Renate Solbach: Zeichen

Und da waren manche, die dachten, dass ein mäßiges Leben, wobei man sich vor aller Üppigkeit hüte, die Widerstandskraft erheblich fördere; sie vereinigten sich zu Gesellschaften und lebten sonst von allen abgesondert.
Boccaccio, Dekameron

Ob Covid-19 heute oder die Pest in früheren Jahrhunderten, manche gesellschaftlichen Verhaltensweisen in Zeiten von Seuchen ähneln sich offenbar. Bei vergangenen Epidemien gehörte vor allem die Isolation zum Maßnahmenkatalog gegen eine weitergehende Ansteckung. In der Neuzeit wurden insbesondere Quarantäne und Lazarette zur Unterbrechung von Infektionsketten genutzt. Auf die jüngste Pockenepidemie in Europa, als sich 1972 rund 200 Personen im Kosovo infizierten, reagierte der jugoslawische Staat unter anderem mit Straßensperren, Absperrung der betroffenen Orte und einem Verbot öffentlicher Versammlung. Von der angeordneten Quarantäne waren ungefähr 20 000 Menschen betroffen. (Vučković 2018) Auch aktuell werden in zahlreichen Ländern Maßnahmen zur Reduktion bzw. zur kontrollierbaren Gestaltung der Sozialkontakte umgesetzt.

Im Mittelalter flohen wohlhabende Bürger, während die Pest in ihrer Stadt grassierte, aufs Land. So auch in der Rahmenhandlung des betrachteten Romans: Während in der italienischen Stadt Florenz die Pest wütet, begibt sich eine Gruppe von sieben jungen Damen und drei jungen Herren auf das Land, wo sie sich der trostspendenden Ruhe hingeben können und sich die Zeit mit dem Erzählen von Geschichten vertreiben. (Boccaccio 1997: 9-13) Sie hoffen, so Zeit zu gewinnen, um das Abflauen der Epidemie in Sicherheit abzuwarten und verbringen gemeinsam 14 Tage (ebd. 19-20). Die jungen Leute debattieren, wie sie diese Zeit sinnvoll und standesgemäß nutzen wollen (ebd. 32/53), einigen sich auf das Geschichtenerzählen und verabreden zeitliche Abläufe. Die temporäre Erzählgemeinschaft legt sich neue, vorübergehende Gewohnheiten zurecht, um das, was sie in der Phase der sozialen Distanzierung erleben, in Form von Alltagspraktiken strukturierbar zu machen.

Giovanni Boccaccios Dekameron aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert, das heute als Meisterwerk der italienischen Literatur gilt, hat im Frühjahr 2020 eine ganz neue Aktualität bekommen. Der Autor des Romans hat die Pest, die 1348 Florenz dezimierte, persönlich erlebt. Die Anknüpfungspunkte zwischen den Schilderungen der damaligen Veränderungen des sozialen Lebens und den aktuellen Situationen im Zeichen von Covid-19 sind zum Teil verblüffend. Dieser Beitrag betrachtet, inwiefern sich Boccaccios Novellensammlung in Zeiten der sozialen Isolation als Mittel gegen Vereinzelung und Haltlosigkeit verstehen lässt. (Söhner 2020)

