Im Jahr 1949 erschien der damals heftig umstrittene Roman La pelle (›Die Haut‹) des italienischen Schriftstellers Curzio Malaparte. Hauptthema war die Befreiung Italiens von den deutschen Truppen durch die Amerikaner am Ende des Zweiten Weltkriegs. Vor dem Hintergrund des Krieges mit der Schilderung seiner Grausamkeiten wurden aber – wie kurz aufleuchtende Sternschnuppen – das »ideale Europa Descartes« und der »›Alte Kontinent‹ Goethes« erwähnt (Malaparte, S. 40). Aus den Zerstörungen durch die Deutschen ragte doch noch die unbeschädigte Gestalt ihres größten Dichters heraus. Es war dieses Renommee Goethes im Ausland, und noch gesteigert im Inland, das ihn im Chaos der Nachkriegszeit als einen moralischen Rettungsanker erscheinen ließ.
Wie nahezu alle Themen über Goethe so ist auch die Betrachtung seiner großen Bedeutung, ja des Goethekults in der Nachkriegszeit nicht eben neu. Aber im Abstand von nun 75 Jahren seit Kriegsende und in einer Zeit zunehmender Marginalisierung Goethes im öffentlichen Bewusstsein lohnt es sich vielleicht doch, zurückzublicken. Das große Schweigen über die NS-Zeit erklärten die Mitscherlichs mit der Theorie der allgemeinen Verdrängung, Hermann Lübbe sah später darin ein absichtsvolles Schweigen. Auch die weit verbreitete Erinnerungskultur hat sich des Themas bemächtigt und inzwischen ist zudem eine Diskussion um die ›Deutungsmacht‹ über diese Zeit entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich angebracht, das Phänomen ›Goethe‹, das in der kurzen Zeitspanne zwischen Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten, BRD bzw. DDR, für das jeweilige Selbstverständnis in unterschiedlicher Weise wichtig wurde, in größerer Breite zu beschreiben. Dabei wird die Goethe-Rezeption in verschiedenen, typischen Funktionen vorgestellt: Den großen, rhetorisch aufgeladenen Reden über ihn, die die zeitgenössischen Wunschvorstellungen am besten beleuchten, ebenso aber in den Sachtexten, die seine Bedeutung als moralische Bezugsgröße verdeutlichen; des weiteren in der Rezeption einzelner Werke oder Teilen daraus als besondere Form privater Hilfe oder als Trostspender für die Bewältigung des schwierigen Lebens sowie an der Herstellung von Drucken in unerwartet buchkünstlerischer Gestaltung, wie bei dem damals besonders geschätzten Faust. All diese Facetten vervollständigen erst das Bild Goethes in der Nachkriegszeit.
Es gibt natürlich mehrere Arbeiten zu einzelnen dieser Fragen wie etwa den Reden zu Goethes Ehren, genannt sei der ältere, aber sehr dichte, diskursgeschichtliche Beitrag von Maximilian Nutz über die westdeutsche Goethe-Rezeption von 1945-1949 aus dem Jahr 1983. Ein wichtiges Hilfsmittel sind auch die Bände von Karl Robert Mandelkow, Goethe im Urteil seiner Zeit sowie Goethe im Urteil seiner Kritiker. Mandelkow konnte wegen der ungeheuren Materialfülle nur die ihm wichtig erscheinenden Texte auswählen, die er oft kürzte. Die vollständigen Reden erschienen ursprünglich meist als kleine Broschüren im leichten Pappumschlag. Später wurden sie in die entsprechenden Werkausgaben aufgenommen, wie z.B. bei Thomas Mann. Schwieriger ist es mit den Quellen, die Mandelkow nicht berücksichtigte, den Fundstellen in Sachtexten oder den Zeugnissen zur Rezeption oder zur Buchproduktion. Bei ihrer Suche spielte der Zufall eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Von besonderer Bedeutung ist bei den Zeugnissen aus dieser Zeit auch deren Materialität. Die Quellen, seien es die Reden oder andere Texte, sind inzwischen wegen des schlechten Holzschliffpapiers, das damals nur zur Verfügung stand, äußerst fragil geworden. Bei der Benutzung im Lesesaal der Bibliothek warnen lange rote Einleger streng ›Vorsicht Papierbruch!‹, denn das inzwischen stark gebräunte Papier ist gefährdeter als die meisten historischen Druckträger. Es kann geschehen, dass selbst bei vorsichtigem Blättern die äußeren Seitenränder einer Broschüre in größere Stücke, die inneren um die rostigen Klammern in feine Brösel zerfallen, sodass fast nur noch der bedruckte Teil übrig bleibt, als halte allein die Druckerschwärze das Papier zusammen. Diese fragilen Drucke sind ein sichtbares Indiz für den immer größer werdenden Abstand zur Nachkriegszeit mit ihrem eigentümlichem Kult um Goethe.
In der Literatur der damals jüngeren Generation, bei Schriftstellern wie Wolfgang Borchert oder Günter Eich, Siegfried Lenz oder Alfred Andersch, die jetzt mit ihren frühen Werken hervortraten, gab es keinen Anklang an Goethe. Sie waren mit den eigenen Schriften und der Verarbeitung der Ereignisse befasst, vermieden alle Bezüge auf die deutsche Klassik. Zu sehr standen sie im Banne ihrer Kriegs- oder Nachkriegserlebnisse mit dem Zusammenbruch nahezu aller menschlichen, moralischen, politischen oder ästhetischen Werte, den Trümmerfeldern in den Städten ebenso wie in den Seelen der Menschen und in ihren eigenen.
Von der älteren Generation versuchten einige Schriftsteller wieder an die Zeit vor dem Dritten Reich und die Klassikrezeption anzuknüpfen, zumal sich das Jahr 1949 mit Goethes zweihundertstem Geburtstag näherte. Die meisten von ihnen hatten noch die großen und repräsentativen Feiern zu Goethes hundertstem Todestag im Jahr 1932 mit ihren vielen Festreden in Erinnerung. Der öffentlich ausgetragene Streit zwischen Frank Thiess und Walter von Molo über die ›Innere Emigration‹ mit dem im kalifornischen Exil lebenden Thomas Mann, dem Nobelpreisträger und angesehensten deutschen Schriftsteller der Zeit, im Jahre 1946 wirkte hierbei jedoch einigermaßen gespenstisch. Diese Vorgänge sind weitgehend bekannt und sollen hier nur kurz gestreift werden. So schrieb Thiess an Mann:
Thomas Mann aber, von den Nazis verfolgt und ausgebürgert, lehnte höflich und deutlich ab:
Mit dem ›Goethe-Roman‹ war natürlich Lotte in Weimar gemeint, 1939 bei Bermann Fischer in Stockholm erschienen, wegen des Krieges und der Lizenzierungspolitik der Alliierten aber den meisten deutschen Lesern erst 1947 zugänglich, als er bei Suhrkamp in Berlin herauskam.
Der Absage Thomas Manns konnte Frank Thiess nur mit dem Rückgriff auf einen größeren und bedeutenderen Dichter begegnen, der schon wegen seines Ansehens außerhalb jeder Kritik stand, nämlich Goethe. So schrieb er:
Die ›Weltgeltung‹ Goethes sollte zu neuem Ansehen verhelfen, während sich ›Schuld und Leid‹ durch die Geschichte relativieren ließen. Dieser vergiftete Schwenk von Thomas Mann zu Goethe, von dem ›problematischen‹ Gegenwartsautor zum ›zeitlosen‹ Klassiker, war für die Orientierungssuche der Nachkriegsepoche charakteristisch. Die Berufung auf die große Gestalt Goethes als eines neuen ›Führers‹, der ›deutsche Weltgeltung‹ garantierte, macht bereits die Ersatzfunktion für den anderen, untergegangenen Führer deutlich.
In der desolaten Nachkriegssituation war es nicht nur Goethes literarische Größe und seine wichtige Position im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, die die nationale Schande des Kriegsendes verdecken sollten, es war vielmehr auch sein internationales Ansehen, das zum Gegenstand des nationalen Stolzes instrumentalisiert wurde. ›Goethe‹ wurde auf vielen Gebieten zu einem wichtigen Bezugspunkt für die geschlagene und entehrte ›Kulturnation‹. So schrieb z.B. 1946 der Chefredakteur der »Zeit«, Richard Tüngel, »Wir wissen, dass wir zu unserem Ruhm das Volk Goethes, zu unserer Schande das Volk Hitlers sind.« (Hofmann, S. 107) ›Zu unserem Ruhm das Volk Goethes‹ – diese Seite der Medaille wurde immer mehr hervorgekehrt, um die andere umso leichter vergessen zu machen. So ist es heute erstaunlich und verwunderlich – aber auch für diese Zeit charakteristisch – , dass bereits 1948 in einigen Leitartikeln die Meinung geäußert wurde, »die Deutschen hätten nun lange genug gebüßt und sollten aus dem Schatten der Geschichte heraustreten.« (Ebd., S. 109)
In diesem Umfeld bewegte sich auch die Goethe-Rezeption der Nachkriegsjahre. Aber dabei stellt sich die Frage: Warum Goethe? Was war mit ›Goethe‹ eigentlich gemeint? Welches Geflecht von Assoziationen wurde mit diesem Namen verknüpft? Werner Bergengruen z.B. fragte in seiner »Rede über Goethe« von 1949:
Nur die persönliche Aneignung von Goethes Schriften und ihres Gehalts für das eigene Leben – das war der Weg, seinem Werk näher zu kommen. Stattdessen trat jetzt das überschwängliche Lob Goethes in den Vordergrund, zunehmend auch in politischer Funktion, denn er sollte nach innen heilend und aufbauend wirken, nach außen aber, für das Ausland, das ›eigentliche‹ und bessere Deutschland hervorkehren.
Goethe galt als der größte deutsche Dichter mit seinem vielbändigen Werk. Seit Cottas ›Ausgabe letzter Hand‹ von 1827-1830 in 40, bis 1842 in 60 Bänden waren weitere, geschickt nach Ausstattungsqualität gestaffelte Ausgaben des Verlags bis 1867, dem ›Klassikerjahr‹ mit dem Freiwerden der Rechte, auf den Markt gekommen. Danach gab es eine Vielzahl von vollständigen, Auswahlausgaben und ›wohlfeilen‹ Ausgaben mit unterschiedlicher Ausstattung und Umfang. Die große Weimarer Ausgabe (1887-1919) mit 133 Bänden präsentierte Goethes Werke in wissenschaftlicher Form. Noch 1932 wurde in Mainz mit der ›Welt-Goethe-Ausgabe‹ in der Gestaltung von Christian Heinrich Kleukens begonnen, die aber in den Anfängen steckenblieb. Goethes umfangreiches Werk oder zumindest die wichtigsten Titel waren jedermann zugänglich und Goethezitate gehörten zum guten Ton.
Im Dritten Reich aber war Goethes Werk nur wenig zu Propagandazwecken zu gebrauchen gewesen, im Unterschied zu dem Schillers. Baldur von Schirach z.B. war 1937 in seiner Goethe-Rede zu den Weimarer Festspielen der deutschen Jugend mit der Propagierung Goethes als ›geistigem Führer‹ gescheitert, denn seine Anleihen aus den Wahlverwandtschaften etwa ließen sich nicht für die aggressiven Ziele des NS-Staates verwerten. Nach dem verlorenen Krieg jedoch boten sich schon aus diesem Grund Goethes Werk, seine Sprache und Persönlichkeit, Werte wie Humanität, Toleranz, Lebensklugheit und Weitsicht als Vorbilder für den Neuanfang an. Dies konnte dazu führen, dass die oft geradezu kulthafte Verehrung und Zitierung die verschiedenen Ebenen zusammenfließen ließ und Goethes Gestalt und seine Schriften in der öffentlichen Wahrnehmung beinahe ebenso sakrosankt erschienen wie die Bibel.
