2. Die Verbindung von Sittlichkeit und Wohlleben
In seiner »Anthropologie in pragmatischer Absicht« von 1798, und zwar in § 88, spricht Kant über die Verbindung von Sinnlichkeit und Vernunft in der Form eines »höchsten moralisch-physischen Guts«. Die Ausgangsüberlegung ist, daß es sich bei der Verbindbarkeit nicht um eine »Vermischung« handeln dürfe, die die Reinheit der Prinzipien gefährde und damit sowohl die Sittlichkeit als auch das Wohlleben bedrohten, ja, vernichteten. Es ist die Spannung und der Konflikt der zwei Prinzipien, der die Humanität des sozialen Umgangs ausmacht. Durch den Ausschluß der »Vermischung« entsteht erneut auch an dieser Stelle das Problem des Übergangs aus einer Prinzipiensphäre in die andere. In der Ausgestaltung dieser nicht-nivellierenden Vereinigung von Wohlleben und Tugend tritt neben den Willen zur Einheit der Vernunft durchaus auch eine Lust an der Vielheit der Genüsse. Wie aber ist dieser Übergang von Sinnlichkeit und Sittlichkeit in dem »höchsten moralisch-physischen Gut« zu denken?
Wir wissen, wie die Philosophie des 20. Jahrhunderts mit dem Problem umgegangen ist, nämlich unter der Form einer Philosophie der Leiblichkeit und des Chiasmus von Körperlichem und Seelischem.[ 1 ] Für Kant ist es eher die Frage, wie ein Übergang von den Forderungen des menschlichen Körpers, die in ihrer durch ihre Natürlichkeit unfraglichen Legitimität bestehen, und den Forderungen der Sittlichkeit einer reinen praktischen Vernunft, die in ihrer Rationalität sicher für ein Vernunftwesen, wie es der Mensch nun einmal ist, in ihrer dadurch legitimen Forderung ebenso unnachgiebig ist, wie also ein solcher Übergang als gewährleistet gedacht werden kann. Denn daß ein solcher Übergang möglich sein muß, davon ist Kant überzeugt. Ansonsten ergäbe sich das absurde Bild einer Schöpfungsordnung, in der der Vernünftige qua seiner Vernunft unvermeidlich in sein Unglück läuft. Wir kennen die Scheinlösung der KpV: Weil es keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Glück gibt, müssen wir ein Leben nach dem Tode unterstellen, in dem der Sittliche glücklich sein wird, gewissermaßen ein ins Jenseits verlagerter Stoizismus: die Vernunft macht glücklich, aber nicht hier, sondern anderswo.
Das ist nicht Kants endgültige Antwort, sondern lediglich die Andeutung einer Verlegenheit. Es ist Beatrix Himmelmanns Verdienst, gezeigt zu haben, daß es durch Kants gesamtes Schaffen hindurch eine Philosophie des Glücks gibt, die zwar nicht systematisch ausgeführt ist, aber sozusagen basso continuo immer mitläuft, und zwar vermutlich, weil Kant jener »Lösung« der KpV selbst mißtraut hat.[ 2 ]
Es gibt nun in der Tat, wenn nicht eine Lösung, so doch die Andeutung einer solchen in jenem erwähnten § 88, der damit in den Rang eines Nucleus einer vierten Kritik aufrückt, indem diese den Übergang in den Blick nimmt, den die KdU mit ihren zwei Teilen eben noch nicht geleistet hatte. Um die Bedeutung dieser Stelle zu würdigen, soll im weiteren folgendes getan werden: erstens den Kontext der Stelle ansatzweise herauszuarbeiten, um ihre Wichtigkeit und Bedeutung dieses Paragraphen herauszustellen, zweitens sollen im Kantischen Werk unausgeführte Konsequenzen gezogen werden, die den Gedanken einer verschiedentlich vermißten vierten Kritik anschaulich werden lassen.[ 3 ]
