Sozialdemokratische Deutschlandpolitik: Die Alternative
Somit rückten aus der besonderen Lage Berlins heraus die menschlichen Aspekte der deutschen Frage in den Mittelpunkt einer politischen Konzeption, während die bislang immer wieder hervorgebrachten juristischen Bedenken eines Nebeneinander zweier deutscher Staaten sekundär wurden. Dem kleinen Berliner Planungsstab ging es nunmehr um konkrete und praktikable Schritte, die Erleichterungen auf beiden Seiten der Mauer bringen sollten. Diese deutschlandpolitische Neuorientierung provozierte Widersprüche, auch von der eigenen Seite her, da sie ohne Rücksicht auf eine Beteiligung der Bevölkerung bzw. der sozialdemokratischen Parteiorganisationen im kleinen Beraterkreis Brandts entwickelt worden war. Dennoch wuchs hieraus die sozialdemokratische Deutschlandpolitik als eine klare Alternative zur deutschlandpolitischen Passivität der Bundesregierung.
Schon auf dem Kölner Parteitag im Mai 1962 hatte Willy Brandt gefordert, »ein Minimum an Durchlässigkeit der Mauer zu erreichen« – die Partei war ihm mit einer Entschließung gefolgt, in der bekundet wurde, »daß alle Anstrengungen gemacht werden (sollten), um wenigstens die unmenschlichen Auswirkungen der Mauer zu überwinden und einen geregelten Personenverkehr innerhalb der widernatürlich geteilten Staaten wiederherzustellen«.
Diese keineswegs mit konkreten Maßnahmen verbundenen Forderungen wurden erstmalig mit dem »für die Entwicklung der neuen Deutschlandpolitik gewiß bahnbrechende(n) erste(n) Passierscheinabkommen« (Prowe 1976, S.279) in die Praxis umgesetzt. Mit einem Trick konnte Willy Brandt dem Osten gewissermaßen Zugeständnisse in deren »Dreistaatentheorie« machen, indem er als westlichen Verhandlungspartner einen politischen Beauftragten aufbot. Indem er sich allerdings demonstrativ in seinen Entscheidungen von der Bundesregierung abhängig machte, bewies er, daß er dennoch weiterhin zu dem Nicht-Anerkennungs-Prinzip stand.
Durch die außerordentliche Geschwindigkeit, mit der die Verhandlungen vom 13. – 17. Dezember 1963 geführt wurden, geriet die Bundesregierung jedoch unter enormen Zeitdruck. Die Kritiker im Regierungslager waren geteilter Meinung über das erzielte Passierscheinabkommen. Die Regierung hätte es aber wohl kaum unterbinden können, ohne sich, wie die Praxis der Regelung zwischen dem 18. Dezember 1963 und dem 5. Januar 1964 zeigte, dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, daß sie menschliche Erleichterungen im geteilten Berlin zu verhindern suchte.
Dieser erste Erfolg der »Politik der kleinen Schritte« stellte unter Beweis, daß die Berliner SPD nun auch in der Anwendung neuer deutschlandpolitischer Ansätze die Initiative übernommen hatte.
Fritz Erler lobte das Passierscheinabkommen im Deutschen Bundestag, weil in Berlin sichtbar geworden sei, »daß diese Stadt eine Stadt ist und daß die Deutschen ein Volk sind und ein Volk bleiben wollen.« Die Besuche der Westberliner »durch Stacheldraht und Gefängnistore hindurch, mit der Auflage, abends wieder zurücksein zu müssen«, habe »für viele den schrecklichen Charakter der Mauer, den sie nicht so ganz einsehen wollten, deutlicher als vorher hervortreten lassen.« Zusätzlich sah er in der Praxis des Abkommens auch »eine Ermutigung für unsere Landsleute.« Zu der neuen »Politik der kleinen Schritte« bekannte er sich, ohne diese beim Namen zu nennen: »Wir wissen, daß wir durchaus miteinander und mit der Bundesregierung bereit sind abzutasten, was geschehen kann, um unseren Landsleuten in Ost-Berlin und in der Zone ein Höchstmaß an Erleichterungen zu verschaffen.«
Die außenpolitische Gemeinsamkeit mit der Bundesregierung und allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien wurde aber dennoch fortgesetzt.