Renate Solbach: Sarkophag

Wir sind so gewöhnt, Gesetz und Recht im Sinne der Zehn Gebote und Verbote zu verstehen, deren einziger Sinn darin besteht, dass sie Gehorsam fordern, dass wir den ursprünglich räumlichen Charakter des Gesetzes leicht in Vergessenheit geraten lassen.
Hannah Arendt

Wenn große Teile der entwurzelten europäischen Massen fragwürdigen Heilsbringern folgen und nicht einmal davor zurückschrecken, ein krankes Kind als neuen Messias zu verehren, ist es an der Zeit, über jenen Sinn von Gesetz zu sprechen, der durch die mosaische Sinnverschiebung aus dem Gemeinsinn zu verschwinden droht: Wer heute ein beliebiges Lexikon auf- und den Begriff Gesetz nachschlägt, wird Definitionen finden, die mehr oder weniger deutlich auf die mosaische Sinnverschiebung von Gesetz zurückgehen, eine Verschiebung, die, um eine Formulierung von Jan Assmann zu verwenden, »entscheidender als alle politischen Veränderungen die Welt bestimmt hat, in der wir heute leben« (Die Mosaische Unterscheidung, München, 2003, S. 11). Gesetz ist jetzt eine unbedingt geltende Vorschrift, ein Gebot des Herrn, dem Gehorsam zu leisten ist. Ich kann hier aus Zeitgründen nur sehr kurze Stichpunkte zu den Auswirkungen dieser Sinnverschiebung geben: man denke an die Naturrechtstradition, an Kants Formulierung, dass der Verstand der Natur ihr Gesetz vorschreibt, an die Vorschrift des Moralgesetzes, den kategorischen Imperativ und vor allem an den verhängnisvollsten Moment der Moderne, als bei Hegel der ursprüngliche Gegensatz von Gesetz und Bewegung in das Bewegungsgesetz der Geschichte aufgehoben wird. Der transzendente Gott wird zur immanenten Geschichte. Das ›es gibt‹ der Zeit verschwindet, das Gesetz der Dialektik schreibt jetzt auch der Zeit Bewegung und Richtung vor, eine Zuspitzung der Sinnverschiebung mit gewaltigen Folgen. Marx wird von den wissenschaftlichen Entwicklungsgesetzen der Geschichte, Darwin von denen der Natur reden. Das Gesetz schreibt jetzt der Zeit die Notwendigkeit der Bewegung vor und ermöglicht die Rolle des Exekutors. Dieser spricht nicht in seinem Namen, nicht im Namen seines Landes, nicht im Namen eines ›politischen Wir‹, also von solchen, die ihn eigens dazu autorisiert haben, sondern im Namen eines übergeordneten Gesetzes, das der gesamten Menschheit die Richtung der Bewegung vorschreibt. Als bloß ausführendes Organ anderswo beschlossener Notwendigkeiten verlieren die Menschen in diesem Sinnhorizont Freiheit und Verantwortung. Arendts Hinweis auf den fast vergessenen, ursprünglich räumlichen Sinn von Gesetz, den ich hier als Motto vorangestellt habe, erscheint in einem Kontext, in dem ihr deutlich wird, dass die »Herrschaft des EINEN« an Auschwitz nicht ganz unschuldig gewesen sein kann, wie es in den Briefen an Jaspers heißt (Briefwechsel 1926 -1969, München 1993, S. 202) und ihr die Frage dringlich wird, wie denn überhaupt die Vorstellung von Herrschaft in den politischen Bereich eingedrungen ist, dem sie ursprünglich fremd war. An einer Stelle, die ich als Schlüsselstelle für ein vertieftes Verständnis des Arendtschen Denkens einstufe, spricht sie von der »an Feindseligkeit grenzenden Spannung zwischen Philosophie und Politik«, die »wie ein Fluch auf der abendländischen Geistesgeschichte gelegen« habe. Erst wenn wir beginnen zu ahnen, was sie alles bei dem außergewöhnlichen Wort Fluch mitdenkt, werden wir etwas von der klugen Frau verstanden haben (Über die Revolution, erste Fußnote zum 6. Kapitel Tradition und Geist der Revolution; dass François Furet in »Das Ende der Illusion« vom ›Fluch der revolutionären Idee‹ spricht, ist nur einer von vielen Bezügen, S. 50).

