Peter Brandt: Replik auf die Einwände von Ulrich Schödlbauer und Werner Stanglmaier
Meine acht Thesen sind ursprünglich geschrieben worden als Antwort auf die Bitte einer in der Evangelischen Kirche engagierten Dame, die mich aufforderte, zusammen mit ihr »Argumente gegen Pegida und AfD zu sammeln«. Ich habe insofern versucht zu erklären, dass das nicht so einfach ist und dass es nicht geht, ohne sich über die Ursachen und den Charakter der genannten Phänomene zu verständigen. Aus dieser Ausrichtung des Textes und daraus, dass ich die Problematik nicht als politisches Neutrum behandle, ergeben sich manche monierten Einseitigkeiten der Argumentation. Den meisten Aussagen meiner beiden Mitdiskutanten kann ich nicht widersprechen.
So will ich ohne Weiteres konzedieren, dass die jüngste Globalisierung, die der vergangenen Jahrzehnte (Historiker gehen ja bis etwa 1500 zurück, wenn sie von Globalisierungsvorgängen handeln), ein sämtliche Lebensbereiche umfassender Vorgang ist, der die Handlungsfähigkeit der tradierten Nationalstaaten infrage stellt (und auch ein supranationales Gebilde wie die EU stark beeinflusst). Allerdings möchte ich auf der – durch die neuen Technologien im Informationssektor begünstigt – treibenden Rolle des internationalen Finanzmarkts bestehen, so wie man die erste, in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts Fahrt aufnehmende Industrialisierung (ebenfalls ein gesamtgesellschaftlicher, tief eingreifender Vorgang) nicht analysieren kann ohne die damit verbundene Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und deren Triebkräfte als Kern des Prozesses. Dass man die unter der Bezeichnung Globalisierung gefassten Entwicklungen nicht einfach zurückdrehen kann, dürfte ebenso klar sein, wie die Feststellung richtig, dass manche Zukunftstendenzen, auch wegen der enormen Beschleunigung in manchen technischen und wissenschaftlichen Bereichen, derzeit nur vage eingeschätzt werden können. Wirtschaftlich und politisch wird sich das Gewicht »des Westens« in jedem Fall vermindern.
Die Devise, es gelte Globalisierung sozial, demokratisch und umweltverträglich zu gestalten, ist bislang nur eine, meist unverbindliche Floskel. Hier läge aus meiner Sicht eine der wesentlichen Aufgaben der Europäischen Union (was aber einen heute nicht vorhandenen gemeinsamen Grundkonsens oder eine eindeutige Mehrheitsentscheidung über deren Existenzzweck voraussetzen würde).
Es ist nicht zu bestreiten, dass die absolute Armut (gemessen an einem bestimmten Tagesbudget) global erheblich zurückgegangen ist, hauptsächlich durch die industrielle Entwicklung einiger früherer Dritte-Welt-Länder, in erster Linie Chinas. Eine solche Feststellung steht nicht im Gegensatz zur sozialen Polarisierung, also dem Anwachsen der sozialen Ungleichheit, wie es sich in den meisten Ländern der südlichen wie der nördlichen Hemisphäre mehr oder weniger dramatisch vollzogen hat. Die Frage der Verteilung des erwirtschafteten Sozialprodukts wird sich weder im Nord-Süd-Verhältnis noch innerhalb der Einzelstaaten von selbst lösen oder auch nur entspannen, sie wird sich vielmehr eher verschärfen – umso mehr als das internationale Staatensystem in eine chaotischere Phase übergegangen ist – mit der Folge einer Vielzahl von mörderischen regionalen Konflikten und humanitären Katastrophen. Die mit der Globalisierung, die zu einem erheblichen Teil durchaus von der politischen Entscheidung zur Entfesselung der Finanzmärkte um 1980 befeuert wurde (ihrerseits eine Reaktion auf geringere Produktivitätssteigerungen und eine gewisse Profitklemme der Kapitalseite in den 1970er Jahren), ist ferner untrennbar verbunden mit der Verschärfung der strukturellen und globalen ökologischen Krise; Deregulierung ist nicht nur ein innerstaatliches, sondern auch ein zwischenstaatliches Phänomen. Über die Hälfte des Kohlenstoffs, den die Menschheit seit Anbeginn ihrer historischen Existenz in die Atmosphäre abgegeben hat, wurde während der vergangenen 30 Jahre ausgestoßen, 85 % seit 1945.
Die meist als rechtspopulistisch bezeichnete politische Strömung in Europa ist eine Reaktion nicht unmittelbar auf die Globalisierung, aber auf Vorgänge, die damit in Verbindung stehen wie die Massenzuwanderung, vorwiegend aus kulturell anders geprägten Weltregionen und dem Funktionsverlust sowie die reduzierte Handlungsfähigkeit des Nationalstaats. Diese Tatbestände müssen die führenden Politiker entweder beschweigen, herunterspielen oder als alternativlos darstellen, was dem Gefühl des Ausgeliefertseins zusätzlich Nahrung gibt.
»Populistisch« sind natürlich immer die anderen; das ist schon in der Polemik zwischen den etablierten Parteien so. Wenn ich den gewiss schillernden Begriff benutze, dann ist das nicht denunziatorisch gemeint, sondern der Versuch, etwas zu bezeichnen, das – sei es rechts der Hauptströmungen, sei es (mit anderer inhaltlicher Profilierung, aber mit manchen Ähnlichkeiten) links der tradierten und etablierten Parteien –, ohne »extremistisch« zu sein, den Protest des »Volkes«, wie immer es verstanden wird, gegen die Eliten, wie immer sie definiert werden, artikuliert. Natürlich ist dieser Populismus auch ein Problem der gemäßigt rechten oder liberal-konservativen Parteien; mein spezielles Anliegen ist aber die Anfälligkeit eines Teils der Wählerschaft bzw. potentiellen Wählerschaft linker und sozialdemokratischer Parteien für die Angebote der rechten Populisten (oder gar der rechten Extremisten).
