(63) Kaltenhauer
»Zwei Formen der Regierungsvergottung«: so lautet der Titel eines Aufsatzes, den der oberste Verfassungshüter des Yagir nach dem von ihm begrüßten vorletzten Regierungsantritt der bleichen Chefin veröffentlichte und der ihn wenig später ins Loch der ungesteuerten öffentlichen Verachtung stürzte.
Hier also ein kurzer Auszug:
›Das ändert doch nichts!‹ und ›Das ändert alles!‹ lauten die meistverbreiteten Kommentare zu Gesetzesänderungen, wie sie reichlich hierzulande pro Legislaturperiode beschlossen werden. So harmlos jeder Kommentar für sich daherkommt, so perfide wirkt sich das Zusammenspiel beider aufs Gemeinwesen aus. Wie das? Ganz einfach: ein Teil der Bevölkerung lehnt sich zurück, weil er seine Sehnsucht danach, in einem anderen Land zu leben, unverhofft der Erfüllung näherrücken sieht, während der andere Teil sich aus entgegengesetztem Grund zurücklehnt: ›Es wird nichts so heiß gegessen wie gekocht. Wen kümmern Gesetze?‹ Wer will, kann daraus ableiten, dass die Zahl der Bürger, die ihren Staat, so wie er ist oder sein sollte, zu verteidigen bereit sind, gegen Null geht. Die Überlegung ist richtig, bleibt aber an der Oberfläche. Wer tiefer bohrt, kommt rasch dahin, den staatstragenden Parteien zu unterstellen, sie hätten das Perpetuum mobile der Bürgerbeeinflussung erfunden und machten nun, was sie wollten. Wie steht es in dem Fall um die Verfassungstreue der Parteien? Immerhin sind sie angehalten, den Bürgerwillen zu artikulieren und in die richtigen Bahnen zu lenken. Es fällt auf, dass die Parteien des Machtkartells seit Jahren nur Praktikanten mit Regierungsposten betrauen, die den Parteispitzen regelmäßig berichten müssen, welchen Eindruck sie von den leitenden Beamten bekommen und wie die Arbeitsatmosphäre an der Spitze beschaffen ist. Zum Ausgleich dürfen sie ein paar schneidige Sprüche vor Journalisten äußern, die diese mit den Parteizentralen abgleichen, bevor sie veröffentlicht werden, damit kein Unheil entsteht. Die Sorgfalt ist leicht erklärt. Vor keinem Unheil fürchten die Parteien sich mehr als vor der Aufmerksamkeit der Bürger.
Soweit die Analyse, auf die noch ein paar unnütze Ratschläge folgen, wie dem Übel zu steuern sei. Was der Artikel verschweigt, ist der Geist der allfälligen Gesetzesänderungen, der den Spitzenjuristen offenbar genauso gleichgültig lässt wie die übrigen Bürger. Man kann das verstehen, da auf die Spitze des Yagir, gleichgültig, ob Exekutive oder Judikative, die Masse ebenso grau und gesichtslos wirkt wie jene auf diese. Das Wort von der Spitze des Eisbergs, gern gebraucht von allen, die den Staat in Gefahr sehen, kann sich hier einmal hören lassen. Die Wasserlinie des Yagir trennt, was zusammengehört, aber nicht aufeinander hört. Was nicht weiter schlimm ist: Beide Teile haben sich wenig zu sagen, sie bespitzeln einander nur und träumen vom nächsten Urlaub auf einem Breitengrad ihrer Wahl. Der gute Mann hieß Kaltenhauer, sein Denkmal ist die Geringschätzung durch die Kollegenschaft, deren er sich erfreut wie ein Kind, das man mit einem Lebkuchenhaus alleinlässt.