Gesetz kommt von setzen. Der Mensch, der sich setzt, beendet seine Bewegung und besetzt eine Stelle. Wo mehrere Menschen sich setzen, beenden sie durch die gemeinsame Handlung der Gesetzung ihre Bewegung und nehmen je unterschiedliche Plätze in einem Raum ein, der durch diese Gesetzung allererst – zwischen ihnen und um sie herum – entsteht. Um den Sinnunterschied auch sprachlich deutlich zu machen, werde ich den Begriff Gesetz nur verwenden, wenn der seit langem eingeschliffene Sinn, die Vorschrift gemeint ist und das etwas sperrige Wort Gesetzung, wenn die gemeinsame Handlung im Vordergrund steht. Die Gesetzung teilt und grenzt Innen von Außen ab, sie friedet ein, verteilt Plätze im Innen und eröffnet Zwischenräume. Das älteste Gesetz – so sagt man – ist das der Verteilung der Beute. Es entsteht genau in dem Moment, in dem die Bewegung mit äußerster Anspannung ihr Ziel erreicht und die Tötungsgewalt, die zur Erlegung des Wildes gebraucht wird, ihre maximale Kraft hervorbringt. Die nach außen hin sinnvolle Gewalt droht, nach innen gewendet, ins Negative umzuschlagen. Eine Selbstdezimierung würde die Überlebensfähigkeit nicht nur der Jäger, sondern des gesamten Clans gefährden. Das erste Gesetz entsteht also in genau dem Moment, in dem die Tötungsgewalt zur Gefahr wird und so aus den Menschen, die sich ihr ausgesetzt erfahren, Gefährten macht. Die Gefahr betrifft die Gefährten gleichermaßen, sie ist etwas, das sie – sowohl miteinander, als auch gegenüber der Gefahr – teilen. In der Ausgesetztheit gegenüber der Gefahr sind die Gefährten Gleiche, aber dieser Sinn von Gleichheit ist ein anderer, als eine Gleichheit, die dadurch entsteht, dass sie alle von ein und demselben Schöpfer nach seinem Bilde geschaffen wurden. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob man gegenüber der Gefahr oder vor Gott gleich ist. Brüder bleiben Brüder, weil sie keine Gefährten werden können oder wollen. Als Kinder verharren sie im Haus des Herrn und überlassen diesem die Gefahrenabwehr. Nietzsche nannte sie die letzten Menschen. Für die Gefährten ist jeder einzelne unverzichtbar, nur versammelt sind sie der Gefahr gewachsen, bei den Brüdern kann die Frage der Auserwähltheit zu mörderischer Rivalität ausarten.

Der eigentliche Sinn von Gesetz ist nicht die Vorschrift, sondern die Einhegung und Verteilung. Innerhalb einer Verteilung der Plätze entstehen Verhältnisse, auch Rangordnungen und hierarchische Bezüge, der Platz des Souveräns aber bleibt leer und man darf daran erinnern, dass die letzten im vollen Sinn dauerhaft erfolgreichen politischen Revolutionen auf dem europäischen Kontinent, die die Gesetzung ihres Landes gegen die Herrschaft des Einen behaupten konnten und zur Entstehung der Republik der vereinigten Provinzen der Niederlande führten, ohne die Figur des Souveräns auskamen, eine, wie von Johan Huizinga bemerkt wurde, eigenartige Anomalie, die, gerade im Unterschied zur Französischen Revolution, auch bei der amerikanischen Revolution wieder deutlich hervortrat, wie Arendt bemerkte.

