Stalin als Philosoph
Wir waren im fünften Semester, als im Februar 1956 der XX. Parteitag Nikita Chruschtschow einer ›geschlossenen‹ Sitzung mit den vergangenen zwanzig Jahren Parteipraxis und vor allem mit Stalin ins Gericht ging. Nach dem Parteitag wurden zahlreiche Erzählungen aus dem sowjetischen Alltag jener Jahre aus dem geschundenen Land publiziert. Es waren überwiegend traurige Geschichten, aber auch unter ihnen gab es genügend Gelegenheiten, die in Verfall geratene Sache auszulachen oder ironisch zu belächeln. Die emotionale Welt der Narrative war ungeachtet der grauenhaften Vergangenheit des Landes vielfarbig. Dafür gab es nur eine Erklärung: Das Volk war trotz Krieg und unmenschlicher Diktatur noch immer in einer wohltuenden Weise kreativ und sehr lebendig. Kein Wunder, dass gerade wir als DDR-Studenten unter diesen einfallsreichen und lustigen Menschen nach dem XX. Parteitag eine gute Zeit hatten.
Die angesagten Erzählungen wurden vorwiegend durch flotte Mundwerke mit der sprachlichen Anmut eines Alexander Puschkin im Land verbreitet. Die schriftliche Form fand sich nur selten. In dieser Hinsicht gab es Erfahrungen. Konterbande bewahrt man im Kopf. Nur dort sind sie – relativ – sicher; – die Vokabel, die wir da immer hörten, war »Otnositelno« (in Bezug auf, relativ). Das wurde unsere Lieblingsfloskel für Situationsbeschreibungen. Übrigens, auch Josef Stalin benutzte sie recht häufig…
Man brauchte das Wort, um sich nicht festzulegen, ›festnageln‹ zu lassen. Es half, das, was man Gelassenheit nennt, zu leben.
Alle die uns zu Ohren kommenden Erzählungen aus jenem später so genannten Archipel GULag (Solschenizyn) waren anonym. Man kannte weder ihre Verfasser noch ihre Quellen und wollte das auch gar nicht. Sie (d.h. ihre »Produktionsstätten«) wurden jedoch paradoxerweise in der Nähe von Organen der Sowjetmacht vermutet. Das konnte, nach allgemeiner Überzeugung, auch nicht anders sein. Die ›Folkloristen‹ wussten einfach zu gut Bescheid über alle Angelegenheiten des Landes und besaßen auch das für die beschriebenen Prozesse notwendige propagandistische Geschick. Gern wurde in diesen Gesprächskreisen, eben Otnositelno!, klargemacht: Ob das in den Erzählungen Dargestellte stimmt oder nicht, wahr ist oder nicht, es ist auf alle Fälle vorzüglich erfunden und wirklicher als die Wirklichkeit selber. C’est la vie.
Hier nun eine Erzählung, die ich zu den ›friedlichen‹, sanften zähle. Davon gibt es nicht viele. Eine gedruckte Fassung dieser Erzählung fand ich nicht. Das kann ein Indiz dafür sein, dass sie erfunden wurde. – Wir verdanken diese Geschichte Stalins Tochter Swetlana Allilujewa (1926-2011). Sie fragte den Vater eines schönen Tages nach seinem Philosophieverständnis in einem wesentlichen Punkt: dem Begriff der Materie. Swetlana studierte Geschichte an der Moskauer Universität. Als im Philosophieseminar Lenins Buch Materialismus und Empiriokritizismus (1909) behandelt werden sollte, wurde sie von ihren Kommilitonen gefragt, wie sie denn mit dem Buch klarkäme. »Gar nicht!«, war ihre Antwort. Sie hatte auch gehört, Lenin sei mit dem eigenen Buch nicht klargekommen. Nicht zuletzt deshalb, weil er dem Hegel eine zu geringe Beachtung geschenkt habe. Vom Vater hatte sie das ungute Wort aufgeschnappt, das Buch von Iljitsch sei nichts als ein »Sturm im Wasserglas«, man solle es nicht überbewerten.
Wie auch immer! Sweta (die Koseform ihres Namens) beschloss, der Bitte ihrer Freunde nachzukommen und den Vater um eine plausible Erklärung des Materiebegriffs zu bitten. Das tat er, kurz und knapp, wie es seine Art war. Es wurde eine Lektion in praktischer Philosophie.
Im Wohnzimmer seines großen Hauses in Kunzewo (bei Moskau) öffnete er die beiden Flügel des Fensters und gab damit den Blick frei auf den herrlichen Garten, um dann die philosophische Frage an seine Tochter zu richten: »Was siehst du? Schau gut hin und erzähle es mir.« Die Tochter rieb sich die Augen. Sie war lange nicht hier und sagte: »Es grünt so grün in Deinem bunten Wundergarten«, und zählte beflissen alle Schönheiten auf, die sie sah – die Birken und die Linden, die Fichten und die Tannen, die Rosen und die Sonnenblumen… Nach einer Zeit unterbrach er sie, sie habe genug angeschaut, und erklärte seine philosophische Konsequenz: Dieser Garten sei die Antwort auf ihre Frage. Dies alles und noch mehr sei die unabhängig und außerhalb vom Bewusstsein existierende objektive Realität, die Materie, die sie mit allen ihren Sinnen wahrgenommen hat. Nun solle sie in ihr Seminar gehen und ihre gewonnenen Erkenntnisse weitergeben.
En passant: Wäre Karl Marx im Zimmer gewesen, so hätte er sagen können, dass der Alte eigentlich eine gute Illustration dessen gegeben hat, was er selbst in seinen Feuerbach-Thesen den »Hauptmangel alles bisherigen Materialismus« genannt habe, den Gegenstand nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung zu fassen – nicht als menschliche Tätigkeit. Diese »tätige Seite« aber habe eben der Idealismus entwickelt, dem wir in diesem Punkt zu folgen hätten (und den wir gerade nicht als ›zu überwinden‹ zu begreifen hätten).
Zum Abschied bedankte sich die Tochter artig für die plausiblen Erklärungen des Vaters und trat ab mit der Frage, wo eigentlich der Gärtner sei, der alle diese Schönheiten hegt und pflegt, der den Garten gestaltet, wie es die Jahreszeiten erfordern. Der Gärtner sei doch seine gute Seele, also die ganz und gar unverzichtbare »tätige Seite«. Bei diesem Stand der Dinge endet nicht zufällig auch Swetas Erzählung. Der alte Materialismus blieb wie immer präsent. – Otnositelno!