Die gesteigerte Verehrung des zeitlosen Klassikers im ›Goethe-Kult‹ vollzog sich besonders deutlich im Westen, während im Osten Deutschlands die Rezeption politisch gesteuert war und damit in ganz anderen Bahnen verlief. Die daraus im Westen folgende, unkritische Hochschätzung Goethes als eines Übervaters reichte bis in die sechziger Jahre, bis zum Ende der ›Klassik-Legende‹. Die Goetherezeption am Ende der Vierziger aber äußerte sich besonders in den vielen Reden mit unterschiedlicher Lobesintensität. Die private Hinwendung zu Goethe aber lässt sich nur indirekt in Lektürezeugnissen oder in der Wertschätzung von Drucken in herausgehobener Gestaltung belegen.
Reden über ihn: Vielstimmigkeit
In der öffentlichen Verehrung seiner Anhänger wurde Goethe fast zu einem Fluchtpunkt, auf den – wie in der Kunst – alle Linien zuzulaufen schienen. Stefan Breuer definierte den Goethekult allgemein als übersteigerte Verehrung, die über das Normalmaß hinaus geht, im religionswissenschaftlichen Sinne als einen Kult. Dazu gehörten feste Regeln sowie Gedenktage zur besonderen Verehrung der Person, tiefe Bewunderung und Zustimmung zu seinen Werken. Breuer hat aber auch darauf hingewiesen, dass Goethe zwar von breiten Schichten verehrt wurde, die jedoch »von der Kunst nicht viel mehr erwarteten als Verklärung, und zwar neben und außerhalb der Alltagsordnungen.« (Breuer, S. 64f.)
Schon 1849, zu Goethes 100. Geburtstag, hatte es einige öffentliche Feiern zu seinen Ehren mit allen Merkmalen des Kultes gegeben, mit Ansprachen, Rezitationen, Vertonungen seiner Gedichte und Musikdarbietungen vor einem gleichgestimmten Publikum. Die Goethefeier in Berlin etwa wurde von Ludwig Tieck, Friedrich Rellstab, Friedrich Heinrich von der Hagen u.a. organisiert. Diese Feiern sollten allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass Goethe keineswegs zu den populären Autoren seiner Zeit gehörte. So schrieb z.B. Karl Gutzkow 1837 aus der Sicht des Vormärz, kurz nach Goethes Tod, zu der Frage, ob man dem großen Dichter in seiner Heimatstadt Frankfurt ein Denkmal errichten sollte: Es würde bedeuten, »ihn dem Volke, das Goethe nie geliebt hat, gleichsam aufzudrängen. … Er wird der Masse, die ihn nicht gelesen hat ….immer gleichgültig bleiben« Schiller dagegen »kann in der Allee stehen, der Goethe kann es nicht.« (Mandelkow 1, S. 134)
Charakteristisch war 1849 die Rede des Altphilologen und Gymnasialprofessors Ernst Christian Weber in der Freimaurerloge, der ›Schwesternloge der Amalia‹, in Weimar. Goethes Leben und Werk wurden darin mit großem rhetorischen Schmuck und Aufwand überhöht, literarisch, gesellschaftlich, kulturell, aber nur indirekt politisch. Der Redner berichtete ja nichts Neues über Goethe, sondern das Neue waren die besonderen Akzente oder Lichter, die auf spezielle Eigenschaften des Gefeierten gesetzt wurden. Es ist – wie in den späteren Reden – ein Charakteristikum dieser panegyrischen Prosa, dass es keine Trennung zwischen der historischen Realität und Goethes Intentionen, zwischen Wunsch und Wirklichkeit gab. So hieß es z.B. bei Weber:
Als wichtigstes Moment in Goethes Wirken aber hob Weber die ›Schönheit‹ hervor:
Nach 1848 vollzog sich das Ausweichen von der Politik in die Ästhetik, die sich für den Altphilologen Weber auch nach Winckelmanns Vorbild anbot. – Allerdings wurde Goethe nicht mit großen, öffentlichen Festen und spektakulären Umzügen gefeiert, an denen auch große Teile der Bevölkerung teilnahmen, wie es z.B. zu Schillers 100. Geburtstag im Jahr 1859 der Fall war. Aber wie auch bei vielen späteren Reden zu Goethes Gedenktagen wurden auch hier die Würdigungen seines Schaffens auf so große Dimensionen ausgedehnt, dass sie oft in nahezu kultischer Heilserwartung angesiedelt waren. Der weihevolle Ton und die Enthistorisierung von Goethes Leben und Werk mit dem Bezug auf das Schicksal der ganzen Nation waren für den Kult um den Dichter charakteristisch.
Zu Goethes 100. Todestag, am 22. März 1932, am Ende der Weimarer Republik, wurde er nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs und der drohenden Nazidiktatur wieder mit allen Mitteln des Festkultes und der oft sakral grundierten Reden gefeiert. So huldigten ihm z.B. die Abgesandten der großen Nationen an seinem Grab. In London aber hieß es politisch vorausschauend:
Hier wurde in einem seltenen Fall eine literarisch-intellektuelle Einheit der Völker Europas beschworen.
Thomas Mann hielt seine große Lobrede über »Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters«, zu der es bei Ment heißt:
Große Sorge aber schwang bei Thomas Mann und anderen Rednern mit; so warnte er mit Blick auf die Gegenwart:
Im Dritten Reich wurde Goethe bekanntlich politisch wenig favorisiert, aber es gab natürlich auch entsprechende Feiern zu seinen Gedenktagen. Hans Carossa schien mit seiner Lobrede, die er 1938 bei der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft in Weimar hielt, in einer Mischung aus Selbsttäuschung und Opportunität, den Gipfel des hohen Tons seines Kultes erreicht zu haben. Tatsächlich aber stand hinter seiner Rede auch die Sorge vor der drohenden Zukunft mit den kommenden Zerstörungen.
Die Reden zu Goethes Ehren hatten neben dem Gefeierten auch stets die Feiernden selbst und ihr Bild der Gegenwart im Blick, wenn sie ihre je historische Sicht auf Goethe mit hohem rhetorischen Aufwand beschrieben. Die Lob- und Ruhmesepitheta für den Geehrten aber blieben meist ähnlich, auch wenn sie in der Qualität und historischen Einfärbung variierten.
So wiederholten sich nach dem Krieg zwar die Formen der öffentlichen Goetheverehrung bei verschiedenen Anlässen, sei es zu einem Gedenk- oder Geburtstag, sei es in einer Dankesrede für einen Preis, der mit Goethes Namen verbunden war. Jedoch waren ihre rhetorische Ausgestaltung und der festliche Rahmen deutlich herabgestimmt. Die ›Goethe-Festwochen« in Bremen im Jahr 1946 z.B. verliefen nach dem bekannten Muster mit musikalischen Darbietungen, Lesungen und einem Festvortrag von Reinhard Buchwald, dessen Schillerbiographie 1937 erschienen war, der sich aber nach dem Krieg verstärkt Goethe zugewandt hatte. Es ist aufschlussreich, dass der Insel-Verleger Anton Kippenberg, von 1938 bis 1950 Präsident der Weimarer Goethe-Gesellschaft, bei dieser Gelegenheit das obige Zitat aus London von 1932 wieder aufnahm, um Goethes versöhnende und völkerverbindende Rolle zu unterstreichen. Hans Wahl aber, Direktor des Goethe- und Schillermuseums in Weimar, richtete nach der weitgehenden Zerstörung des Goethehauses 1945 das gleiche Zitat anklagend gegen die Alliierten. Das Beispiel erhellt auch die Austauschbarkeit und Ambivalenz der in den Lobreden verwendeten Topoi.
Zu Goethes Geburtstag am 28. August 1945 hielt Ernst Beutler, der Direktor des Freien Deutschen Hochstifts und des Goethehauses in Frankfurt eine ungewöhnliche Rede mit dem Titel »Besinnung«. Es ging zwar wieder um den Beweis von Goethes Größe, aber der Blick richtete sich nach innen, auf die Katastrophe und die Frage nach Goethes Verhältnis zu den Deutschen. In seinen »Essays um Goethe« von 1941 hatte Beutler geschrieben:
Mandelkow hat zwar exkulpierend angemerkt, dass man den letzten Satz wie ein Zitat aus den Schriften eines Exilautors lesen könne, die Aussage spricht doch wohl eher für die allgemeine Zustimmung. Beutler, Mitglied des Vorstands der Weimarer Gesellschaft, hatte wie diese Institutionen versucht, sich so weit als nötig, an das Regime anzupassen.
Die Selbstgewissheit der Einheit von Goethe und Deutschland war aber durch das Desaster des Krieges und der Zerstörung des Goethehauses offensichtlich zerbrochen. Denn in der Rede von 1945 prüfte Beutler kritisch die Basis für das traditionelle Lob Goethes:
Bei der Suche nach Halt ging er bis auf Meister Eckart zurück: »Und warum ist für Eckart das Erkennen eine Fürstin und geht allem anderen, auch dem Wollen, voran? Eben weil es der Weg zum Göttlichen ist.« (Beutler, S. 810) Es ist erstaunlich, dass Mandelkow diese Stelle, wie auch die folgende, nicht in seine Dokumentation aufgenommen hat:
Die Gründe für die Eingriffe Mandelkows sind hier, wie auch an anderen Stellen, so z.B. bei Thomas Manns Frankfurter Rede von 1949, nicht einsichtig. Am Umfang der Texte kann es nicht gelegen haben, denn er nahm ja z.B. auch die komplette »Denkschrift für die Gründung des Goethe-Wörterbuches« (S. 273-282) von Wolfgang Schadewaldt in den Band auf. Es ist nur merkwürdig, dass ausgerechnet die Stelle über Buchenwald entfallen ist, denn dadurch fehlt der Beutler-Rede eine ganz entscheidende Passage, die sie aus den vielen anderen Reden der Zeit weit heraushebt. Sie unterscheidet auch Beutlers Persönlichkeit von vielen anderen ›Goetheanern‹ der Zeit. Die Erwähnung des KZs Buchenwald in der Nähe von Weimar im Kontext von Goethes Geburtstag im Jahr 1945 war ebenso ungewöhnlich und ein Tabubruch wie das Eingeständnis seiner fehlenden Popularität. Diese radikale Bestandsaufnahme desavouierte alle üblichen Lobestopoi zu Goethes Ehren, ja stellte eigentlich das festliche öffentliche Goethegedenken insgesamt in Frage. Es zeigte sich hier sehr deutlich die Ambivalenz der großen Feiern, mit denen eine Persönlichkeit, eine Projektion, eine ferne Gestalt geehrt wurde, die aber nicht wirklich zur Lebenswelt der Menschen gehörte. – Die Rede erhielt zwar momentan große Aufmerksamkeit, auch in der Schweiz, aber es erfolgte keine heftige Reaktion, wie zu erwarten gewesen wäre, vermutlich weil Beutler seinen Sprengsatz geschickt in die Zitierung von Goethes Größe und die Tradition verpackt hatte. In seinen weiteren Ansprachen dieser Zeit kam er aber nicht mehr auf diesen heiklen Punkt zurück.