Der ursprüngliche Sinn der Gesetzung ergibt sich aus der gemeinsamen Angstbewältigung und Gefahrenabwehr. Inmitten einer von der Notwendigkeit des Tötens und Getötet-Werdens durchherrschten Natur eröffnet und begrenzt die Gesetzung einen freien Zeit-Spiel-Raum, der die Zwänge der Gewalt draußen zu halten sucht. Die Gesetzung schafft eine kleine Oase der Friedfertigkeit, sie friedet ein. Es isst sich angstfreier und genussvoller, wenn man nicht jeden Augenblick gewärtig sein muss, von seinem Nebenesser erschlagen zu werden. Als friedlos und vogelfrei dagegen galt lange Zeit derjenige, der, weil er sich gegen die Rechtsordnung der Gemeinschaft vergangen hatte, wieder aus der Gesetzung heraus gesetzt wurde. Ist es nicht bemerkenswert, dass sich der Zusammenhang zwischen einem aus dem Drumherum herausgelösten Raum und Friedfertigkeit sprachlich fast nur noch im Begriff Friedhof erhalten hat? Haus- oder gar Landfrieden sind außer Gebrauch geraten.

Wer sesshaft wird, ein Stück Land erobert oder erwirbt, will bleiben. Er richtet sein in-der-Welt-sein auf Dauern ein. Sein Modus ist wohnen. Was er einzäunt, einrichtet, hegt und pflegt, soll ihn selbst überdauern. Der mit viel Mühe zivilisierte Zustand soll auch der nächsten Generation übergeben werden und ihr ein friedliches Zusammensein ermöglichen. Wohnlichkeit braucht Zeit. Sieht man jeden Tag die gleichen Gesichter aus den gleichen Häusern kommen, entsteht auch zwischen den Häusern Gewohnheit. Mit zunehmender Vertrautheit schwindet das mehr oder weniger ängstliche Unbehagen, das gegenüber Fremden stets angebracht ist. Öffentliche Räume können unbeschwert und frei von Sorge genutzt werden. Die Gesetzung, in die jedes Neugeborene mit seinem Namen eingesetzt wird, gewährt einen gesicherten Platz in einer gemeinsamen Welt. Auch die Häuser bekommen Namen. Sie werden Teil der Geschichten, die erzählt werden. Über Generationen bleiben sie in Familienhand. Solche Häuser geben Stabilität und Sicherheit. Nach einigen Generationen kommt man aus ›gutem Hause‹. Die Gabe der Zeit lässt aus Gewohnheit Sitte und aus Sittlichkeit Recht erwachsen. Die Güte des Rechts war sein Alter. Je mehr Generationen mit diesem Recht gut leben konnten, desto mehr wurde das Recht zum guten alten Recht. Fritz Kern hat es berichtet (Recht und Verfassung im Mittelalter, Tübingen 1958 ). Die dauernde Zeit gab dem Recht seine eigene Würde. Je älter es wurde, desto weniger traute man sich, es aus einer bloßen Tageslaune heraus zu ändern. Gegenüber dem guten alten Recht entstand ein Gefühl, das heute fast vergessen scheint: Scheu.

Die Städte beenden das landlose, umherziehende Nomadenleben. Das hat Folgen für den Charakter der Bindungen. Die Bindung des Raumes ersetzt jetzt die des Blutes. Hesiod hat es bereits trefflich formuliert:

Wer dich liebt, den lade zum Mahl, und lasse den Hader.
Doch wer nahe dir wohnt, den lade am meisten zum Mahle.
Denn wenn unverhofft ein Unglück im Dorf dir begegnet,
gurtlos kommen die Nachbarn, die Vettern gürten sich erst noch. (Erga, 341)

