Renate Solbach: Sarkophag

Ein Europa, das schützt

Der tiefste Kern der Gefährdungen Europas liegt im Realitätsverlust. Denn das Rettende kann nur mit der Gefahr wachsen, wenn diese auch erkannt und benannt werden darf. Realitätsverluste kann man sich nur so lange leisten wie Gefahren noch in räumlicher und zeitlicher Entfernung verbleiben. Heute haben sich die Bedrohungen Europas soweit angenähert, dass sie nicht mehr länger abstreitbar sind. Dies gilt vor allem für eine

– antisäkulare und antiliberale Islamisierung, die bis in Europas Städte vorrückt. Die Reservearmee junger Männer, die bestenfalls durch Gewalt nach oben kommt, geht in die Millionen. Hierbei steht allen zivilisierten Staaten ein langer erbitterter Eindämmungskampf bevor. – für die Migration aus dem Nahen Osten und Afrika. Sie strebt auf friedliche Weise nach Europa, was humanistische Europäer erst recht wehrlos macht. – für Chinas totalitären Ökonomismus, der alles dem eigenen Wachstum unterwirft. Mit dem Seidenstraßenprojekt ist es den Chinesen gelungen, die europäische Handelsunion durch bilaterale Verträge mit einzelnen Staaten aufzubrechen. – Europas Selbstbehauptung gewinnt durch die schwindende Bereitschaft der USA, die Europäer gegen Feinde zu schützen, an Dringlichkeit. Europa könnte in einer neuen bipolaren Welt zwischen die Machtpole USA und China geraten.
 

Die Europäer stehen vor der Entscheidung, ob sie in einer allein noch möglichen multipolaren Weltordnung Objekte anderer Machtpole sein oder ob sie einen eigenen Machtpol bilden wollen. Die EU ist unter der Mehrheit ihrer Bürger immer noch populär. Nur eine Minderheit möchte aus der EU aussteigen. Auch die eher europakritischen Parteien haben nach dem Brexitchaos den Austritt aus der EU aus ihrem Programm gestrichen.

Aber wie steht es um den Willen zur Selbstbehauptung? Die Hoffnung, dass sich die Europäer durch Verträge und vertraglich abgesicherte politische, wirtschaftliche und soziale Verflechtungen auf Gedeih und Verderb so eng aneinander angekettet haben, dass sie von der Furcht des Untergangs aller zusammengehalten werden, droht zu schwinden. (Armin G. Wildfeuer, Auf der Grundlage gemeinsamer Werte. Das Narrativ der Wertegemeinschaft und das Ethos der Europäischen Union, Mönchengladbach 2019, S. 15)

Einige europäische Länder erfüllen im Handelskrieg bereits penibel die amerikanischen Forderungen und schließen ihre Märkte für Huawei und andere High-Tech Bereiche. Andere haben sich in bilateralen Verträgen mit China auf eigene Wege begeben. Dabei lägen Europas Chancen in der Selbstbehauptung der Regeln seines Binnenmarktes. Italiens Bruttosozialprodukt ist größer als dasjenige Russlands und Europas Binnenmarkt erwirtschaftet gemeinsam doppelt so viel wie China.

Eine nach außen einige EU wäre ein Mittelweg zwischen Globalismus und Nationalismus. Emmanuel Macron fordert ein ›Europa, das schützt‹. Den allmählichen Übergang von der Hippiephilosophie eines ›weltoffenen Europas‹ zu einer gesteuerten Einwanderungspolitik erkennen wir nicht nur bei den üblichen Verdächtigen Polen, Ungarn, Tschechien, Österreich und Italien. Auch ehemals so offene Staaten wie die Niederlande oder Schweden haben sich dem Realitätsprinzip von den Grenzen des Möglichen zugewandt.

Statt um Illusionen und Regressionen würde eine europäische Realpolitik nüchterne Gegenseitigkeiten in den Vordergrund stellen: Hilfe zur Selbsthilfe in der Entwicklungspolitik, eine politisch gesteuerte Migrations- und Einwanderungspolitik, kontrollfähige Türen statt offener Grenzen, eine Handelspolitik des Gebens und Nehmens.

Gemäß dem so oft beschworenen Subsidiaritätsprinzip bräuchte die EU stattdessen eine bessere gegenseitige Ergänzung ihrer supranationalen, internationalen und nationalen Ebenen. Nationalstaaten sind einer Staatenunion überlegen, wo sie eine den Problemen und dem Orientierungsvermögen angemessene Größenordnung aufweisen. In einem subsidiären Mehrebenensystem gebührt ihnen der erste Platz. Dort aber, wo der Nationalstaat zu kurz greift, in der Asyl-, Grenz-, Sicherheits- und Außenpolitik, wäre der Staatenverbund Europäische Union umso dringender gefordert. Mehr Vielfalt nach innen und mehr Einheit nach außen – dies wäre eine Formel für eine erneuerte Europäische Union unter den Bedingungen der Globalisierung. (Heinz Theisen, Einheit nach aussen – Vielfalt nach innen. Die EU muss sich dringend wandeln, um zu überleben, in: Neue Zürcher Zeitung v. 18.6.2019)