Die Nähe von Buchenwald und dem Ettersberg blieb in den vierziger Jahren weitgehend unbeachtet. Ernst Wiechert z.B. machte zwar das Lager zum Thema seines Roman-Berichts »Der Totenwald« von 1946, in seiner »Rede an die deutsche Jugend« von 1945 hatte er nur darauf angespielt. Richard Alewyns Erwähnung des Lagers und der Nähe zu Weimar in seiner bekannten Kölner Rede von 1949 könnte auch eine Anspielung auf Beutlers Ansprache von 1945 sein, da die beiden in engem Austausch standen. Der Hinweis auf Buchenwald aber blieb in beiden Fällen zunächst ohne Echo. Erst nach zwanzig Jahren tauchte der Hinweis auf Alewyn wieder in Emil Staigers Rede »Literatur und Öffentlichkeit« von 1966 im sogenannten ›Züricher Literaturstreit‹ wieder auf. Sie markierte den Auftakt zur Kritik an Goethe und den Klassikern am Beginn der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre. Alewyns Rede wurde erst durch den Abdruck in Mandelkows Dokumentation von 1984 zu einem verbreiteten Zitat, Beutlers ältere Stellungnahme hingegen blieb durch das Fehlen bei Mandelkow weitgehend unbekannt.
In der Nachkriegszeit passte das KZ Buchenwald in der Umgebung von Weimar nicht in die Erinnerung und Zitierung einer unbeschädigten nationalen Gestalt wie Goethe mit seinem internationalen Ruhm. Dabei ist zu bedenken, dass es bei der Errichtung des Lagers im Jahr 1937 Proteste von Weimarer Bürgern gegeben hatte, die sich gegen den ursprünglich vorgesehenen Namen ›Ettersberg‹ – nicht gegen das Lager – zur Wehr gesetzt hatten, da dieser doch zu sehr an Goethe erinnere. Hinzu kam, dass das Lager ja auch noch in Funktion war und weiter benutzt wurde, nun für NS- und Kriegsverbrecher, aber auch für politische Gefangene des neuen Regimes. Thomas Mann hatte sich z.B. bei seinem Besuch in Weimar anlässlich der Verleihung des Goethe-Nationalpreises geweigert, die weitere Nutzung des Lagers anzusprechen. Es herrschte im Westen wie im Osten das große Schweigen über die Verbrechen, auch über Buchenwald, denn man sah sich vor allem selbst als Opfer und hatte kaum einen Blick für die Leiden der anderen.
Exkurs
Eine besondere, fiktionale Verarbeitung fand das Thema Buchenwald viel später, 1980, in Jorge Semprúns Roman »Quel beau dimanche!« (Was für ein schöner Sonntag!). Semprún war als junger Sozialist dort inhaftiert gewesen, hatte z.B. auch den Tod von Maurice Halbwachs erlebt. Der Roman wurde mit seinen vielen Vor- und Rückblenden sowie zahlreichen Exkursen nach Semprúns folgenreicher Solschenizyn-Lektüre und seiner Loslösung vom Kommunismus geschrieben. Das große Thema war die vergleichende Perspektive auf die beiden Systeme, die nationalsozialistischen Konzentrationslager und die stalinistischen Gulags und damit die Parallelität der Lagerwelten. Es gibt im Roman aber auch einen weiteren, eigenen Handlungsstrang, der die Nähe der beiden Orte, Weimar und Buchenwald, durch die Gespräche zwischen Goethe und dem Erzähler in der Rolle Eckermanns thematisiert. Ihre Gesprächsthemen kreisen um Fragen der Natur, aber auch der Erziehung, wie sie in Goethes Werken zu finden sind. Sie kommen jedoch auch auf eine reale Gestalt zu sprechen, den ehemaligen französischen Ministerpräsidenten und Sozialisten Léon Blum (1872-1950). Blum, der von 1936-1937 und auch 1938 das hohe Amt bekleidet hatte, war zwei Jahre im Falknerhaus bei dem KZ Buchenwald interniert. 1945 wurde er jedoch befreit und 1947 wieder Ministerpräsident. Semprún spielte in seinem Roman immer wieder auf ihn an, hatte doch Blum zwischen 1897-1900 seine »Nouveau conversations de Goethe avec Eckermann« geschrieben, die 1901 erschienen waren. Der Zeitsprung in den »Nouveau conversations« zwischen Goethes Tod und der Gegenwart Blums wurde elegant übergangen. In den Gesprächen wurden meist literarische Themen debattiert, oft ging es um den ›Faust‹, um die (früheren) Zeitgenossen Schiller oder Hegel, um Autoren der Weltliteratur wie Shakespeare und Molière oder der Gegenwart wie Flaubert.
Aufschlussreich dürfte das Gespräch vom 7. Juni 1898 sein, in dem die Affäre um den zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilten Hauptmann Alfred Dreyfus zur Sprache kam. Am 13. Januar 1898 war der berühmte Artikel »J'accuse...« von Émile Zola in der Zeitung »L'Aurore« erschienen, durch den letztlich die Wiederaufnahme des Verfahrens ins Rollen kam. Goethe bemerkte, dass im öffentlichen Disput über die Wiederaufnahme des Prozesses auch gern sein bekanntes Zitat aus der »Belagerung von Mainz« verwendet werde : »Mieux vaut une injustice qu' un désordre. C'est dans ma nature.« (»Besser eine Ungerechtigkeit als eine Unordnung. Das ist in meiner Natur.«). Eckermann wies aber auch auf die Zweideutigkeit des Satzes hin, der besonders von Dreyfus' Gegnern verwendet werde, die einen neuen Prozess verhindern wollten. Goethe fühlte sich von den Journalisten missverstanden, denn es war ihm bei dem Chaos in Mainz um die Vermeidung drohender Lynchjustiz, also einer Unordnung gegangen, da hier keine Rechtsprechung möglich war. Hierzu ist anzumerken, dass der Jurist Blum nicht nur ein exzellenter Kenner von Goethes Werken, sondern auch der Verteidiger Zolas in dessen Prozessen wegen der Dreyfus-Affäre war. Blums Adaption der Goetheschen Gespräche war in seiner Zeit kaum beachtet worden. In der Nachkriegszeit aber, als man die Kehrseite von Buchenwald nicht sehen wollte, war auch das Werk Léon Blums wahrscheinlich nicht präsent.
Dass sich im Westen nach 1945 die Verehrung Goethes in Form eines übersteigerten Kultes entfalten konnte, hatte seine Wurzeln auch in dem »schuldentlastenden Opferbewußtsein« und der Strategie des Vergessens. Der größte deutsche Dichter sollte nach dem tiefen moralisch-politischen Fall eine Brücke für das psychische und intellektuelle Überleben bilden. Aus diesem Anlass kamen auch einige wichtige wissenschaftliche Unternehmungen in Gang: So wurde z.B. 1947 das »Goethe-Wörterbuch« ins Leben gerufen und ab 1948 zwei neue Ausgaben von Goethes Werken, die Hamburger Ausgabe in 14 Bänden bis 1960, die Erich Trunz herausgab und die Artemis-Gedenkausgabe in Zürich in 24 Bänden bis 1954, die Ernst Beutler betreute.
Die meisten Stimmen, die sich zu Goethe in der Nachkriegszeit äußerten, zielten in Richtung des Lobes des großen Deutschen, der kultischen Figur. Aber anders als die Redner vor etwa 100 Jahren sollte dieser Goethe nicht den Weg zur deutschen Einheit zeigen, sondern die beschädigte deutsche Größe wieder herstellen. Thomas Mann etwa, der trotz der Anwürfe Walter von Molos und der vielen Stimmen, die sich abfällig über ihn äußerten, 1949 aus den USA gekommen war, um in Frankfurt den Goethepreis und in Weimar den Goethe-Nationalpreis entgegen zu nehmen, vermied alle heiklen Punkte tunlichst und ging in seiner Rede, die er nahezu unverändert an beiden Orten hielt, nur kurz auf die Gegenwart ein. Dem folgte das kulthafte Lob Goethes,
Goethe war für Thomas Mann ein Sonderfall in der deutschen Geschichte, er wurde auch hier in religiöser Überhöhung zum Heilsbringer stilisiert und zum Repräsentanten des guten Deutschland, so wie sich Thomas Mann ja auch selbst sah. Die Frage nach Goethes Beliebtheit bei den Deutschen stellte er erst gar nicht, im Gegenteil, er rückte ihn mit großen rhetorischem und religiös fundiertem Aufwand in geradezu unerreichbare Ferne. Quasi als Fußnote sei erwähnt, dass, nachdem Thomas Mann das anschließende Bankett verlassen hatte, die meisten Teilnehmer sich daran mehr als gütlich taten und alte Nazilieder grölten.
Als Thomas Mann seine Goethepreis-Rede hielt, war sein Roman »Lotte in Weimar« inzwischen auf dem deutschen Buchmarkt zu haben. Das Werk hatte aber nicht nur Lob geerntet, sondern war auch auf Unverständnis oder Ablehnung gestoßen. Ernst Beutler etwa verurteilte es sogar als ›Sakrileg‹. Die Menschlichkeit des von Mann geschilderten ›Goethe‹ passte in keiner Weise zu dem Objekt des Goethekults. So zeigte sich Dolf Sternberger erschrocken, dass Thomas Mann in der Diskussion um den Roman und der gleichzeitigen Debatte um die Innere Emigration so wenig öffentliche Unterstützung erhielt:
Im Osten Deutschlands wurden die Feiern zu Goethes Ehren im Sinne der marxistischen Erbetheorie völlig neu strukturiert. Es erfolgte kein Blick zurück mit der entsprechenden Deutung der NS-Vergangenheit, sondern ein bewusster Bruch und Neuanfang, der sich, wie es Lukács formulierte, von den »Geschichtsfälschungen, … die die klassische Periode der deutschen Literatur vollständig verzerrte«, absetzen wollte. Er forderte eine »selbständige, unbefangene Forschung … damit hinter der vielfältigen verfälschenden Übermalung das Original wieder sichtbar werde.« (Mandelkow, S. 283)
Auch der Titel von Johannes R. Bechers großer Rede, »Der Befreier«, kennzeichnete die veränderte politische Sicht auf die Rolle Goethes am Beginn der deutschen Teilung. Der Satz »Von einem Neuen sei die Rede« war symptomatisch.
Becher erwähnte die Goethefeier von 1932 mit der Rede Thomas Manns – aber auch:
Becher beklagte also ebenfalls die fehlende Popularität Goethes und den unsicheren Boden, auf dem die Feiern zu seinen Ehren standen. Auch hier wurde deutlich, dass man eine Projektion ehrte, denn Goethes Werke waren bei den meisten Menschen nicht angekommen; sie waren ihnen fremd geblieben.
Dieses ›Reich das Goethe heißt‹ wurde im Osten nicht durch individuelle Feiern geehrt, sondern mit zentral organisierten Veranstaltungen, deren Gestaltung von dem ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands‹ vorgegeben wurden. Der Kulturbund stellte verschiedene Programmmuster zur Verfügung, wie z.B. Feiern in ›kleinen, mittleren und großen Orten‹ gestaltet werden sollten. Zur Auswahl standen sieben Schwerpunktthemen wie: ›Deutschland sei eins‹, ›Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen‹, ›Edel sei der Mensch‹, ›Wir heißen Euch hoffen‹, ›Eins und alles‹, ›Goethe und die Kunst‹ und ›Der heitere Goethe‹ mit den dazu passenden Musikstücken und Texten für die Lesungen und Muster für die Vorträge. Der Blick richtete sich hier also auf Goethe und seine Funktion für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Die Verbrechen der Vergangenheit aber blieben auch hier ausgeblendet und beschwiegen, um das Land und eine neue Gesellschaft aufzubauen – politisch mit anderen Zielen, aber aus den gleichen Gründen wie im Westen.