Ausgangspunkt des Romans ist die Katastrophe, die alle Menschen gleichermaßen betrifft. Der Erzähler entschuldigt sich zu Beginn, dass er nun zunächst sehr Grausames zu berichten habe, verspricht jedoch gleichzeitig, dass darauf »Frohsinn und Freude« (Boccaccio 1998: 13f.) folgen würden. Auf wenigen Seiten werden die Auswirkungen der Pest in Florenz und die Auflösung der öffentlichen Ordnung sehr detailgetreu geschildert, was dem Zustand einer völligen Sittenlosigkeit und Anarchie nahekommt. Der Leser erfährt nicht nur, wie die Betroffenen auf die Epidemie reagieren, welche Gegenmaßnahmen sie ergreifen und welche Ursachen sie für die Krise verantwortlich machen; das gezeichnete Bild differenziert auch zwischen jenen, die die Flucht ergreifen, denen, die leben, als würde es kein Morgen geben und denjenigen, die sich isolieren und ihre sozialen Kontakte stark beschränken. Selbst soziale Bande lösen sich auf, Eltern lassen ihre erkrankten Kinder zurück, Verheiratete ihre Ehepartner. Die Epidemie wird nicht nur als Naturkatastrophe beschrieben, sondern auch als soziale Katastrophe, die die sozialen Gemeinschaften bis in ihre intimsten Beziehungen hinein betrifft. (Boccaccio 1997: 18f.) In diesem Zustand völliger Auflösung (Pfeiffer 2001: 94) treffen die jungen Leute, die durch Liebe, Verwandtschaft, Freundschaft oder Nachbarschaft miteinander verbunden sind, aufeinander und entscheiden auf den Vorschlag der jungen Frau Pampinea hin, sich auf ein Landgut zurückzuziehen. Von Anfang an steht die Frage des sozialen Miteinanders im Raum. Im folgenden Geschehen bleiben die soziale Ordnung und die Vernunft durchweg die Richtschnur. In diesem Sinne lässt Boccaccio die Initiatorin Pampinea sprechen: »Dem schamlosen Treiben der Übrigen und dem Tode ausweichend, (...) können wir uns dort allen mögliche Zerstreuungen, Freuden und Vergnügungen hingeben... ohne die Grenzen der Vernunft auch nur ein einziges Mal zu überschneiden.« (Boccaccio 1997: 29f.) Der Verfasser wendet sich gegen jede Form eines maßlosen Hedonismus und ermahnt den Leser, auch in schweren Zeiten, die soziale Ordnung zu erhalten.

Der Rückzug auf das Land bedeutet gleichzeitig den Ausstieg aus einer völlig demontierten Sozialität in Florenz: An die Stelle der Anarchie tritt ein sozial regulierter Alltag. Die Figuren einigen sich auf den Aufbau eines gesellschaftlichen Mikrokosmos im kleinen Rahmen. Zwar schaffen sie keine neuen gesellschaftlichen Institutionen, doch regeln sie ihren Alltag über gemeinsame Vereinbarungen und gestalten diesen mit Musik und Erzählungen. Die Gruppe formt in ihren Gedanken eine Welt, die einen starken Kontrapunkt bildet zur bedrohlichen Situation, die außerhalb des Zufluchtsortes existiert. Die zehn jungen Leute ordnen ihr Leben und planen im Detail die täglichen Abläufe. Um von der Allgegenwart von Leid und Tod abzulenken und nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu entfliehen, erzählt sich die Runde jeweils zehn Geschichten, teils mit ernstem, lehrhaftem und besinnlichem, teils mit humorvollem, frivolem und erotischem Inhalt. Der Ablauf des Erzählens ist in hohem Maße ritualisiert: So versammelt sich die Gemeinschaft immer zur selben Zeit und jeden Tag wird zuvor durch eine täglich neu ernannte Königin oder einen König ein Thema vorgegeben.

Neben den Figuren der Rahmenhandlung treten im Dekameron auch die Figuren der einzelnen Novellen in Erscheinung. Die Erzählungen handeln von sozialen und moralischen Dilemmata ihrer Zeit und stellen gesellschaftliche Ordnungen in Frage. Insbesondere die gesellschaftlichen Verhaltensnormen, die durch das Auftreten der Epidemie fast gänzlich an Gültigkeit verloren haben, werden thematisiert. In den einzelnen Geschichten ordnen die Erzählenden nicht nur das Gesagte und teilen es mit den anderen, sondern lenken die Aufmerksamkeit auch auf existentielle Themen und positionieren sich damit gegenüber den Prozessen, die sich in der von der Epidemie beeinflussten Welt abspielen. Im Zentrum aller Geschichten steht das Menschsein. Die Rezipienten – Zuhörer (auf dem Landsitz) und Leser (des Romans) – können sich über das Eintauchen in die erzählte Welt und mit den tragischen bis komischen Akteuren bis zu einem gewissen Grad identifizieren.