Ad 1): Die Anthropologie Kants ist eine Gestalt der Kultivierung von Weltkenntnis, insofern der Mensch ein für ihn selbst eminent wichtiges Moment dieser Welt ist. Der pragmatische Aspekt rückt den Menschen als handelndes Wesen in den Mittelpunkt, d.h. wie Kant es ausführt, den Menschen als »Weltbürger«. Dieser pragmatische Aspekt aber impliziert, daß dieser Weltbürger 'Mensch' nicht nur Beobachter ist, der die Welt kennt und versteht, sondern Mitspieler im Getriebe der Welt, oder, wie Kant sagt, daß er »Welt hat«. Der erste Teil des Werks behandelt in drei Büchern das Erkenntnisvermögen, das Gefühl von Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen. Das Begehrungsvermögen schließlich ist die »Selbstbestimmung« der »Kraft« eines Subjekts[ 4 ] durch die Vorstellung von etwas Zukünftigem. Auf die verschiedenen Modalitäten desselben braucht an dieser Stelle nicht weiter eingegangen zu werden. In § 87[ 5 ] kommt Kant dann dazu, seine Vorstellung vom Glück (»vom höchsten physischen Gut«) zu präzisieren. Es ist ein Begriff von Ruhe, aber nicht als unterschiedslose, monotone und permanente Ruhe, denn diese nennt er »Faulheit«. Dagegen ist der »größte Sinnengenuß« (=Glück) die Ruhe nach der Arbeit, also die Skandierung des Prozesses werktätiger Weltzuwendung. Der Wechsel von Ruhe und Arbeit macht das Glück aus; wegen des Prozeßcharakters jedes der Elemente tut sich natürlich die Frage nach dem Quantum auf: wie lange darf man ruhen und wie lange muß man arbeiten. Dafür hat Kant keine Standardantwort bereit. Das dolce far niente ist als solches noch keine Faulheit, auch wenn es eine etwas längere »Weigerung wiederum an seine Geschäfte zu gehen« darstellen sollte. Denn einerseits ist solche Muße[ 6 ] (im Unterschied zur bloßen Freizeit, so muß man heute sagen) nicht Untätigkeit, sondern kann durchaus eine sinnvolle Betätigung beinhalten, andererseits ist eine Zögerlichkeit, »an eine schwere unvollendet gelassene Arbeit wieder zu gehen« verständlich und erfordert zur Überwindung, wie wir alle wissen, eine Willensanstrengung, die sich nicht allein aus dem Streben nach jenem Glück des Wechsels von Arbeit und Ruhe (bzw. Spiel) herleiten läßt. Hinter jenem Glücksstreben des Menschen kann der Philosoph durchaus eine Naturabsicht entdecken; dieses Streben in seinen Hauptformen der Liebe zum Leben und der Liebe zum Geschlecht sind Surrogate einer Weltvernunft, die das »physische Weltbeste« besorgt, nämlich als Selbsterhaltung und als Erhaltung der Gattung. Letztere wirkt trotz der »absichtlich an ihrer eigenen Zerstörung (durch Kriege)« arbeitenden Menschheit. Die Geschlechtsliebe ist folglich ein ermutigendes Zeichen eines besseren Menschheitszustandes. In diesem Gedanken einer jenseits des individuellen Glückstrebens wirkenden Vernunft, nämlich des »Weltregierers«, vergleichbar Adam Smiths »unsichtbarer Hand« oder Hegels »List der Vernunft«, ist bereits angedeutet, was der folgende § konkretisiert: die Verbindung des höchsten physischen Guts mit dem höchsten moralischen Gut.