Die vielfältigen Lobreden auf Goethe blendeten schon aufgrund ihrer Gattungsstruktur jede kritische Frage aus. Anders aber die bekannte, große Rede des Philosophen Karl Jaspers »Unsere Zukunft und Goethe«, die er bei der Entgegennahme des Goethepreises der Stadt Frankfurt im Jahr 1947 hielt. Das Gewicht dabei lag auf ›unsere Zukunft‹ und war damit eine Analyse und auch vorsichtige Kritik, wie es Borchmeyer nannte, »eine Kritik buchstäblich auf Knien, … im Rahmen einer wohlausgewogenen Dialektik, die jede einseitige Wertung‹ ausschloss. Jaspers erwähnte Goethes Entsetzen vor der heraufkommenden Welt der technischen Naturbeherrschung, seine harmonische Grundauffassung von Leben und Welt oder die Preisgabe des Unbedingten zugunsten des Lebensmöglichen. Nach den jüngsten Erfahrungen konnte man aber nicht mehr »das liebende Einverständnis mit der Welt« ertragen, wie es noch Carossa 1938 hervorgehoben hatte. Klarer als jeder andere steckte Jaspers auch die Grenzen der Goetheverehrung ab:
Deutlicher konnte eine Kritik an den großen Goethe-Feiern und den Lobreden nicht formuliert werden. Die Feiern beruhten eigentlich auf einem Missverständnis, denn Goethe entzog sich selbst den öffentlichen Huldigungen.
Jaspers holte das Kultobjekt ›Goethe‹, diese diffuse Verbindung von Werk, Ruhm, Nachleben oder Anempfindung in die Gegenwart der Nachkriegszeit, die übergroße Gestalt wurde aus dem grellen Scheinwerferlicht des Goethekults in das normale Tageslicht der Geschichtlichkeit gerückt. Die Historisierung Goethes und die Erwähnung seiner Defizite aber war ein Sakrileg in den Augen seiner Anhänger, die eine Projektion nationaler Größe brauchten. Jaspers Vorgehen, oder besser ›Vergehen‹, war Stein des Anstoßes für lange und heftige Debatten, da sich hier ein Bruch mit alten Sehgewohnheiten vollzogen hatte. Sein wichtigster Kontrahent war der Bonner Romanist Ernst Robert Curtius, dessen Vorstellung von Goethe etwa der entsprach, die Friedrich Gundolf in seiner weitverbreiteten Monographie von 1916 über »Goethe« entworfen hatte. Dieses Werk war in mehreren Auflagen bis in die dreißiger Jahre erschienen. Curtius wie Gundolf einte z.B. ihre, wenn auch je unterschiedliche Nähe zum Kreis um Stefan George. So war Gundolfs Absicht die »Darstellung von Goethes gesamter G e s t a l t, der größten Einheit worin deutscher Geist sich verkörpert hat.« Dies war ja auch der zentrale Punkt in Curtius' maßloser Kritik an Jaspers. Die heftige Polemik und das absichtliche Missverstehen (»Abkanzelung Goethes«, S. 304, »Ahnungslosigkeit«, S. 307) zeigen das zugrunde liegende Problem, den unlösbaren Widerspruch zwischen Jaspers' Analyse und Curtius' Verehrung Goethes. So hatte er geschrieben: »Goethes Leben und Schaffen ist eine Lichtbotschaft; eine Bejahung von Mensch und Erde, von Gott und Natur.« Für Curtius war ›Goethe der letzte Klassiker Europas, wie Virgil der letzte Klassiker Roms.‹
Borchmeyer beurteilt zurecht »Curtius' infames Pamphlet … als Dokument einer durch den Nationalsozialismus verwüsteten Diskussionskultur, das … Störenfriede im neuen Goethe-Konsens ausschalten sollte.« (Borchmeyer: Goethe, S. 204) Was war aber der Hintergrund für diese polemische Attacke? Jaspers hatte mehrere Schriften zu aktuellen Gegenwartsfragen veröffentlicht, so 1946 die »Schuldfrage«, 1947 »Von der Wahrheit« oder 1949 den Essay »Goethes Menschlichkeit«; er galt als wichtigste moralische Autorität in Deutschland. Curtius dagegen publizierte 1948 sein umfangreiches Werk »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter«. Es basierte auf dem Gedanken der großen literarischen Kontinuität, der Zeitlosigkeit der gesammelten Topoi aus der Zeit vom 8. bis zum 15. Jahrhundert, ohne aber den jeweiligen historischen und literarischen Kontext zu berücksichtigen. Für ihn stand Originalität auf dem festen Grund der Überlieferung, denn die »literarische Tradition ist das Medium, in dem der europäische Geist sich seiner selbst über Jahrtausende hinweg versichert. Erinnerung ist nach dem griechischen Mythos die Mutter der Musen.« (Curtius 1, S. 398) Curtius hatte seit den frühen dreißiger Jahren daran gearbeitet und sich damit »eine Art innerer Emigration« geschaffen (Weinrich, S. 183), in der er das Dritte Reich unbeschadet überstand. Jaspers dagegen, mit einer Jüdin verheiratet, von der er sich nicht getrennt hatte, wurde zwangsemeritiert und entging nur durch das Kriegsende knapp der Deportation in ein Lager.
Scharfe Kritik erntete Curtius allerdings von einem Kollegen, dem Romanisten Leo Spitzer aus Baltimore, der 1934 wegen der NS-Rassengesetze seinen Kölner Lehrstuhl hatte verlassen müssen. Er sah den Streit mit dem Blick von Außen und bemängelte die für den deutschen Goethekult typische, fehlende Trennung von Person und Werk. Curtius' Bemerkung in der Polemik gegen Jaspers »Wir stehen im Goethejahr« entlarvte er als eine »Art nationaler Mobilisierung, ...von der sich niemand ausschließen dürfe, ohne daß die Machtposition des ›deutschen Geistes‹ vor dem Ausland gefährdet würde«. (Spitzer, S. 584f.) Goethe war im Verständnis der Vertreter seines Kultes auch für die nationale Außenwirkung Deutschlands entscheidend, war er doch auch politisch ein Zeichen ›deutscher Größe‹. Spitzer spielte auf Curtius' Streitschrift »Deutscher Geist in Gefahr« von 1932 an, die sich hauptsächlich gegen den konservativen ›Tat-Kreis‹ mit der Vorstellung einer ›konservativen Revolution‹ gerichtet hatte ebenso wie gegen den ›Soziologismus‹ Karl Mannheims. Diese ›Bewegungen‹, die auf die Massen zielten anstatt auf die geistigen Eliten, waren nach Curtius' Überzeugung für die Gefährdung des deutschen Geistes verantwortlich. Die »geistigen Eliten« aber, denen es um die »lebendige Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte« ging, (Curtius 2, S. 106) waren offensichtlich auch die legitimen Träger des Goethekultes. Auch Curtius bestätigte also indirekt, dass Goethe nie in den breiten Schichten der Bevölkerung angekommen war.
Spitzers Antwort auf Curtius enthält auch eine Auseinandersetzung mit der Frage der Kollektivschuld, von der Jaspers in seiner Goethe-Rede aber nicht gesprochen hatte und die er auch ablehnte: »Derselbe Schriftsteller, der im Namen eines geistigen deutschen Kollektivums (›wir‹) einen laueren Goetheverehrer [Jaspers] maßregelt, fühlt sich nicht als Glied eines deutschen Kollektivums, wenn eine deutsche Regierung Millionen Menschen vergast. Im Geistigen gibt es ein Kollektivum, im Moralischen nicht. Wehe wenn der unsterbliche Goethe angegriffen wird, das fordert den Zorn der Eliten heraus – die sich aber distanziert, wenn Millionen Menschen gemordet werden. Mit anderen Worten: der ›deutsche Geist‹ ist eine reine Standesangelegenheit, die von der nationalen Moral ganz unabhängig ist. Besser könnte diese Elitenpolitik sich nicht vor uns enthüllen!« (Spitzer, S. 585) Damit sprach Spitzer, der sich als Ausländer nicht an dem kollektiven Schweigen beteiligte, als einer der wenigen auch direkt das Problem des Holocaust an – so wie Beutler und später Alewyn. – Das Bild Goethes aber, das sich viele seiner Verehrer wie Curtius von ihm machten, glich durch die Zuschreibungen und die entsprechenden Ausblendungen einer Utopie. Denn im Utopischen siedelte auch die Vorstellung vieler Goetheverehrer von sich selbst und der Nation, die durch die Kultfigur Goethe wieder zu einstiger Größe aufsteigen sollte.
Das Zeitfenster zu wirklicher, öffentlicher Selbstreflexion und dem eigenen, neuen Verhältnis zu Goethe und seinem Werk war recht klein, denn mit den zunehmenden Ost-West-Spannungen richtete sich der Blick mehr und mehr nach außen. In der Zeit der beginnenden Teilung Deutschlands wurde das Jubiläum von 1949 auch dazu genutzt, um das jeweilige Goethebild der politischen Zugehörigkeit anzupassen. Die Goethefeiern wurden also nicht nur wichtig für das Selbstwertgefühl, sondern auch für die politische Außenwirkung.
Rezeption nach Innen
Nach dem verlorenen Krieg bot sich Goethe als unbeschädigte, nationale Gestalt an, die verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit erhielt. Wie intensiv die Suche nach einem Anker, nach einem moralischen Haltepunkt war, zeigt sich gerade daran, dass er auf vielen, auch nicht-literarischen Gebieten als Referenzgröße herangezogen wurde. Allerdings benötigte eine Dokumentation wie Eugen Kogons Der SS-Staat von 1947 keinen Bezug auf oder ein Zitat von Goethe, um seinen nüchternen, erschütternden Bericht über die Organisation der Konzentrationslager erträglicher zu machen. Je näher aber Goethes Geburtstag im Jahr 1949 kam, desto mehr häuften sich natürlich die Zitierungen. So war es auch eine geradezu selbstverständliche Begleiterscheinung, dass z.B. in diesem Jahr für alle vier Besatzungszonen zu Goethes Ehren Briefmarken in Sonderserien herauskamen, um auch seine Bedeutung nach außen zu demonstrieren. Im Vergleich zu dem Kult um Goethe und seine erstaunlichen kommerziellen Auswirkungen im Jahre 1932 aber, wirkten die Bemühungen von 1949 eher bescheiden.
Im Folgenden werden einige Beispiele für die Zitierung Goethes als einer nationalen Instanz oder moralischen Autorität in einem fremden Kontext gezeigt: Völlig unerwartet trifft man z. B. auf Goethes Namen in einem traditionsreichen Volkskalender wie dem »Lahrer hinkenden Boten für den Bürger und Landmann« (Lahr im Schwarzwald). 1940 erschien der Kalender im 140. Jahrgang in der biederen Fraktur und Aufmachung des 19. Jahrhunderts, aber inhaltlich ganz an die ›neue Zeit‹ angepasst: Das Kalendarium war mit NS-Gedenktagen bestückt, so am 14.1. »1930 Mordanschlag auf Horst Wessel« oder 15.1. »1933 Wahlsieg der NSDAP in Lippe«, dazu ›systemkonforme‹ Erzählungen wie »Der Schupo vor der Reichskanzlei«. 1949 jedoch, im 149. Jahrgang, war die Typografie zwar unverändert, aber der Kalender ›bereinigt‹. Zwischen den einfachen Beiträgen zum Gartenbau oder zu Flüchtlingsfragen findet sich ein kleiner Text mit dem Titel: »Auf den Spuren der Jugend«, eine »Historische Skizze zu Goethes 200. Geburtstag« (S. 88-90). Hier wurde erzählerisch der Besuch des alten Goethe im Jahr 1831 am Kickelhahn dargestellt, wo er 1780 sein berühmtes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh'... geschrieben hatte. Auch in diesem um Volkstümlichkeit bemühten Kontext wurde eine ungewohnte Verbindung zu dem großen Dichter hergestellt.
