(1) Der graue Elefant
Meine erste akademische Begegnung mit der Philosophie an der Leningrader Universität im Wintersemester 1953/54 war, höflich gesagt, ein Trauerspiel. Es tobte in dieser Zeit der Kampf gegen den sogenannten »Kosmopolitismus« – für St. Petersburg selig kein ganz neuer ›Virus‹. Der wurde schon hinter der ›Dekabristenverschwörung‹ (von 1825), vermutet, als freigeistige Beute junger Offiziere, die im Kampf gegen Napoleon bis nach Paris gelangt waren…
Und so auch heute: man habe im Siegestaumel von 1945 westliches Gedankengut ins »Heilige Vaterland« hereingelassen. Sowohl Sieger wie Rückkehrer wären kulturell kontaminiert mit ›Ideen des Westens‹. In den Zeitungen war zu lesen, es sei das Wesen dieser Ideologie, dass alles verherrlicht und angebetet würde, was aus dem »Westen« komme, während alles Vaterländische geleugnet und herabgewürdigt werde. Und, wie es mit jeder ideologischen Kritik immer zu sein pflegt, das Pendel schlug bei jedem Anstoß sofort auch nach der anderen Seite aus. Auf einmal gab es in der Wissenschafts- und Technikgeschichte keine große Entdeckung mehr, die nicht zuerst von einem Russen gemacht worden wäre, – von der Dampfmaschine übers Radio bis zu Weltraumrakete. Und wenn die Russen schon eine Entdeckung nicht selber gemacht hätten, so hätten sie doch immer wenigstens die Anregungen dazu gegeben.
Diese ideologische Kampagne war ein zutiefst peinlicher und dummer Vorgang, der dem Ansehen der Sowjetunion im Alltag der ›Befreiten‹ schweren Schaden zugefügt hat. Im Kaufhaus Schocken in Chemnitz waren mehrere Schaufenster mit Bildern ausgelegt, welche die überragende Größe der Sowjetwissenschaft illustrieren sollten. So gab es Bilder aus dem »Schaffen« der Biologin Olga Lepeschinskaja (1871-1963), die u.a. die Entstehung des Lebens aus organischer Materie (getrockneten Seesternen) entdeckt haben wollte. Natürlich wurde auch der Agronom Trofim D. Lysenko (1898-1976), der ›Erzieher der Hirse‹ (Brecht), mit seinem sog. »Tiefpflanzverfahren« ausgestellt. Die Erzgebirgsbauern schüttelten sich vor Lachen.
Die Philosophen durften in diesem Theater der Dämlichkeiten natürlich nicht fehlen. Für sie hatte Stalins Schwager Andrej Shdanow (1898-1948), übrigens seit kurzem der Namenspatron der Leningrader Universität, einen besonders parteilichen Spruch zusammengebastelt, der Schluss machen sollte mit der Verherrlichung der Hegelschen Philosophie, die übrigens auch Lenin nicht fremd gewesen sein soll… Der Satz lautete: Der klassische deutsche Idealismus, namentlich der Hegelsche, sei eine feudal- aristokratische Reaktion auf den Materialismus und die Französische Revolution. Ich habe allerdings nie gehört, dass diese »Formel« zitiert worden wäre. Die Philosophen der Leningrader Fakultät hatten auch kein Problem damit, offen zu sagen, dass sie sich für die exorbitante Dummheit ihrer Obrigkeit schämten.
Bei dem Satz von der aristokratischen Reaktion blieb es aber nicht. Das frischgedruckte dreibändige Grundlagenwerk fürs Studium der »Geschichte der westeuropäischen Philosophie« verschwand postwendend im Reißwolf. Ich habe alles versucht, ein Exemplar dieses Werkes zu erwerben. Es gelang mir nicht. Der »Graue Elefant«, wie das obskure Objekt der Begierde im philosophischen Volksmund genannt wurde, blieb ein Rarissimum. Nachdem dieses großartige Buch (immerhin durfte ich es kurz in meinen Händen halten) auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, trat eine dicke Broschüre mit dem gleichen Titel an seine Stelle. Im philosophischen Vorlesungsprogramm der Fakultät ging es dem Fach »Geschichte der westeuropäischen Philosophie« dann auch nicht besser: es wurde auf ein Semester zusammengestrichen.
In Leningrad war einer älteren Professorin, der Ukrainerin Soja Michailowna Melestschenko, die Aufgabe zugewiesen worden, diese geistige Karikatur in einer Vorlesung zu zelebrieren. Eine so verunstaltete Philosophiegeschichte vorzuführen hat sie, man konnte es ihr ansehen, sehr unglücklich gemacht. Aber, so dachten wir, ihre Hörer: Sowjetbürger sind disziplinierte Leute, sogar im Unglück. Sie hat sich freilich bald auf ihre Weise dafür ›gerächt‹. Kurz nach dem XX. Parteitag der KPdSU (Febr. 1956) begann man eine Edition der Schriften von Antonio Gramsci (1891-1937). Dieser außergewöhnliche Denker hatte sich in seinen »Quaderni del Carcere« (1929-1935) mit großer Wertschätzung für ein intensives Studium der europäischen Philosophiegeschichte als Voraussetzung für eine schöpferische philosophische Entwicklung ausgesprochen. Die Gramsci-Vorlesungen von Frau Melestschenko haben uns, in diesem Sinne, einen weiten Blick auf das Wesen philosophischen Denkens überhaupt geöffnet. – Daran habe ich noch in meinen späteren Vorlesungen an der Leipziger Universität dankbar erinnern können. Beispielsweise an die Sentenz, man müsse »eine neue, integrale Kultur schaffen, die den Massencharakter der Reformation und der französischen Aufklärung besitzt und zugleich die Klassizität der griechischen Kultur und der italienischen Renaissance. Eine Kultur, die Robespierre und Kant zur Synthese vereint, Politik und Philosophie einer inneren dialektischen Einheit zuordnet, die nicht allein französisch oder deutsch, sondern europäisch und international ist. Man muss das Erbe der klassischen deutschen Philosophie nicht nur inventarisieren, sondern es zu wirksamem Leben wiedererwecken.« – So blieb mir die verehrte Soja Michailowna in dankbarer Erinnerung.