Die Orestie von Aischylos, uraufgeführt 458 v. Chr. vollendet bei den Erfindern des Politischen den Übergang von der Blutrache zwischen den Geschlechtern zum Recht innerhalb der Polis. Das Volk, das sich selbst regiert, beendet die Vorherrschaft der Clans. Aus der allmählich wachsenden Gewohnheit einer Bindung des Raumes entstanden die Landsleute und es ist kein Zufall, dass sich der Widerstand gegen den Versuch, den ganzen Globus in eine einzige Massenbewegung zu entsetzen als ›we want our country back‹ artikuliert. Dass das englische Gewohnheitsrecht schon stark und ausgereift genug war, um den Übergriffen eines theologisch-systematisch von oben deduzierten, ursprünglich fallbezogenen römischen Rechts Widerstand entgegen halten zu können, macht ein Element der Besonderheit der englischen im Vergleich zur kontinentaleuropäischen Geschichte aus. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg waren in den ländlichen und im Vergleich zu den größeren Städten nur wenig oder gar nicht verwüsteten Regionen Deutschlands die Bindungen des Raumes Teil des Gemeinsinns: In einem Schlüsseltext der Nachkriegszeit schildert Bernward Vesper, wie anlässlich einer bevorstehenden Schlachtung von zwei Schweinen der Lehrer den Schülern »eindrücklich den Wert der alten Überlieferung erläuterte, wonach Nachbarn sich in jedem Dorf die ersten frischen Würste, ein Stück Lamm, eine Lende vom Schlachtfest, einen Eimer Brühe zuschicken, eine Gabe, die, sobald das eigene Schwein, das den Sommer über im Koben gemästet worden, gefallen, erwidert werden musste.« Auch solche, die die Gabe nicht erwidern konnten, weil sie keine eigenen Schweine hatten, wie Lehrer und Pfarrer, durften nicht übergangen werden (Die Reise, Frankfurt 1977, S. 296).

Auf die Frage, warum im 20. Jahrhundert ausgerechnet die Juden mitten in den Sturm der Ereignisse gerieten, gibt Arendt eine so einfache wie schwer zu tragende Antwort: weil sie so unpolitisch waren. Nach dem Verlust des Tempels hatten sie weder Land, noch Regierung, zerstreuten sich und fielen auf einen vorpolitischen Zustand zurück. So waren sie gezwungen, in der ohnmächtigen Absonderung zu verharren und sich unter den Schutz des Herrn zu begeben. Israel hat daraus die Konsequenz gezogen, die Deutschen fliehen seither vor der Verantwortung. Arendt hat frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass im Kampf um die Herrschaft des Einen die jüdische Volksgemeinschaft gerade deshalb sowohl zum Modell wie zur schärfsten Rivalin der Nazi-Volksgemeinschaft werden konnte, weil sie wie diese auf einer vorpolitischen Bindung des Blutes beruhte (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 55f, S. 85; Disraeli »war der erste Europäer, der viel radikaler als später Gobineau und viel konsequenter als die wissenschaftlich verkleideten Krämerseelen behauptet hat, dass ›Rasse alles‹ sei und auf dem ›Blut‹ beruhe“; ebd. S. 138; das hat Folgen für die Nazi-Ideologisierung, denn im Unterschied zum Terror, der willkürlich jeden Beliebigen treffen kann, bedarf die Ideologie eines realen Anhalts, um die Massen zu erreichen).