Markanter aber war die Funktion Goethes als unbestrittene Autorität in historischen Darstellungen, die sich um das Verständnis des Geschehens der unmittelbaren Vergangenheit bemühten. In der neuen Reihe »Der Deutschenspiegel. Schriften zur Erkenntnis und Erneuerung«, in der angesehene und nicht belastete Autoren wie Gerhard Ritter, Helmut Thielicke, Romano Guardini u.a. publizierten, erschien 1946 der Band »Gebändigte Dämonen. Von der Überwindung der Gewalt« des Historikers Gerhart Binder. Er befasste sich mit den Lagern des Dritten Reichs, mit den dort verübten Grausamkeiten und stellte fassungslos fest: »Wie konnten die Konzentrationslager in Deutschland überhaupt Raum finden, im Deutschland Goethes und Schillers?« (Binder, S. 21) Das postulierte moralische Selbstverständnis der Nation mit dem hohen Wertmaßstab, dessen Verkörperung die beiden Klassiker darstellten, und die politische Realität der NS-Zeit klafften unfassbar weit auseinander.
Ein anderes Beispiel stammt von F. A. Kramer, dem Herausgeber des »Rheinischen Merkur«. Er schrieb 1945 in seiner Untersuchung »Vor den Ruinen Deutschlands« über die Geiselerschießungen, die »Greuel ohne Zahl« wie etwa in Lidice: »Es widerspricht jedoch dem elementaren Naturrecht – dem Recht, das nach Goethe ›mit uns geboren ist‹ – wenn Menschen für Taten verantwortlich gemacht werden, mit denen sie nichts zu tun haben.« (Kramer, S. 120f.) Der Hinweis auf das Naturrecht reichte offensichtlich nicht aus, es schien allein nicht tragfähig. In beiden Beispielen bekam die Argumentation erst durch die Zitierung Goethes die nötige Beweiskraft. Mit Goethes großem Namen und der Zitierung eines eigentlichen Deutschlands aber wollte man sich wenigstens notdürftig rechtfertigen und eine besondere Form eines Alibis schaffen.
Vor der Vergeblichkeit solcher haltgebender Zitierung Goethes für die Gegenwart aber hatte der Soziologe Alfred Weber bereits 1945 gewarnt:
Die klare und distanzierende Mahnung Webers und sein Hinweis auf die Historizität Goethes war einer der wenigen Ausnahmefälle in dieser Zeit; sie blieben ungehört.
Halt an ihm: Verschiedene Wege
Die Suche nach Halt an Goethe war eine private, und damit völlig andere Form der Rezeption als die rein literarische, bei der oft auch Goethes Wirkung nach außen oder sein Ruhm im Vordergrund standen. Hierbei ging es vielmehr um eine persönliche Form der Aneignung durch Lektüre. Es war vor allem Goethes positive Zuwendung zum Leben, seine Lebensklugheit, die ihn – mehr als andere deutsche Dichter – in dieser Zeit so anziehend machte. Dabei war diese Erfahrung nicht an ein bestimmtes Werk gebunden. Dies zeigte sich nicht nur in der Zitierung als moralische Autorität, wie gesehen, sondern auch in der Orientierung an ihm durch die Gründung neuer, lokaler Goethe-Gesellschaften oder -Gemeinschaften.
Dieses Streben nach Orientierung scheint aber nicht erst nach dem Ende des Krieges eingesetzt zu haben. So fanden sich schon vorher einige Goethe-Interessierte in kleineren Gruppen oder Organisationen zusammen. Nach der Zerstörung des Frankfurter Goethehauses am 22. 3. 1944 z. B. verdreifachte sich die Zahl der Mitglieder des Freien Deutschen Hochstifts auf über 6.000 Personen. Hinzu kam sogar noch eine Spende von 300 000 RM für den Wiederaufbau. Dies offenbarte, wie Ernst Beutler schrieb, »aus welcher Gesinnung heraus man sich dem Unglück entgegenstemmte« (Beutler, S. 826f.). – In Bremen zeigte sich Ähnliches: Hier wurde mitten im Kriege, 1941, die Bremer Ortsvereinigung der seit 1885 bestehenden Weimarer Goethe-Gesellschaft gegründet, »im bewußten Gegensatz zu all dem undeutschen Wesen«, wie Anton Kippenberg, selbst Präsident der Weimarer Goethe-Gesellschaft, aus der Rückschau 1946 bei der Eröffnung der Bremer ›Goethe-Festwoche‹ unterstellte. In diesem Jahr hatte die Bremer Gesellschaft bereits die stattliche Zahl von 1400 Mitgliedern. (Kippenberg, S.7) Im Kriege wurden auch mehrere andere Goethe-Gesellschaften ins Leben gerufen, so 1940 in Leipzig, 1944 in Eisenach oder nach dem Krieg 1947 in Halle und Kiel. Die verstärkte Orientierungssuche bei Goethe setzte also schon in den ersten Kriegsjahren ein, als das fatale Ende noch gar nicht zu sehen war. Im Gegensatz zur offiziellen Geringschätzung Goethes in der NS-Propaganda, die ja Schiller bevorzugte, wandten sich ihm viele Menschen zu, die einen moralisch-ästhetischen Ausweg aus der NS-Diktatur finden wollten. Dabei ist zu bedenken, dass die große Weimarer Goethe-Gesellschaft unter ihrem Präsidenten Anton Kippenberg das Dritte Reich nicht unbeschadet überstand, sondern nur durch deutliche Anpassung an das Regime. Jedoch war die Lage der Gesellschaft, anders als etwa die Shakespeare-Gesellschaft, im Dritten Reich noch relativ günstig, da Goethe gern für die Außenwirkung und -propaganda genutzt wurde.
Nach dem Krieg versuchte man sich – wie gesehen – verstärkt Goethe zu nähern. Hierher gehört der bekannte, heute eher naiv anmutende Vorschlag Friedrich Meineckes, »die Pfade zur Goethezeit zurück[zu]suchen« mit der Gründung von ›Goethegemeinden‹ in jeder Stadt, denen »würde die Aufgabe zufallen, die lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes durch den Klang der Stimme den Hörern ins Herz zu tragen«. (Meinecke, S. 175) Hier wiederum sollte Goethe ganz direkt den Ausweg aus der ›deutschen Katastrophe‹ zeigen. – Von Meinecke aber stammt auch der kleine Text: Lebenströster, den er 1945 am Ende seines langen Lebens schrieb. Es war sein Versuch, Goethes Gedicht Das Göttliche von 1793: Edel sei der Mensch / Hülfreich und gut! gerade in der furchtbaren Gegenwart zu verstehen. So schrieb er, dass ihm die Strophen »nach dem Zusammenbruch andauernd durch den Sinn [gingen, sie ] trösteten ihn immer wieder und zwangen ihn, den tieferen Gehalt, den sie für sein eigenes subjektives Bedürfnis boten, sich klar zu machen. « Er sah die »besondere Schönheit« des Gedichts darin, »daß sie einen hellen Tagesglanz mit dem Blick auf den unendlichen Sternenhimmel vereinigt,« dass sich »im Menschen die beiden großen Kreise« schneiden. Speziell die beiden Zeilen: Und wir verehren die Unsterblichen, / Als wären sie Menschen zeigten Goethes »gesunde und tiefe Glaubenskraft«, die keinen Zweifel an dieser »Wahrheit« aufkommen ließ, ebenso die Zeile: Sei uns ein Vorbild / Jener geahneten Wesen. (Meinecke 1, S. 198-202) Angesichts des allgemeinen Chaos reagierte Meinecke nicht mit Sprachlosigkeit, sondern sah sich von Goethe im Glauben an den Menschen als einer Quelle der Hoffnung und Zuversicht bestärkt. Meineckes Text scheint den Nerv der Zeit getroffen zu haben, denn Erich Trunz nahm ihn vollständig in den Kommentar des ersten Bandes, »Gedichte und Epen«, der von ihm herausgegebenen Hamburger Ausgabe auf.
Hierher gehört auch eine weitere Quelle, aus der Goethes Funktion als Helfer oder Stütze im privaten Leben abzulesen ist, die Sammlung »Goethe in unserem Leben« von 1947. Die Texte wurden von Studenten verfasst, die die Berichte über ihre Erfahrung mit Goethe-Texten zu Papier brachten. Die Sammlung wurde in der Literatur schon mehrfach erwähnt, so auch bei Mandelkow, aber so weit zu sehen ist, nicht vorgestellt. Es handelt es sich dabei nicht um literarische Reflexionen des Alters wie bei Wiechert oder Meinecke, sondern um Aufzeichnungen junger Menschen, Studenten, die ihren je eigenen Zugang zu Goethe in der Kriegs- und Nachkriegszeit schilderten. Wie es im Vorwort hieß, hatte ein Professor die Berichte 1942 und 1946 von seinen Hörern angefordert, um zu »erfahren, zu wem er sprach und was die Zuhörer von ihm erwarteten, und zugleich hielt er eine solche Arbeit zur Selbstbesinnung der jungen Menschen für nützlich.« (Stutz, S. 5) Die Texte wurden also von einer bestimmten, gebildeten Gruppe im Hinblick auf den Adressaten, den Professor, geschrieben mit der Absicht, die eigenen Kenntnisse und die Qualifikation für die Vorlesungen unter Beweis zu stellen. Es handelt sich also nicht um spontane Äußerungen oder unmittelbare Kommentare zur Lektüre bestimmter Texte, sondern den Beweis der Qualifikation der Schreiber. Das bedeutete natürlich, dass sie sich in einem vorgegebenen Rezeptionsrahmen bewegten. Die geschilderten Leseerlebnisse dürften jedoch für die Zeit charakteristisch gewesen sein. Bei der Publikation handelt es sich um eine Auswahl, die Texte wurden aber »stilistisch nicht überarbeitet, weil es … gerechter erschien, Unebenheiten bestehen zu lassen, als in Abwesenheit der Verfasser tiefer in den Wortlaut einzugreifen.« (S. 7 f.) Man kann wohl annehmen, dass es sich hier um zeitgenössische Quellen handelt, die in unterschiedlicher Intensität und Ausführlichkeit verfasst wurden.
Aus den Berichten der Kriegszeit ist zu erkennen, dass viele der Studenten einen bildungsbürgerlichen Hintergrund hatten und in ihrem Elternhaus auch die Goethelektüre gepflegt, dass z.B. Hermann und Dorothea vorgelesen wurde. (S. 74; vgl. S. 78 f.) Eine Studentin berichtete, dass sie mit der Auswahl »Der junge Goethe in seinen Briefen, Gedichten und Gesprächen« in den Arbeitsdienst ging.
Aber es gab auch andere Erfahrungen: Ein junger Offizier, dem eine Schreiberin den Band mit Goethes Gedichten ›in den Osten geschickt hatte‹, schrieb ihr zurück:
Nach dem Krieg berichtete ein junge Lehrerin von ihren Unterrichtserfahrungen. Sie stand vor jungen Menschen, die fast alle in der Gefangenschaft gewesen waren.
Mit der Lektüre von Goethes Werk konnten die furchtbaren Erfahrungen überhaupt erst artikuliert werden, denn er hatte ihnen – wie in der Gefangenschaft – die Kraft zum Überleben gegeben.
»Unmittelbare helfende Nähe und Gegenwart« – das vermissten die aus dem Krieg Zurückgekommenen offensichtlich am meisten. Mit der Goethe-Lektüre ließ sich offensichtlich die Freude am Leben wiederfinden und die Erfahrung, »dass das Leben ein reiches und köstliches Geschenk ist.« (S. 123) Eine ehemalige Krankenschwester zitierte, nachdem sie zufällig einen Band von Goethes Lyrik gefunden hatte, aus dem Zyklus »Gott und die Welt«:
Die Lektüre von Goethetexten, vor allem gerade wohl wegen der kritisierten harmonischen Weltsicht Goethes, konnte in dieser Zeit also heilend wirken.