Ad 2): Im § 88 wird nun das Bild dessen ausgemalt, was dieses »höchste moralisch-physische Gut« sein könnte, als eine Situation, in der sich eine gute Mahlzeit mit einem geselligen Vergnügen verbindet. In solchen Situationen werden gepflegte Gespräche geführt, und Kant gibt auch allerlei Ratschläge, wie man dafür sorgen kann, daß sich Tugend und Wohlleben zwanglos verbinden. Drei Dinge sind zu verbannen: Musik, Tanz und Spiel, womit Kant durchaus auf der Linie dessen liegt, was bereits Platon im Symposion vorsieht. Dort werden die Flötenspielerinnen und Spaßmacher ausgesperrt und erst der trunkene Alkibiades läßt die Flötenspielerinnen wieder zu. Zwischen Platon und Kant gibt es aber auch einen gravierenden Unterschied. Agathons Gäste ergehen sich nach dem Essen darin, den Eros zu loben, was ein würdiger Gesprächsgegenstand sei. Das geht so lange gut, bis der zum Essen zu spät kommende Sokrates auftaucht. In dem bisher zwanglosen, rhetorisch kultivierten Gespräch stellt er die Wahrheitsfrage und behauptet, er könne nur das wahrhaft Lobenswerte loben. Die Gäste des Agathon können die Wahrheitsobsession dieses Spielverderbers immerhin noch geschickt auffangen, indem sie auch dem, der das wahrhaft Lobenswerte des Eros lobt, bescheinigen, das habe er aber schön gesagt. So weit läßt es Kant gar nicht erst kommen. In seiner Tischgesellschaft[ 7 ] sind Wahrheitsfanatiker gar nicht vorgesehen. Mäßigung durch Vielfalt statt Zentrierung auf die Einheit der Wahrheit ist das Organisationsprinzip der Tischgesellschaft. In ihr ist das Essen sozusagen die materielle Basis dafür, daß die Tischgenossen »einander selbst zu genießen die Absicht haben«. Der sinnliche Genuß einer guten Mahlzeit ist das gedeihliche Ambiente für eine gelingende Konversation, die auf diese Weise zu einer säkularen Kommunion wird: »einander selbst zu genießen«. Neben ablenkenden Zerstreuungen und dem Wahrheitsfanatismus, der am Schreibtisch des Philosophen sehr wohl seinen Platz hat, gibt es die andere Grenze einer gelingenden Synthese von Sittlichkeit und Wohlleben: »Gelag und Abfütterung« nennt Kant es. Mit anderen Worten: Der heute grassierende Hedonismus bloßer individueller Genüsse des Essens und Trinkens wäre auch nicht das erstrebte »höchste moralisch-physische Gut« im Sinne Kants. Von Kants Tischgenosse Hippel[ 8 ] wurde seinerzeit angemahnt, Kant solle doch einmal die Kritik der kulinarischen Vernunft schreiben. So sehr das ein wohlfeil zitierbares Bonmot zu sein scheint, so sehr ist ihm doch ein ernstes Anliegen Kants zueigen. In dem zitierten § 88 gibt Kant ja doch nur an, wo und wie eine solche Verbindung von Sittlichkeit und Wohlleben zu organisieren sei. Ausgeführt im Sinne einer Philosophie, die den Übergang wirklich problematisiert ist das noch nicht. Insofern ist bei Kant eine »Kritik der kulinarischen Vernunft« zwar als möglich angedeutet und die Art und Ausrichtung einer Ausführung skizziert, aber mehr auch nicht.[ 9 ] Wenn es eine solche vierte Kritik bei Kant gäbe, dann hätte sie im Bereich der praktischen Philosophie eine ähnliche Vermittlungsaufgabe wie das Schematismus-Kapitel im Bereich der theoretischen Philosophie. Sie wäre keine »Ethik des Essens«[ 10 ] und auch keine reine Ästhetik des Essens, sondern eine Thematisierung des Übergangs zwischen beiden. Eine solche Kritik wäre eine Philosophie für »Weltbürger«, weil sie nach der Zuträglichkeit sowohl von Sinnlichkeit wie von Sittlichkeit für ein in der Welt als handelndes Wesen vorgestellten Menschen fragte. Kultivieren läßt sich dieser Übergang nicht durch Verzicht auf Differenzen, sondern im Gegenteil: Kultur wäre eine Pflege der Differenzierungen und der Vielfalten.[ 11 ] Insofern erbrächte eine solche vierte Kritik auch wesentliche Beiträge zu einer Kulturphilosophie. Insofern läuft Kants Philosophie eines moralisch und physisch erfüllten Lebens nicht auf eine unendliche Steigerung der Genüsse hinaus, sondern auf eine Pflege der Skandierung zwischen sinnlichem Genuß und sittlicher Tat, d.h. z. B. auf ein Fest einer gelungenen Mahlzeit , nachdem zuvor entbehrungsreich gearbeitet wurde. So stößt die mögliche Kritik der kulinarischen Vernunft allenthalben auf die soziale Komponente, ein gutes Leben ist nur gemeinsam möglich, weshalb ja Kant auch den »Solipsismus convictorii«, das einsame Speisen von Philosophen verdammt. Äße er allein, würde der Philosoph weiter von seinen Gedanken gequält und das Essen hörte auf, ein Genuß zu sein, und wäre nur Arbeit unter leicht veränderten Bedingungen, und das sei sogar ungesund, sagt Kant.