Die Gestaltung des Alltags durch Muße, Zerstreuung und Erzählen lässt sich nach Klinkert als Ausdruck eines »anthropologischen Programms der Stressbewältigung« (Klinkert 2016: 198) verstehen. Im Dekameron steht das Erzählen im Spannungsverhältnis von mußevollem Rückzug und bedrohlicher Realität. Das Geschichtenerzählen selbst steht nicht für das Vergnügen einzelner elitärer Akteure, sondern als Ausdruck des sozialen Miteinanders. Das Erzählen von Geschichten ermöglicht lustvolles Eintauchen in andere Welten, aber auch selbstreflexives Rezipieren von Verhaltensmustern und regt zur Auseinandersetzung mit dem Eigenem und dem Anderen an. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt stärken Geschichten die Identität der Zuhörer; sie wirken sowohl ordnungs- als auch sinnstiftend. Der Raum des Rückzugs eröffnet die Möglichkeit der gedanklichen Freiheit.

Dabei scheint es beim Erzählen von Geschichten von zentraler Bedeutung zu sein, dass neben der Kraft der Geschichten auch die Kraft der zwischenmenschlichen Beziehung steht. Letztere, beinahe archetypische Situation kann ein Kraftreservoir bieten, das die weitere Entwicklung der Zuhörenden positiv beeinflussen kann. Hier zeigt sich das krisenbewältigende Potential, das das Dekameron vorführt: die Intention, das Erzählen und die damit verbundene Freude als Antidot gegen die psychologische wie soziologische Krise durch Isolation zu verstehen.

Vor diesem Hintergrund stellt die Novellensammlung eines der ältesten und berühmtesten Beispiele der Kompensation von sozialer Distanzierung dar. (Wigand M et al. 2018) Doch feiert der Roman keineswegs einen Eskapismus oder den Genuss angesichts der Katastrophe, vielmehr entwirft er über die sinnesfreudigen Geschichten einen eigenen Lebenssinn. Die Helden seiner Geschichten sind stets gestaltende Akteure, die Initiative ergreifen und Scharfsinn, Empathie und Vorstellungsgabe beweisen, um ihre Ziele zu erreichen. Über die Narration und den gegenseitigen Austausch wirken die Einzelnen auf die anderen in der Gruppe und wieder auf sich selbst zurück. Damit steht als Boccaccios Ideal nicht die Selbsterfindung, sondern die Selbstveredelung eines Menschen, der in der vorgefundenen Situation möglichst gut lebt.

Der Autor behandelt Aspekte, die in der aktuellen Situation wieder neu von Bedeutung sind. Im Dekameron steht das Erzählen als menschliche Reaktion und Gegenentwurf zum bedrohlichen Alltag. Boccaccio verweist auf das Potential des Erzählens und der damit verbundenen Freude als ein Antidot gegen eine individuelle wie gesellschaftliche Krise durch Isolation. Genau dies macht das Dekameron für das postmoderne Publikum so spannend.

Literatur

BERGDOLT K (2006) Die Pest: Geschichte des Schwarzen Todes, München 2006
BOCCACCIO G (1997) Decameron. A cura di V., Torino 1997
BOCCACCIO (1999) Das Dekameron, Darmstadt 1999
KLINKERT T (2016) Muße und Erzählen: ein poetologischer Zusammenhang, Tübingen 2016
PFEIFFER J (2001) Boccaccio als Erzieher. Die Sozialisierung der Jugend durch Geschichteerzählen im Dekameron, in: Bogdal K-M, Gutjahr O, Pfeiffer J (Hg.) Jugend. Psychologie – Literatur – Geschichte. Würzburg 2001: 91 – 105.
SÖHNER F (2020) Umgang mit Identitätskonstruktion und Zeitwahrnehmung in der Oral History, in: SCHILLING E, O’Neill M (Hg.) Einführung in die interdisziplinäre Zeitforschung, Berlin 2020
VUČKOVIĆ B (2018) Epidemija variole vere u Jugoslaviji 1972: između vlasti i javnosti, Univerzitet u Beogradu, Filozofski fakultet, Odeljenje za istoriju.
WIGAND M, Söhner F, Jäger M, Becker T, Wiegand H (2018) Die Dämmerung der Neuzeit: Giovanni Boccaccios »Das Dekameron« und die Tradition des genetischen Verstehens, in: Fortschr Neur Psychiatr 86(06): 335-341.

 

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