Produktive Rezeption – Drucke von Goethes Schriften: Schwerpunkte – »Trost bei Goethe«
Die verstärkte Goethelektüre und die Beschwörung seiner Gestalt als positive Größe hatte ihre Wurzeln in der Suche nach Orientierung, nach Trost und Hilfe zum Verstehen des Geschehenen. Das zeigte sich auch auf dem Buchmarkt mit einigen charakteristischen Publikationen. Wie bereits erwähnt, schilderte Ernst Wiechert z.B. in Der Totenwald die entwürdigende Situation im Lager Buchenwald. Es war nicht nur die Nähe zu Weimar und dem Ettersberg, die den Gedanken an Goethe aufkommen ließ. In der wenigen Freizeit half ihm auch die Lektüre: So »empfing ich eine tiefe Tröstung von der kleinen Schrift ›Trost bei Goethe‹.« (Wiechert, S. 50) Dabei handelte es sich um kleine, ansprechend gestaltete Bändchen in der Reihe »Die Tieck-Bücher« des Walther Scheuermann Verlags in Wien. Sie waren benannt nach Ludwig Tieck, um »an die Ideale der Romantik« zu erinnern. »Trost bei Goethe« erschien vermutlich schon vor 1936 und war besonders im Krieg weit verbreitet. Dieser Titel verkaufte sich bis 1949 etwa 241 000 mal. (Murray 352-357)
In den Bändchen fanden sich aber keine zusammenhängenden Texte aus Goethes Werken, sondern in geschickter Aufmachung zur leichten Lesbarkeit in einer schweren Fraktur aus der Vor-Goethezeit einzelne Sätze, kurze Abschnitte, manche sogar nur eine halbe Zeile umfassend. Wie in einer Anthologie waren die Texte nach weitgefassten Themen geordnet. Es gab aber keinerlei Hinweis darauf, aus welcher Zeit oder welchem Werk Goethes sie stammten. Der Leser konnte also an irgendeiner Stelle im Buch mit der Lektüre beginnen, denn es gab auch keinen klaren Aufbau. Goethe wurde hier zum Verfasser von Kalendersprüchen oder Lebensweisheiten heruntergestuft. Dies war ein beliebter Weg, sein komplexes Werk leichter konsumierbar, ihn tatsächlich einem breiten Publikum zugänglich zu machen, denn die geringen Anforderungen an Lese-Konzentration machten ja gerade die Erfolg der Büchlein aus. Dies war aber wohl kaum ein Ausweg, an den z.B. Beutler oder Becher gedacht haben dürften, als sie Goethes mangelnde Popularität beklagten.
Favorisierte Titel
Wie aber sah es mit Goethes Werken auf dem Buchmarkt aus ? Schon die äußeren Bedingungen für die Buchproduktion waren schwierig wegen der Regulierungen durch die Lizenzierungspolitik der Alliierten und den großen Mangel an Druck- und Einbandmaterialien jeder Art. Das hatte wiederum Folgen für die begrenzte Anzahl und Auswahl der Titel ebenso wie für deren dürftige Ausstattung. Der Verleger Rudolf Janssen in Lippstadt /Westf. sah sich z. B. 1946 genötigt, in der Ausgabe von Alfred Lück: »Michael. Geschichten und Gedichte« einen kleinen Zettel auf die Rückseite des Titelblatts zu kleben mit der Aufschrift: ›Die Absicht, dieses Buch mit festem Einband zu versehen, ließ sich leider wegen Mangels an Einbandmaterial nicht durchführen.‹
Die Zerstörungen durch die Bombardierungen waren unterschiedlich. So wurde etwa das Graphische Viertel in Leipzig, wo die meisten Verlage mit ihren Druckereien ansässig waren, schwer zerstört, während sie in Frankfurt weitgehend verschont blieben. Es fehlte auch an Heizmaterial für die Druckereien. Das erste Heft des Jahrgangs 1947 der Zeitschrift »Die Wandlung« in Heidelberg z. B. konnte erst Ende Februar statt Anfang Januar erscheinen, »weil keine Kohlen kamen und der Druck dieses Heftes von Woche zu Woche aufgeschoben werden mußte.« Damit waren auch die guten Wünsche zum neuen Jahr obsolet geworden, zumal »Ein Glückwunsch ... keine Hilfe gegen Frost und Hunger, noch weniger gegen Trauer und Verlassenheit« [ist]. (Wandlung, S. 3)
Die verstärkte Hinwendung zu Goethe spiegelte sich auch auf dem eher bescheidenen Buchmarkt der Zeit. Betrachtet man die Titel, die unter den schwierigen Bedingungen von Lizenzierung und Materialmangel in den Besatzungszonen auf den Markt kamen, so sieht man viele Sachtitel, die sich mit Fragen der Gegenwart und Zukunft beschäftigten, dazu viele ältere belletristische Titel, aber neuere Literatur in geringer Anzahl. Konsultiert man das »Deutsche Bücherverzeichnis, 1941-1950«, das alle in diesem Zeitraum in Deutschland erschienenen Titel erfasst, so fällt sofort ins Auge, dass es bei keinem Autor so viele Einträge gibt wie bei Goethe, nämlich sechzehn große Seiten mit engem zweispaltigem Satz in kleinem Schriftgrad. Hier wurden jedoch alle von und zu Goethe erschienenen Schriften angezeigt. Die Titel der Nachkriegszeit wurden aber transparenter in dem Verzeichnis von Walter Carstanjen, denn hier zeigte sich das spezielle Interesse an Goethe und die Gewichtung von einzelnen Titeln weitaus deutlicher. Führend war natürlich Goethes Faust in siebenundzwanzig Einzelausgaben und noch sechs weiteren Drucken in unterschiedlichen Reihen, von denen einige, wie z.B. ›Reclams Universalbibliothek‹, auch für die Schule bestimmt waren. Dazu kamen noch etliche Titel über den ›Faust‹ oder Schriften zu ›Faust-Ausstellungen‹, wie z.B. in Weimar oder Bremen. Dem folgten die ›Gedichte‹ in achtzehn Ausgaben, der ›Divan‹ in sieben Ausgaben, sowie sieben Einzelausgaben von ›Hermann und Dorothea‹. Dieses kleine Epos erschien auch noch in neun Reihen wie ›Schöninghs Textausgaben‹, wo auch ›Iphigenie auf Tauris‹ oder ›Egmont‹ zu finden waren. Allein von den ›Wahlverwandtschaften‹, die nicht als Schullektüre vorgesehen waren, kamen erstaunlicherweise sechs Ausgaben heraus. Neben dem ›Faust‹, in dem viele Menschen mit ihren furchtbaren Erfahrungen Hilfe suchten, und den ›Gedichten‹ gehörten also auch ›Hermann und Dorothea‹ zu den in dieser Zeit besonders gefragten Werken Goethes.
Der kleine Text Hermann und Dorothea wurde mehrfach publiziert, erfuhr aber, trotz seiner großen Beliebtheit in dieser Zeit, keine besondere Ausstattung. Die Gründe für die allgemeine Beliebtheit des Textes liegen auf der Hand: Das Epos im Hexameter behandelte wichtige Themen, wie Verlust, Flucht, Gewalt, Tod, Zerstörung auf der einen, Mitleid, Hilfe, Fürsorge und Liebe auf der anderen Seite. Und es dominierte eine heitere Grundstimmung und Lebensfreude, die die Menschen unmittelbar ansprachen. Ekkehart Krippendorff z. B. berichtete über seine persönliche Erfahrung in der Zeit des Zusammenbruchs›:
Hermann und Dorothea war bereits im 19. Jahrhundert sehr beliebt gewesen, sodass Viktor Hehn 1893 das Werk als »das Epos von der deutschen Bürgertugend, das Epos von der Familie und dem Privatbesitz, dieser Substanz des deutschen Geistes« beschreiben konnte. (Hehen, S. 45) Besonders hervorgehoben wurde die Gestalt von Hermann, dem »vollkommensten Bild des Goetheschen Mannesideals«. Er verkörperte das Wunschbild des redlichen Deutschen. Der Gebrauch des Textes in der Schule allerdings war schon nach dem Ersten Weltkrieg zurückgegangen. Er wurde z. B. 1925 noch an 40 Prozent der preußischen Gymnasien gelesen, 1933 waren es 26 Prozent und 1939 nur 5 Prozent. Beim Faust aber war es umgekehrt, bei ihm stieg die Lektürehäufigkeit von 37 Prozent 1925, auf 71 Prozent 1933 und 75 Prozent 1939. Die Gründe, warum Hermann und Dorothea, der »Inbegriff deutschen Lebens und deutscher Charaktere und Gesittung« im Lektürekanon marginal wurde, sind vielfältig. Mit dem veränderten Volksbegriff der NS-Zeit war der Stoff nur schwer zu vereinbaren gewesen. (Behr, S. 163-179) Es ist wenig erstaunlich, dass das Epos in der Nachkriegszeit wieder rasch zu großer Beliebtheit gelangte. Gern wurden nun das ›Menschlich-Gültige‹ und die Nähe zu Homer hervorgehoben, worin sich die Leser wiederfinden wollten.
Auch Reinhard Buchwald bemühte sich in seinem Buch Goethe und das deutsche Schicksal von 1948 den Lesern ›Hermann und Dorothea‹ wieder nahe zu bringen. Schon die Gestaltung dieses Bandes zeigte charakteristische Merkmale der Zeit des Mangels: Er erschien bei dem ›Münchner Verlag bisher F. Bruckmann‹, denn Bruckmann war noch nicht von den Alliierten lizenziert worden. Das Buch wurde bei R. Oldenbourg in München gedruckt (Verlags Nr. 760). Nach dem Impressum war es gesetzt in der GaramondTiemann, einer Antiquaschrift, tatsächlich aber wieder in der Unger-Fraktur, die im Dritten Reich sehr beliebt gewesen war. Die Gestaltung von Büchern war offensichtlich stark von Zufällen wie verfügbarem Material, Typenvorrat, Papier oder der Gewährung von Lizenzen abhängig, weniger vom Willen und Geschmack ihrer Verleger oder der Gestalter.
Nach Buchwald konnte das Epos wie ein »mächtiger sittlicher Ansporn«“ wirken und zwar nicht nur »seine ästhetische Vollendung, sondern sein neuer tief greifender Gehalt... und das innige Miterleben des deutschen Schicksals in jenen Tagen.« Für das bessere Verständnis der Gegenwart konstruierte Buchwald eine Parallele zwischen der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 und der Kapitulation von 1945. Seine Vorstellungen entsprachen ganz dem Grundmuster des Goethekults, denn durch ihn sollte sich auch jetzt eine Regeneration vollziehen:
Aber die ›Wendung zum Geiste‹ und die Idee der Nation, die durch ihre Kultur (›Kulturnation‹) definiert war – das waren Vorstellungen aus der Zeit vor der Reichsgründung. Es zeugt von der Hilflosigkeit der Nachkriegszeit, dass Buchwald versuchte, eine (falsche) Parallele zum 19. Jahrhundert zu konstruieren, um das Geschehen überhaupt begreifbar zu machen. Weiter empfahl Buchwald:
Für die Gegenwart mit den Verheerungen des totalen Kriegs und dem Ende eines Deutschen Reichs sollte mit diesem Goetheverständnis gleichzeitig eine Brücke zur Vergangenheit und in die Zukunft geschlagen werden. Goethe war dann nicht nur der ferne Dichterfürst, sondern ein Helfer in der Situation »eines ungeheuer sich mit uns vollziehenden Geschehens.« (Ebd. S. 40f.) Aber eine ›illusionslose Einsicht‹ fand auch bei Buchwald nicht statt. Der Krieg war offensichtlich wie das Wetter gekommen, dem man schutzlos ausgeliefert war. In einem einleitenden »Längsschnitt« über »Goethes Leben in seiner Verflechtung mit den weltgeschichtlichen Ereignissen seiner Zeit« wurden neben »Dichtung und Wahrheit« und anderen Quellen eine Parallele zwischen Goethes Leben und den Befreiungskriegen zu den Kriegsereignissen der Gegenwart konstruiert, etwa Goethes Ausspruch nach der Kanonade von Valmy (1792): »Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« (Goehte-Handbuch, BD. 3, S. 369-385) Er erhielt bei Buchwald eine Bedeutung, als sei er »1914 am Abend der Marneschlacht oder im letzten Krieg nach der Aufgabe von Stalingrad gefallen. Eine ähnliche Bedeutung hatten 1792 die Niederlage von Valmy und der dadurch eingeleitete Rückzug«. (Buchwald, S. 31) Diese abenteuerliche Parallelisierung verkennt nicht nur die unterschiedlichen historischen Situationen, sondern sie macht die Grenzen des Bezugs auf Goethe, ja den falschen Ton des Goethekults, überdeutlich. Der gravierende Unterschied etwa zwischen Valmy und Stalingrad war ja der, dass sich die preußischen Truppen 1792 aus militärischen Gründen zurückzogen, später aber Napoleon besiegten. In Stalingrad jedoch mussten die deutschen Truppen 1943 kapitulieren und in die Gefangenschaft gehen. Es war der Beginn der Niederlage in Osten und im Westen und endete 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation. Das Beispiel zeigt bestimmte Kompensationsmomente, die zum tradierten Goethekult gehörten, die aber in der Nachkriegszeit verstärkt zutage traten: Die Flucht aus der Realität, die Übersteigerung von Goethes historischer Gestalt, die überdehnte Auslegung seiner Schriften durch nicht haltbare Parallelisierungen sowie eine fundamentale politische Blindheit angesichts der tatsächlichen Geschehnisse im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg.
