger Programms und dem der Jahrhundertsatz-Schöpfung »Es wächst zusammen…« als realem Anführer der West-SPD hätte die SPD-Ost ihren klaren Kurs fahren können und wäre um ein herausragendes Wahlergebnis am 18. März 1990 nicht herumgekommen. Statt des großen Politikers mussten wir aber leider mit dem Spieler aus dem Saarland klarkommen. ›Pech für die Kuh Elsa‹ würde Didi Hallervorden sagen.
Der SPD lief die Zeit davon. Der Vertrauensvorschuss wurde kleiner, die Blockflöten schüttelten mit Hilfe von Kohl, Waigel, Rühe, Genscher ihre Nationale Front ab, die SED-PDS stabilisierte sich mit ihrem Besitz und den noch immer über eine Million Mitgliedern auf einem Niveau von sicherlich 15 Prozent Wahlchancen. Dank Lafontaine wurde die SPD-Ost als Bremser wahrgenommen. ›Rote aus der Demo raus‹ schallte es mir montags in Leipzig immer öfter entgegen. Die SED waren ›Die Roten‹ und wer als Bremser wie diese wahrgenommen wurde, der wurde dann ebenfalls unter ›Die Roten‹ subsumiert. Das war schon hart. Weder war ich Rot noch wollte ich die DDR erhalten. Weinerlichkeit bürgt bekanntlich nicht für Selbstbewusstsein und deshalb blieb ich dabei, weiterhin jeden Montag zu den Demonstranten zu reden. Eine Sozialdemokratie, die sich feige von dannen macht, entsprach mein Bild der Sozialdemokratie nun gerade nicht.