Während im Mittelalter auf dem Kontinent noch feudale Zustände herrschten, mauserten sich auch nördlich der Alpen die ummauerten und stark bewehrten Städte zu Oasen der Freiheit. Stadtluft macht frei, hieß es. Ein Leibeigener, der sich in den Schutz einer freien Stadt begab, war nach Jahr und Tag ein freier Mann. Die schützenden Mauern und die Eintracht der Schwurgemeinde garantierten Freiheit und Sicherheit. Sobald man den eigens geschaffenen Rechtsraum der Stadt verließ, galt wieder die Gewalt des Stärkeren. Auf See herrschte völlige Rechtlosigkeit. Heute ist es umgekehrt: die Städte werden zu Schlachtfeldern der Gewalt. Wer noch halbwegs gesittete Zustände erstrebt, muss aufs Land ziehen. Die weitreichende Bedeutung dieses Übergangs von der Bindung des Blutes an die Bindung des Raumes (später wird man von Gebietskörperschaft versus Personenverband sprechen) wurde erst in der Rückschau deutlicher wahrnehmbar. Die als Notlösung aus den Religionskriegen entstandene und an der Herrschaft des Einen ausgerichtete europäische Konstruktion einer Trennung von Gesellschaft und Staat, die den verantwortlichen Vollbürger zum atomisierten gesellschaftlichen und privaten Individuum degradierte, alle öffentlichen Aufgaben der Gesetztheit an den Staat monopolisierte und damit erst die Voraussetzung der Anfälligkeit für totalitäre Bewegungen schuf, konnte seine Kernaufgabe der Aufrechterhaltung der Rechtsordnung nicht erfüllen und wurde von Bewegungen überrollt. An diesem Zustand hat sich bis heute nichts Wesentliches geändert. Dass der Rechtsstaat das Recht auch gegenüber heutigen Heils- und Erlöserbewegungen nicht halten kann, demonstriert die gegenwärtige hypermoralische Zuspitzung. Wer sich dem totalen Anspruch der Bewegung verweigert, wird zum ›Feind der Menschheit‹ erklärt und entrechtet. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob es sich um einen Rassismus des Blutes oder einen der Gesinnung handelt, ob der Auserwähltheitsanspruch sich als Herrenrasse oder Herrenmoral artikuliert. Beide legen einen absoluten Unterschied zugrunde, gegenüber dem alle anderen Unterschiede verschwinden. In einem der dichtesten Kapitel von Elemente und Ursprünge schildert Arendt am Beispiel der Buren, wie sich angesichts einer umfassend feindlich erfahrenen Umwelt innerhalb weniger Generationen zivilisierte Holländer in gesetzlose Barbaren rückverwandeln. Am Ende bleibt nur noch die Vorstellung der Auserwähltheit im Angesicht des einen Herrn, die die weißen Barbaren von allen anderen Barbaren rundherum unterscheidet. Wer diesen Blick zurück als Nostalgie oder Melancholie denunziert, übersieht, dass der Nationalstaat kontinentaleuropäischer Prägung im 20. Jahrhundert dem Ansturm totalitärer Bewegungen ebenso wenig standhielt, wie die Ordnung der Moderne dem Einbruch archaischer, vorpolitischer Clanstrukturen hilflos ausgesetzt ist. In der heute zur Ideologie verkommenen ›Zivilgesellschaft‹ gibt es keine Gefährten. Der vom vorlauten Gesinnungspöbel verketzerte Rolf Peter Sieferle war einer der ersten, der das klar erkannt hat. Wer im anderen nur den Menschen sieht, bleibt blind für den Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei. Die Brutalisierung der Verhältnisse, die wir derzeit erleben, versetzt das Land in einen Zustand der Barbarei, der längst überwunden schien. Wer den moralischen Vorschriften verantwortungsloser Kinder hinterher rennt, darf sich nicht wundern, wenn er kurz darauf keine öffentlichen Räume mehr unbeschwert genießen kann. Die veröffentlichte Meinung der Deutschen scheint heute politisch so unbedarft, wie die Vorstellungen der Juden vom Schutz durch den Souverän, die, als die antisemitischen Bewegungen entstanden, die heraufdämmernde Gefahr nicht bemerkten. Es verwundert nicht, dass Stimmen laut werden, die die aktuelle Lage Europas mit dem Untergang des römischen Imperiums vergleichen. Um zu erahnen, was auf dem Spiel steht, möge man sich nur daran erinnern, dass der Stand der Wasserversorgung in der Stadt Rom zur Zeit Christi Geburt erst in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder erreicht worden ist.