Die vierte, den Übergang zwischen Sinnlichkeit und Sittlichkeit stiftende Kritik spricht im Plural von den »Gesetzen der verfeinerten Menschheit« statt von dem einen Sittengesetz. Das relativiert die »Kritik der praktischen Vernunft«; denn: »Der Purism ... ohne gesellschaftliches Wohlleben« ist eine verzerrte Gestalt von Tugend.[ 12 ] Sie ist nicht einladend und daher auch der Aspekt der Geselligkeit der ernsthaften Ethik sehr wohl zu empfehlen. Oder um es zeitgemäßer auszudrücken: Die Sozialphilosophie bildet den Rahmen für eine Ethik und nicht umgekehrt. Humanität ist eben mehr als bloß dem Sittengesetz zu folgen. Die übergängige vierte Kritik wäre dann aber nicht die das kritische Unternehmen abschließende und überhöhende Kritik, nach der keine weitere Kritik mehr möglich wäre,[ 13 ] sondern sie fügte sich selbst ein in die Reihe der Metakritiken, die das Übergangsproblem als ein stets offenes Problem behandelte, das einer kontinuierlichen Kultivierung bedarf.
[ 1 ] Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. München. 1986, 274f.
[ 2 ] Himmelmann, Beatrix: Kants Begriff des Glücks. Berlin, New York. 2003.
[ 3 ] Zur vierten Kritik s. auch, wenngleich in einem ganz anderen Verständnis Brandt, Reinhard: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007, vgl. auch ders.: Kritischer Kommentar zu Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Hamburg. 1999.
[ 5 ] Anth, AA 07, 276.
[ 4 ] AA 08, 251.
[ 6 ] S. Schürmann, Volker: Muße. Bielefeld. 2001; Röttgers, Kurt: »Muße«. In: Sinn von Arbeit, hrsg. v. Jäger, Wieland u. Röttgers, Kurt. Wiesbaden. 2007, 161-182.
[ 7 ] S. dazu Därmann, Iris: »Kants Kritik der Tischgesellschaft und sein Konzept der Hospitalität«. In: Denkwege des Friedens, hrsg. v. Delhom, Pascal u. Hirsch, Alfred. Freiburg, München. 2007, 364-386, sowie dies.: "Die Tischgesellschaft«. In: Die Tischgesellschaft, hrsg. v. Därmann, Iris u. Lemke, Harald. Bielefeld. 2008, 15-41.
[ 8 ] Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen, hrsg. v. Groß, Felix. Berlin. 1912, 55; wörtlich heißt es dort allerdings: »Kritik der Kochkunst«: ich weiche von diesem Terminus ab, weil nicht das Kochen das Entscheidende ist, sondern das gemeinsame Genießen in einer Tischgesellschaft.
[ 9 ] Den spielerischen Versuch einer solchen versucht Röttgers, Kurt: Kritik der kulinarischen Vernunft. Bielefeld. 2009.
[ 10 ] Lemke, Harald: Ethik des Essens. Berlin. 2007.
[ 11 ] Jene Kultur der »Bürgerlichkeit«, die Joachum Ritter an Hegel herausgearbeitet hat, als eine Kultur, die gelernt hat, mit der »Entzweiung« der modernen Welt zu leben, kennzeichnet auch schon die Philosophie der Weltbürgerlichkeit bei Kant.
[ 12 ] Anth, AA 07, 282.
[ 13 ] Das ist die These von Reinhard Brandt, s.o. Anm. 3.