In Frankreich sammelt der Front National schon lange mehr Arbeiterstimmen als jede andere Partei. Für Deutschlands AfD deutet sich Gleiches an, zunächst nur bezogen auf den relativen Arbeiteranteil unter den Wählern. Das betrifft vorrangig gar nicht die »Unterschicht« im engeren Sinn, sondern ein relevantes Segment der die Masse der Bevölkerung bildenden Arbeitnehmerschaft, als deren politischer Repräsentant die Sozialdemokratie historisch entstanden ist und woraus sie allein ihre Existenzberechtigung ableiten kann. Dabei ist offensichtlich, dass es nicht mehr nur oder vorrangig um die anteilsmäßig stark geschrumpfte Gruppe der Industriearbeiter alten oder modernen Typs gehen kann, allerdings auch um sie – und zudem die tatsächlich »Abgehängten«, die über wenig Druckmittel verfügen, einbeziehend.
Dass das nicht heißt, einfach die, soweit überhaupt feststellbar, empirisch vorhandenen Meinungen und (Vor-)Urteile aus dem »schaffenden Volk in Stadt und Land« (Görlitzer Programm der SPD 1921) wiederzugeben, ist selbstverständlich. Man müsste dessen Artikulationen aber mehr zu Kenntnis und ernst nehmen. Auch in früheren Zeiten haben sich die wenigsten Menschen »politisch korrekt« ausgedrückt, und man sollte sich hüten, ein Klima zu schaffen bzw. zu verfestigen, in dem der »Normalo« (wie auch der nonkonforme Intellektuelle) nicht oder nur gehemmt spricht (bzw. schreibt), weil er sich nicht Zurechtweisungen oder Verdächtigungen aussetzen will. Ich wäre froh, wenn die SPD der AfD, zum Beispiel in ihrem Wirtschaftsprogramm, nicht nur wacker entgegenträte, sondern deren Wahlerfolge zugleich als Symptom, als eine eigene Misere – und nicht irgendeine unter vielen anderen – begriffe. Im Übrigen leidet die gesamte europäische Sozialdemokratie (wo sie nicht das »Glück« hat, an eine perspektivisch möglicherweise zusammenarbeitsbereite linkssozialistische oder eben linkspopulistische Formation zu verlieren) an Auszehrung, teilweise noch gravierender als die SPD.
Im Widerspruch der »Populisten« beider Grundrichtungen kommt der zunehmenden Aversion gegen die EU eine beträchtliche Bedeutung zu. Dabei werden von ihnen, je nach der Situation ihrer Heimatländer, teilweise unterschiedliche, ja gegensätzliche Forderungen, (teilweise aber auch, zumindest im Negativen, ähnliche Protestgegenstände vorgebracht) – ob plausibel oder nicht. Die Abstimmungen gegen den europäischen Verfassungsvertrag 2004 in Frankreich und den Niederlanden waren aus ganz verschiedenen Quellen gespeist, aber von einigen lagerübergreifenden Empfindungen befeuert: nämlich, und hier wiederhole ich mich, »Brüssel« als abgehobene Struktur mit einer neoliberalen Agenda, die EU-Europa nicht als Schutz- und Gestaltungsraum, sondern als Zerstörer der nationalstaatlichen, ja nicht ineffektiven, auch sozial schützenden Systeme und generell von politischer Selbstbestimmung wahrnimmt. Ansonsten unterscheiden sich die Wahrnehmungen im Norden, namentlich in Deutschland, und im pauperisierten Süden nicht nur bei einigen Politikern, sondern auch bei den breiten Volksschichten diametral.
Neben der Unfähigkeit der EU, die Migrations- und Flüchtlingskrise 2015/16 einvernehmlich und solidarisch anzugehen, fällt ins Gewicht, dass die Einführung des Euro ohne flankierende politische Struktur ein Fehler war, den man unterschiedlich korrigieren könnte: durch Wiedereinführung nationaler Währungen (bzw. einer währungspolitischen Zweiteilung des Euro-Raums zwischen den »germanischen« und den »romanischen«-mediterranen Ländern) und einer betont pragmatischen, in der Zielsetzung bescheidenen Handhabung des europäischen Regelungswerks einerseits, durch den zügigen Ausbau der Union in Richtung auf eine schrittweise kontrolliert vereinheitlichte Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik sowie eine allgemeinpolitische und Verteidigungsgemeinschaft andererseits.
Letzteres käme einer Neugründung der Europäischen Union nahe und hätte tieferen Sinn nur in Verbindung mit einem Politikwechsel: dem Bruch mit dem neoliberalen und austeritätspolitischen Paradigma und mit dem Verständnis der EU als dem eines globalen Juniorpartners der USA. Auch in diesem Fall würden die alten Nationalstaaten als Bausteine des Vereinten Europa weiterhin benötigt, und die tradierten Nationen als Kultur-, Kommunikations- und Bewusstseinsgemeinschaften würden sich nicht einfach auflösen »wie der Zucker im Kaffee« (E. Eppler). Obwohl ich derzeit wenig Chancen sehe, diese zweite Alternative zu realisieren, will und darf ich als Publizist meine Stimme dafür erheben: Nur auf diesem Weg wird Europa in die Lage versetzt werden, seine bisherigen zivilisatorischen Errungenschaften (Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie) zu sichern und weiterzuentwickeln und mit seinem kombinierten Gewicht auch global konstruktive, auf Neuordnung gerichtete, humane Lösungen zu wirken.