Dass der Mensch frei geboren sei, aber überall in Ketten liege, ist einer der dümmsten und verantwortungslosesten Sprüche, die je in die Welt gesetzt worden sind. An einem Neugeborenen ist gar nichts frei, es ist vollständig abhängig von der Mutter, die ›gut genug‹ sein muss, damit aus einem natürlichen Lebewesen eine menschliche Person werden kann. Ein aus dem abgegrenzten und eingehegten menschlichen Schutzraum den Gewalten der Natur ausgesetztes Kind ist dem sicheren Tod geweiht, das belegen schon die mythischen Erzählungen von den ausgesetzten Kindern, die von wilden Tieren aufgezogen wurden. Sie werden gerade deshalb tradiert, weil sie jeder Erfahrung widersprechen. Freiheit ist eine Eigenschaft des gesetzten Raumes, präziser, des Zwischen, das erst durch die Gesetzung entsteht. Einer derjenigen, die das am besten erfahren, wahrgenommen und verstanden haben, ist der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott, dessen Bedeutung, insbesondere was seine Konzeption des Übergangsobjektes anbelangt, für den Konflikt zwischen Metaphysik und Politik noch unterschätzt wird (vgl. Übergangsobjekte und Übergangsphänomene, in: Psyche 1969, 669-682).

Wer Angst hat oder haben muss, kann sich nicht frei und unbeschwert im Raum bewegen. Wer Angst hat oder haben muss, kann nicht spielen. Die Spur der Gewalt- und Angstfreiheit an einem Ort, an dem man sich zum gemeinsamen Mahl niederlässt, hat sich bis heute in den Tischsitten erhalten, die dem Messer im Unterschied zu Gabel oder Löffel eine spezielle rituelle Behandlung widmen. Man legt das Messer mit der scharfen Seite nach innen zum Teller, man deutet nicht mit dem Messer auf jemanden und man übergibt das Messer mit dem Griff nach vorne. Norbert Elias hat ausführlich darüber berichtet. Als die Vollfreien noch alle bewaffnet waren, gehörte es zum guten Ton, seine Waffen vor dem Mahl abzulegen. Der Tisch, ein den Menschen äußeres und beständiges Element der Wirklichkeit verbindet und trennt die Menschen, die um ihn herum sitzen. Ein gut gebauter, stabiler Tisch kann vielen Generationen Halt, eine gemeinsame Welt und jedem Einzelnen von ihnen einen Platz geben, den er einnehmen und von dem aus er sprechen und Geschichten mit seinem Namen verknüpfen kann. Als Gesetz der Gastfreundschaft galt die Bindung des Raumes in der gesamten Antike für eine zwar begrenzte, aber verlässliche Zeit der Friedfertigkeit auch für den Fremden. Tisch und Tischgemeinschaft sind Vorformen des Politischen.

Umsicht und Voraussicht

Wer eine Stelle im Raum besetzt, hat einen Standpunkt. Wer einen Standpunkt hat, kann sich um die eigene Achse drehen. Ein Standpunkt befähigt und ermöglicht Umsicht. Man sieht sowohl seine Lage, als auch die der anderen im Raum verteilten. Wo Menschen je unterschiedliche Stellen im Raum einnehmen, können sie sich etwas, das sie gemeinsam angeht, zwischen sich in die Mitte legen. Jeder sieht von seinem Standpunkt nur einen bestimmten Ausschnitt der gemeinsamen Sache. Wer von seinem Standpunkt aus sieht, sieht auch, dass er auf die Perspektiven der anderen im Raum angewiesen ist. Der direkt gegenüber Sitzende sieht die Sache von der genau entgegengesetzten Seite. Er sieht das, was aus nur einer Sicht notwendig verdeckt bleiben muss. Aus der gemeinsamen Lage ergeben die gesammelten Umsichten ein wirklichkeitsnahes Bild des gegenwärtigen Zustandes. Das Gemeinsame des von den Gesetzten in die Mitte gelegten ist der von allen erfahrbare Zustand des Landes, dessen Dimensionen von Ambrogio Lorenzetti meisterhaft dargestellt worden sind im Fresco von der guten und schlechten Regierung im Sala dei Nove im Palazzo Pubblico von Siena. Durch die versammelten Personen kommt der gegenwärtige Zustand eines Landes zur Sprache. Der gerade akute Zustand des eigenen Landes kann nur zwischen den innerhalb einer Gesetzung Handelnden als Landessprache zu Wort kommen. Nur wo ein tatsächlicher Zustand eines Landes zu Wort kommt, kann er gehört und verantwortet werden. Arendts von Jaspers übernommenes Motto am Anfang der deutschen Ausgabe von Elemente und Ursprünge zielt auf diesen Punkt: »Weder dem Vergangenen anheimfallen noch dem Zukünftigen. Es kommt darauf an, ganz gegenwärtig zu sein.«