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Eine völlig andere, aber zeittypische Möglichkeit der Deutung von »Hermann und Dorothea« bot sich in dem religiösen Verständnis des Epos in Ferdinand Bergenthals kleiner Schrift Heimruf und Hoffnung in der Stunde der deutschen Entscheidung von 1947. Für den katholischen Pädagogen konnte man sich dieser Dichtung nur in religiöser Ehrfurcht nähern: »Wissen wir noch um das Geheimnis des Eros, um die Würde der Frau und Mutter, um den keuschen Zauber und das strenge Gesetz der bräutlichen Liebe?« (Bergenthal, S. 7) Auch das deutsche Volk, das offensichtlich an den vergangenen Geschehnissen unbeteiligt war, wurde hier nur in seinem vermeintlich positiven Charakter erkannt:
Wie beliebt »Hermann und Dorothea« in dieser Zeit und wie sehr das Epos zur Identifikation geeignet war, zeigt sich sogar bei Hans Grimm, der sich als Verfasser des Romans Volk ohne Raum von 1926 mit dem Thema der deutschen Kolonien einen Namen gemacht hatte. Er beendete sein Pamphlet »Antwort eines Deutschen. Die Erzbischofschrift‹ (Grimm, S. 219) von 1950 mit einem Zitat aus »Hermann und Dorothea«. Grimm entwickelte darin die Idee eines vereinten Europa, das nur aus England und Deutschland bestehen sollte. An den Schluss setzte er einige Zeilen aus dem 9. Gesang »Urania. Aussicht«: Dort heißt es »...und finden dereinst wir uns wieder / Über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe, / Umgebildet und frei und unabhängig vom Schicksal....« (Vers 273-278). Auch seine Schrift benötigte also zur Legitimierung ein Goethe-Zitat.
Faust
Von den Goethetiteln wurden, wie zu sehen war, neben »Hermann und Dorothea«, auch die Gedichtauswahlen sehr häufig veröffentlicht. Von Goethes »Faust« aber erschienen die meisten Ausgaben, so auch wieder in ›Reclams Universal-Bibliothek‹ in Leipzig. Wegen der schweren Zerstörungen, die auch den Verlag stark getroffen hatten, kam eine Neuauflage des ersten Teils von »Faust I« 1946, die des zweiten erst 1948 heraus. In der Neugründung des Reclam-Verlags in Stuttgart, als Folge der sich abzeichnenden deutschen Teilung, erschien 1949 der »Urfaust«. »Faust« hatte auch im Dritten Reich zum Lektürekanon der Schulen gehört. Ab 1939 war bei Reclam in Leipzig eine ›Schulausgabe‹ des gesamten Dramas erschienen, die aber von »Faust II« nur einige Teile enthielt. Im Nachwort zur Ausgabe von 1942 wurde der Verständnisrahmen deutlich abgesteckt: Es hieß, dass der »Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bewußt auf die Behandlung des vollständigen zweiten Teils« verzichtet habe, aber mit der Auswahl habe man zeigen wollen, »wie Faust zum Menschen der Tat wird«. (Hofstaedter , S. 193) Faust als Tatmensch, als »Kolonisator«, eine »Art von geistigem Protektor des Reichsarbeitsdienstes«, das war es, wie das Drama in dieser Zeit verstanden und vermittelt werden sollte. (Lecke, S. 166) In ein solches Schema ließ sich aber keines der Werkes Goethes pressen. Zum »Werther« schrieb deshalb z. B. 1944 der Schulmann L. Böhme:
In der Nachkriegszeit öffneten sich für den »Faust« neue Deutungsmöglichkeiten. Das Stück war auch auf den Bühnen präsent. In der ›Goethe-Festwoche‹ vom 21. bis 28. 8. 1949 brachten z. B. die Städtischen Bühnen in Frankfurt neben »Clavigo« und »Iphigenie« zweimal den »Urfaust« , einmal die »Faust-Szenen« von Robert Schumann sowie zweimal die Rezitation von »Hermann und Dorothea«. Auch die Literaturwissenschaft befasste sich erneut damit. Benno von Wiese z. B. betonte in »Faust als Tragödie« (1946) vor allem ›die Kategorie des Dämonischen‹.
Dieses Phänomen war schon in der Vorkriegszeit thematisiert worden, so etwa bei den Untersuchungen zu den »Wahlverwandtschaften« bei Walter Benjamin. Aber nach dem Kriege erhielt das ›Dämonische‹ jedoch neue Aktualität als Parameter für das Verständnis der jüngsten Vergangenheit, so auch nach den Erfahrungen mit Hitler. So schrieb Wiese über den »Faust« auch mit Blick auf die Gegenwart:
Das ›Dämonische‹ war offensichtlich eine Metapher für das Verständnis der Zeit, denn auch Werner Bergengruen spielte, wenn auch eher kritisch-ironisch, in seiner Rede zur Goethefeier von 1949 auf den vielschichtigen Begriff an:
Vom »Faust« erschienen in dieser Zeit verschiedene neue Ausgaben, von den sehr einfachen ›Münchner Lesebogen‹ mit den »Grundgedanken in einer Auswahl von Friedrich Würzbach« bis hin zu solchen mit geradezu bibliophiler Ausstattung – trotz des allgemeinen Mangels oder vielleicht auch gerade deshalb. Mit diesen Ausgaben in herausgehobener Ausstattung wollte man offensichtlich dem Werk, das für die Nation und ihre Identität so besonders wichtig war, auch eine ungewöhnlich qualitätvolle Gestaltung geben, es aus der Menge der grauen und unscheinbaren Drucke herausheben und im Umfeld der allgemeinen moralischen und materiellen Zerstörung als ein unbeschädigtes literarisches Dokument, ja als ein authentisches Zeugnis der deutschen Kultur auch deutlich sichtbar hervorheben. In dem engen Rahmen der gestalterischen Möglichkeiten konnten sogar einige Ausgaben mit geradezu bibliophilem Anspruch erscheinen:
1946: Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. Westheim bei Augsburg: Rost 1946. 206 S. 8°. – Der Text ist noch in der im Dritten Reich beliebten Unger-Fraktur gesetzt, der Einband von Lore Brentel gestaltet. Auf dem schwarzen Karton ist der in Silber gehaltene Titel aus kursiver Schrift in eine Vertiefung gesetzt.
1948: Goethe: Faust: Der Tragödie erster Teil. Aschaffenburg: Pattloch 1948. 203 S. 8° – Gedruckt bei Johannes Weisbecker in Frankfurt. Der Band ist auf gutes weißes Papier gedruckt, die Schrift aus der Weiß-Antiqua in einer großzügigen Typographie, die Sprecher in Rot und leicht eingezogen. Vor jedem Aktanfang findet sich eine Zeichnung, der Einband ist aus hellem Karton mit Leinenkaschur.
1948: Goethe: Faust [Urfaust]. Nach ältester Aufzeichnung. Mit Zeichnungen von Karel Svolinsky. Frankfurt a.M.: Der goldene Brunnen 1948. 119, 14 S. 4°. – Der bibliophile Band enthält die Ausgabe des Urfaust nach der Abschrift von Luise von Goechhausen und ist gedruckt in der neuen Georg-Hartmann-Antiqua, die zu diesem Anlass, dem 50jährigen Betriebsjubiläum Hartmanns bei der Bauerschen Druckerei, eigens entworfen und gegossen wurde. Die teilweise farbigen Illustrationen des tschechischen Künstlers Svolinsky am Beginn der einzelnen Akte zeigen überlängte Figuren mit starken Licht- und Schatteneffekten wie im Stummfilm. Die Bildvorlagen wurden in Stuttgart hergestellt und in Sprendlingen gedruckt. Die Auflage betrug vierhundert Exemplare, davon fünfzig auf Büttenpapier. Für die Zeit großer Knappheit waren nicht nur der bibliophile Aufwand, sondern vor allem die hohen Kosten für die Papier- und Materialbeschaffung, den Entwurf sowie die Gestaltung und den Guss einer neuen Schrift äußerst erstaunlich. Der Band enthält auch eine Beilage mit einem Text von Ernst Beutler über die Entstehung des »Urfaust«. Der Druck wirkt fast wie ein Werk aus ›Friedenszeiten‹ – bis auf die Lizenz-Nummer der US-Besatzung in winzigem Schriftgrad am Fuß der letzten Seite. Eigentlich hätte diese Nummer vorn beim Impressum stehen müssen, aber durch die Verbannung auf die letzte Seite sollte wohl der Anschein von Freiheit und Normalität erweckt werden, wie es z.B. auch gern von Insel Verlag in der Wiesbadener Neugründung gehandhabt wurde.
Hier ist noch eine andere Ausgabe zu nennen, die zwar in dieser Zeit geplant, allerdings erst sehr viel später realisiert wurde: Die Ausgabe von »Faust II« mit den Illustrationen von Max Beckmann. Der oben genannte Georg Hartmann, Leiter der Bauerschen Gießerei in Frankfurt a.M., beauftragte im Frühjahr 1943 den im Amsterdamer Exil lebenden Max Beckmann mit der Anfertigung von etwa 100 Zeichnungen für eine große Monumentalausgabe von Goethes »Faust II.« Wie Beckmann in seinem Tagebuch festhielt, entstanden die insgesamt 143 Zeichnungen, davon 81 ganzseitige Kompositionen und 62 Vignetten unter den schwierigen Bedingungen des Exils wie Krankheiten, Fliegeralarm und ständiger Bedrohung. Dennoch konnte Beckmann das Werk am 15. 2. 1944 abschließen. Schon vorher, am 14. 12. 1943 notierte er, dass Teile seiner Arbeit in Frankfurt im »erlauchten Kreis … einen großen Erfolg« gehabt hatten. Und am 18. 3. 1944 übergab er das Werk Hartmanns Kurier, Erhard Göpel. Das Echo war erfreulich: »Faust wurde unter Begeisterung schön abgenommen .« (Tagebücher, S. 85)
Nicht alle Zeichnungen sind im Tagebuch erwähnt, so Nr. 127. Auf der Rückseite des Blattes hatte Beckmann vermerkt: »5. Akt / Faust auf dem Balkon /5/ Von oben, welch ein singend / Wimern? [mit Hochstrich].« Die Stelle bezieht sich auf den Tod von Philemon und Baucis und die die Vernichtung ihres Häuschens im Wald durch einen von Mephisto gelegten Brand. Hier sind speziell die Zeilen Das Paar hat sich nicht viel gequält, / Vor Schrecken fielen sie entseelt. (Vers 11363 -11364) gemeint. Dieses Blatt ist nicht datiert. 1956 schrieb Beutler in seiner späten Deutung der Zeichnung:
Dies ist eine mögliche Deutung, aber nicht unbedingt stringent, zumal das erwähnte Paar, wie vorher auf Blatt 123: »Der Wanderer und Philemon und Baucis«, zu sehen, nicht ›eindeutig‹ als ›altes jüdisches Ehepaar‹ erkennbar ist, denn es steht neben einer Kapelle und es fehlen auch alle entsprechenden Merkmale und Symbole.
