Dass die Geschichte – bei allen Zweifeln und Skrupeln – etwas abwerfen muss, sei es für die Menschheit, sei es für Nationen und Gemeinschaften aller Art, ist aus dem Denken der Menschen nicht wirklich herauszubringen. Es scheint der Vorstellung von Geschichte inhärent zu sein – und grundiert als bange Frage den Neo-Darwinismus und alle Anstrengungen, hinter das Geheimnis des Kosmos zu gelangen. Wenn der Kosmos stirbt, sterben auch wir: sollten wir – die Menschheit – auch lange vorher ausgestorben sein. Jedenfalls stirbt ein Teil von uns, der sich Hoffnungen machte, gleichgültig welche, sofern sie sich nur an den Bestand der Welt klammern. Aber diesem Sterben folgt die Auferstehung auf dem Fuß. Wer schreibt: Da ist nichts, da wird nichts, der hat jede Generation aufs Neue gegen sich und will es vielleicht auch – es gibt eine Art Bestandsgarantie in Thesenform. Man müsste schon den Begriff der Geschichte aus der Welt verbannen, wollte man solche Effekte dauerhaft zum Verschwinden bringen, und daran ist nicht zu denken. Dabei liegt es nicht am Begriff, der jede nüchterne Fassung erlaubt, sondern am Phantasiepotential, das er entfesselt und das in jeder Generation andere Einblicke liefert.

Vielleicht nicht in allen Dingen. Der Gedanke der Emanzipation ist alt, er hat eine Reihe von Wandlungen durchlaufen, ehe er die Gestalt annahm, die heute die Aufmerksamkeit der Planer und der Hoffenden fesselt. Dass diese Hoffnung nicht stirbt, dass sie unter den gegebenen Umständen gar nicht sterben kann, verdankt sich nicht zuletzt der Historikerzunft, die sich angewöhnt hat, die etwas mehr als zweihundert Jahre, die seit der europäischen Aufklärung vergangen sind, im Großen und Ganzen als Emanzipationsgeschichte zu deuten, wobei die Träger der Emanzipation wechseln: Bürgertum, Arbeiterklasse, Judentum, Kolonisierte, Homosexuelle, Frauen – wem immer diese Klimax seltsam vorkommen mag, der hat die zugrunde liegende Vorstellung nicht begriffen, die sich noch immer, durch alle Modifikationen und Verleugnungen hindurch, von Hegels Dialektik von Herr und Knecht zu Fundamentalaussagen verleiten lässt, die bei näherem Hinsehen einen metahistorischen und vielleicht sogar metatheoretischen Status besitzen. Wie sonst wäre es zu erklären, dass einige Sieger in diesen Geschichten auf dem Feld der Realgeschichte vernichtende Niederlagen erlitten und noch immer erleiden? Warum muss Emanzipation in und von jeder Generation neu erkämpft werden, wenn sie doch zum gesicherten historischen Bestand gehört? Wer kämpft da und was wird erkämpft?

Zweifel und Skrupel: die einen richten sich auf die Zukunft, die anderen auf die Vergangenheit. Ist das Leben der Früheren weniger wert, weil sie weniger emanzipiert waren? Es war vielleicht weniger wert, dafür wirkt es heute umso kostbarer. Das ist eine der Paradoxien der Geschichte. Dass der Wert von Leben je nach geographischem und sozialem Standort variiert, zieht sich als rote Spur durch alle Geschichte durch und klärt sich in gewisser Weise in der Gegenwart. Der Zweifel, in die Zukunft gerichtet, verlängert diese Spur nach Belieben, er tendiert dazu, ihre Bedeutung für die Zukunft eher zu übertreiben, weil er das Versagen der entgegengesetzten Kräfte im Blick hat.

Emanzipation ist kein Tatbestand, es sei denn, man lässt sich vom Wandel der Lebensformen unnötigerweise den Blick vernebeln. Sie mag ein Imperativ sein, aber wer so denkt, muss konstatieren, dass es dann deren zwei sind, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht unter eine Decke passen: ein persönlicher und ein sozialer (um das Wort ›kollektiv‹ an dieser Stelle zu vermeiden). Wer den ökonomischen und machtpolitischen Aufstieg ganzer Weltregionen unter die gleiche Vokabel zwängt, trägt wenig zur Klärung der Begriffe, aber umso mehr zur Aufklärung der ideologischen Prädispositionen bei, unter denen sich dieser Aufstieg vollzieht. – Bei alledem ist Emanzipation ein schöner Traum, in gewisser Weise der Fleisch und Bein gewordene Traum der Vernunft, in dem bekanntlich die Ungeheuer nicht auf sich warten lassen. Spannend wird es dort, wo die Vernunft verworfen wird, auf dass der Traum kein Erwachen finde. Der Technik-Traum, der Lösungen fordert, wo die Natur Grenzen sichtbar werden lässt, hat die Emanzipation bereits hinter sich, er lebt vom Gedanken der Dividende. Es scheint, als gebe es keine Emanzipation ohne Natur: die Frage ist, ob einer sie vor oder hinter sich weiß. In dieser Frage gibt es keinen Kompromiss. Nur das Wissen um die Natur eint die Fraktionen, sie ähneln Gegnern, die sich zu eng umfasst halten, als dass sie für Außenstehende klar unterscheidbar wären. Vielleicht ist Emanzipation, wie sie heute gefasst wird, ein Aspekt der vita moderna, die dazu verdammt ist, ihr Dasein zusammen mit der vita antiqua zu fristen, weil es einzeln für beide weder zum Leben noch zum Sterben reicht. Das lenkt das Denken auf frenetische Begriffe, in denen der Ausschluss derer gefordert wird, mit denen sie – über den immer neu zu konstruierenden Gegensatz – untrennbar zusammenhängen.

März 2013
Die Herausgeber

 

12. Jahrgang 2013 neu : alt

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