Menschen in Bewegung können, solange sie sich im Modus der Bewegung fortbewegen, niemals einen Standpunkt haben. Ohne Standpunkt haben sie auch keine Gegenwart. Nur wer verweilt, kann entgegen Kommendes erwarten, die Bewegten aber haben das Hier und Jetzt immer schon verlassen. Sie haben stattdessen ein meist weit voraus liegendes Ziel, auf das sie sich hinbewegen und das sie in dieser Voraussicht fixieren und nicht mehr aus dem Blick verlieren dürfen. Sie teilen eine Fiktion. Was sie vereint ist, dass sie glauben, dass sie alle dasselbe imaginäre Ziel vor Augen haben, es existiert aber nur in der vereinzelten Vorstellung; jeder hat nur sein Ziel für sich allein vor seinem eigenen geistigen Auge. Ohne die gemeinsame Welt der Gesetzten haben die Bewegten außer der gemeinsamen Bewegung nichts erfahrbares Gemeinsames. Das einzige Element der Wirklichkeit einer Bewegung ist ihre Bewegtheit selbst. Die Behauptung totalitärer Bewegungen, dass außerhalb von ihr alle Wirklichkeit »absterbe« ist, so Hannah Arendt, gerade deshalb so erfolgreich, weil sie den entwurzelten und entsetzten Massen, »die in das fiktive Heim der Bewegung geflohen sind, einen so handgreiflichen Trost und eine so einleuchtende Hoffnung« (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 599) anbieten. Sie müssen aber, um sich selbst zu erfahren, andauernd in Bewegungen bleiben und sie müssen sich andauernd der gemeinsamen Werte versichern, den fehlenden Gemeinsinn, der durch die tatsächlichen Ereignisse zusammengehalten würde, durch eine verbindende und verbindliche Ideologie ersetzen (»...die Ideologieanfälligkeit des modernen Menschen wächst in genau dem Maß, wie gesunder Menschenverstand (und das ist der common sense, der Gemeinsinn, durch den wir eine uns allen gemeinsame Welt erfahren und uns in ihr zurechtfinden) offenbar nicht mehr zureicht, die öffentlich politische Welt und ihre Ereignisse zu verstehen.« ebd. S. 35). Der Eindruck immer wieder herunter gebeteter, inhaltsleer gewordener Glaubenssätze entsteht aus diesem andauernden Bekenntniszwang. Es ist, als ob die gesamte Wirklichkeit eines Bewegten auf den kleinstmöglichen Ausschnitt zusammenschrumpft, Teil einer Bewegung zu sein. Ein Bewegter ist weder von Erfahrung noch durch Argumente zu erreichen, er hat sich so sehr mit der Bewegung identifiziert, »dass es scheint, als sei die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überhaupt vernichtet« (ebd. S. 499) Es ist deshalb völlig sinnlos, einer Bewegung die tatsächlichen Ereignisse vorhalten zu wollen, zwischen ihrem fiktiven Weltsurrogat und der Welt der anderen gibt es keine Verbindung. Ob sich der Zustand eines Landes verbessert oder verschlechtert, ob ein Land wohnlicher wird oder verwüstet, ist aus der Sicht einer Bewegung belanglos geworden (vgl.: »In einer fiktiven Welt gibt es gar keine Instanz, die Misserfolge als solche verbuchen könnte, ja selbst der einfache Unterschied zwischen Erfolg und Misserfolg hängt von dem Fortbestand einer tatsächlichen und damit von der Existenz einer nichttotalitären Welt ab.« – ebd. S. 608). Was den Gesetzen die tatsächliche Umsicht, ist den Bewegten die bloß eingebildete Voraussicht. Wo die Voraussicht vorherrscht, darf die Rücksicht keine Rolle mehr spielen. Rücksichtsloses Vorgehen, der innere Zwang der Logik, wer A sagt muss auch B sagen, sind seither hervorstechendes Kennzeichen solcher Bewegungen. Die abendländische Metaphysik, die immer nur den Menschen im Auge hatte, bleibt blind für diesen Unterschied, der erst aus den verschiedenen Aggregatzuständen einer Pluralität von Menschen ersichtlich wird. Das Ziel einer Bewegung kann ein weit entfernter tatsächlicher Ort sein, wie Jerusalem in den Kreuzzügen, oder eine reine ideologische Fiktion. In der Moderne wird das Ziel immer ausschließlicher ein vorgestelltes Imaginäres, etwas in der reinen Vorstellung vor sich hingeworfenes. Man spricht jetzt viel von Fortschritt und Projekten. Projekt kommt von dem lateinischem proiectum ›das vorwärts Hingeworfene oder Ausgestreckte‹.