Man kann es aber vielleicht auch anders deuten: Auf dem Bild, Blatt 127, ist ein Stadthaus mit Parterre, zwei weiteren Geschossen und einem brennenden Dachstuhl zu sehen. Am linken Rand steht ein großer abgebrochener Baum. Unten vor dem Torbogen liegen die beiden Toten. Mit dem Wald, in dem Philemon und Baucis leben, passt aber ein Stadthaus nicht zusammen. Nun ist es vielleicht kein Zufall, dass am 26. 11. 1943 das Goethehaus im Frankfurt zum ersten Mal von Bomben getroffen wurde und der Dachstuhl abbrannte, also in der Zeit, als Beckmann an den Illustrationen zum 5. Akt arbeitete. Das Haus auf seiner Zeichnung gleicht dem Goethehaus und ein großer Baum steht auch am Ende des Hirschgrabens. Dass sich der Torbogen in Frankfurt aber neben dem Goethehaus befindet, dürfte nicht von großer Bedeutung sein, die Veränderung trug vielmehr zur Verdeutlichung des Sujets bei. Da Beckmann, der ja Frankfurt durch seine Lehrtätigkeit gut kannte, in ständigem Kontakt mit Hartmann und dem für ihn als Kurier tätigen Erhard Göpel stand, wird er auch von dem ersten Brand gehört haben. Die völlige Zerstörung des Hauses geschah erst am 22. 3. 1944, Goethes Todestag, aber da hatte Beckmann die Arbeit an »Faust II« bereits abgeschlossen. Das Bild kommentiert eindrucksvoll die Textstelle und die historische Situation: Die beiden Toten liegen vor ihrem brennenden Haus, das wie das Goethehaus für alle Werte des Dichters wie Humanität und Toleranz stand – all dies wurde durch das Dritte Reich, seine Barbarei und die Folgen zerstört.
An die Realisierung einer Druckausgabe von Beckmanns »Faust« war während des Krieges nicht zu denken. Nach dessen Ende aber nahm Hartmann den Gedanken an eine Publikation wieder auf und zeigte Ernst Beutler im Jahr 1946 erstmals die Beckmann-Zeichnungen: Beutler jedoch sagten die Bilder nicht zu. Sie waren natürlich viel eigenwilliger und markanter als die eher gefälligen Bilder Svolinskys, die später, 1948, für Hartmanns eigene Festgabe verwendet wurden. Nach der Abschottung im Dritten Reich, in der die moderne Kunst und speziell der Expressionismus verfemt gewesen waren und nach Beutlers Rückzug in die Goethe-Tradition als intellektuell-moralische Rettung, waren ihm die Beckmann-Bilder für »Faust II« zu fremd: »Nicht weil ich die Bilder ablehnte. Wohl aber, weil mir die Koppelung unmöglich schien.« (Beutler, S. 159) Aus ähnlichen Gründen hatte er ja auch Thomas Manns »Lotte in Weimar« abgelehnt. Tatsächlich erschien die Ausgabe nach vielen Schwierigkeiten mit den Reproduktionen der Bilder erst im Jahr 1957, mehr als zehn Jahre nach Abschluss der Zeichnungen, als keiner der beiden Akteure, Beckmann und Hartmann, mehr lebte. Das Werk kam gleichzeitig bei der Bauerschen Gießerei und beim Prestel Verlag in München heraus. Dass diese Ausgabe zum 200. Geburtstag Goethes 1949 in Frankfurt nicht zustande kam, lag zwar an technischen, speziell Reproduktionsproblemen, entsprach aber auch den Parametern des Goetheverständnisses und dem intensiven, rückwärts gewandten Goethekult im Westen.
Reaktion im Osten
Auch im Osten Deutschlands hatte man sich auf dem 200. Geburtstag Goethes vorbereitet. Welch bedeutende, ja politische Rolle im Umfeld der meist unansehnlich, grauen Bücher auf brüchigem Papier eine Ausgabe in besonders schöner Ausstattung und Gestaltung haben konnte, ist an der »Festgabe zum Goethejahr 1949« zu sehen, die der ›Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Landesleitung Thüringen‹ in Weimar unter sowjetischer Lizenz herausgab. In den »Leitgedanken zum Goethejahr« hatte es dort geheißen:
Zu diesem Zweck gab der Kulturbund einen äußerst bibliophilen Druck in Großoktav und nahezu quadratischem Format im festen Einband und hell getöntem Überzugspapier heraus. Mittig auf dem Einband war der Name ›Goethe‹ in Rot gedruckt, an der Ober- und Unterkante die Jahreszahlen 1749 und 1949. Der Band enthielt auf 52 Seiten Texte des jungen Goethe, z. T. aus den »Frankfurter gelehrten Anzeigen« von 1772, die Bauernszene aus dem 5. Aufzug des »Urgötz« mit einem Faksimile der Handschrift sowie Teile aus den »Tag- und Jahres-Heften« von 1794. Die Auswahl sollte den jungen Goethe als engagierten Kritiker der feudalen Verhältnisse charakterisieren. Dazu wurde aber nicht an teurem und bibliophilem Aufwand gespart. Die Texte waren auf kräftigem, handgeschöpften Bütten im Werkbuchdruck und die zahlreichen Reproduktionen von Goethe-Zeichnungen im Lichtdruck auf feineres, glattes Papier gedruckt. Das Werk wurde von Albert Kapr gestaltet, der zwar in Stuttgart an der Technischen Hochschule seine Ausbildung erhalten hatte, aber 1948 nach Weimar an die Hochschule für Architektur und bildende Kunst berufen wurde. Er wurde in der DDR zu einem der bedeutendsten Hochschullehrer für Buchgestaltung, der auch mehrere wissenschaftliche Werke vorlegte.
In dieser ›schlechten Zeit‹ war ein solch repräsentativer und kostbarer Band mit den verwendeten Materialien und der Druckqualität weitaus ungewöhnlicher als die »Faust«-Ausgabe für Hartmann in Frankfurt. Das Besondere war hier die extrem hohe Auflage von 3000 Exemplaren. Schon allein die dazu benötigte Papiermenge war auf dem normalen Markt kaum zu bekommen gewesen. Einen solchen ästhetischen Aufwand mit wertvollem Papier und Druck konnte nur eine staatliche oder Parteiorganisation leisten. Die festliche Buchausstattung entsprach dem Goethebild der frühen DDR, die den jungen, revolutionär gesinnten Dichter hervorhob. Er stand für den Neuanfang mit Frische und Optimismus, fern der westdeutschen Debatten um Goethe oder dem Goethekult. Mit der Ausstattung wollte man auch bewusst den Westen übertrumpfen, der nur wenige ansehnliche Ausgaben von Goethe-Texten hervorgebracht hatte, mit dem Projekt von »Faust II« mit Beckmanns Illustrationen aber vorerst gescheitert war. Dass ein solch aufwendiger ›Bücherluxus‹ in der Zeit sich überhaupt realisieren ließ, hatte politische Ursachen in der beginnenden Ost-West-Konfrontation, in der Goethe auf beiden Seiten instrumentalisiert wurde.
Satire
Es ist verständlich, dass bei dem großen Kult um Goethe auch die Satire nicht fern war. Erich Kästner sprach sogar von einem „Goethe-Derby über die klassische 200-Jahr-Strecke“, während Elisabeth Langgässer die Zeitstimmung mit dem Begriff einer „allgemeinen Goethepsychose“ belegte. (Dtsche. Kulturgeschichte, S. 154) Es entstand jedoch kein größeres zeitgenössisches Werk, das sich etwa mit dem aktuellen Goethekult und seinen Projektionen von Goethes Größe befasst hätte – dazu fehlte vermutlich die Distanz und die Kraft. Stattdessen erschien pünktlich zum 200. Geburtstag Goethes eine neue Ausgabe von Friedrich Theodor Vischers »Faust. Der Tragödie dritter Teil« von 1862, »treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky«. Es war also ein Rückgriff auf das 19. Jahrhundert, mit dem man die Gegenwart beschreiben wollte. Vischer hatte sich die Überphilologisierung der Goethetexte in seiner Zeit zum Thema gemacht und maß »Faust II«, wie Borchmeyer feststellte, an den »Maßstäben seiner hochklassischen Ära, … um den späten Goethe zu negieren.« Der zweite Teil des »Faust« war z.T. auf großes Unverständnis gestoßen und erschien Vischer (nicht nur ihm) wegen der Neigung zum »Allegorisch-Reflexiven und Esoterischen« als Gegenstand für den »kritischen und parodistischen Kampf«“ geeignet zu sein. (Borchmeyer, S. 472f.)
Die Ausgabe kam bei dem mit US-Lizenz versehenen Paul Steegemann-Verlag in Berlin heraus, der 1934 von den Nazis beschlagnahmt und liquidiert worden war. Steegemann versuchte 1949 (vergeblich) seine Verlagstätigkeit wieder aufzunehmen mit der Reihe: »Bank der Spötter. Scherz/ Satire/ Ironie und tiefere Bedeutung. Eine Reihe im Magazin-Format / Holzfreies Papier / Kartoniert/.« Es wurde also nicht nur das geplante Programm angekündigt, sondern auch die Ausstattung, die in dieser Zeit einen besonderen Aussagewert hatte. Die Publikation richtete sich sehr bemüht-satirisch
Einer der Titel dieser Reihe war neben »Ich war Hitlers Schnurbart« von Günter Neumann auch »Orpheus in der Unterwelt«, eine Parodie von Werner Finck und Wilhelm Meissner -Ruland. In dieses eher unpassende Umfeld mit neuen parodistischen Texten zum Zeitgeschehen wurde auch Vischers »Faust. Der Tragödie dritter Teil« platziert, vermutlich um sich an den Goethe-Kult anzuhängen und ihn zu konterkarieren. Die gelehrte Satire aber, erstmals 1862 in Tübingen erschienen, war in dieser leichtgewichtigen Gesellschaft offensichtlich fehl am Platze. Dafür sprach schon, dass man den langen und schwer lesbaren Text nur mit engem, zweispaltigen Satz, wie ein wissenschaftliches Werk, in den Quartband mit 48 Seiten hatte zwängen können.
Das konnte auch Werner Fincks »Surrealistisches Vorwort« nicht überspielen, in dem es hieß:
Dann aber ging der satirische Ton doch in Ernsthaftigkeit über, und Finck schrieb mit Blick auf die beginnende deutsche Teilung:
O weh ! Hinweg! Und laßt mir jene Streite
Von Tyrannei und Sklaverei beiseite:
Mich langweilt's; denn kaum ist's abgetan,
So fangen sie von vorne wieder an;
Und keiner merkt: Er ist doch nur geneckt
Vom Asmodeus, der dahintersteckt.
Sie streiten sich, so heißt's, um Freiheitsrechte;
Genau gesehn, sind's Knechte gegen Knechte.«
(Faust II, 2. Akt, Laboratorium, V. 6956-6963)
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