Während ein Großteil der marxistischen Rhetorik im Begriff ›Klassenstandpunkt‹ die tatsächlichen Verhältnisse verschleiert, kommt in der extremsten Zuspitzung der Roten Armee Fraktion der seit Hegels Bewegungsgesetzen der einen Geschichte verdeckte Gegensatz zwischen räumlicher Gesetzung und fortschreitender Bewegung wieder zum Vorschein und es ist wohl kaum zufällig, dass die tragischste Figur der deutschen Nachkriegsgeschichte, Ulrike Meinhof, diesen Zusammenhang in seiner tödlichen Konsequenz zum Ausdruck bringt: »was wir wollen ist die revolution. das heisst: es gibt das ziel - im verhältnis zu dem ziel gibt es keinen standpunkt, sondern nur bewegung. [...] standpunkt und bewegung schließen sich aus« (letzte texte von ulrike, S.11, eigendruck im selbstverlag, 1976 – Brief von Ulrike an die Gefangenen in Hamburg). An diesem Punkt wird auch deutlich, in welchem Ausmaß eine an der Mobilisierung ausgerichtete ›Aktion‹ und der daraus abgeleitete, bis heute in hohem Ansehen stehende ›Aktivist‹, ein radikaler Gegensatz zu menschlichem Handeln ist. Ohne es zu wollen, bestätigt die tragische Existenz von Ulrike Meinhof eine der wichtigsten Einsichten Arendts: dass menschliches Handeln in dem Sinne, in dem der Begriff zuerst bei Aristoteles gegenüber dem Herstellen unterschieden wird, nur in einem von Angst, Gewalt und Zwang freien Zeit-Spiel-Raum, innerhalb einer Gesetzung möglich ist.

Was den Gesetzten ihre Lage, ist den Bewegten ihre Linie, die einzige richtige Linie, gegenüber der alle anderen falsch sind, der gerade und kürzeste Weg zum erstrebten Ziel. Noch im Wort Richtlinienkompetenz verbinden sich Richtung und Linie. Wo die Gesetzten sich versammeln, um über ihre gemeinsame Lage zu reden, schreiten die Bewegten fort und bekämpfen alles, was sie an der Bewegung in der richtigen Richtung hindert. Jede Abweichung von der Ideallinie muss zwangsläufig ausgesondert und stillgestellt werden. Für die revolutionär Bewegten werden alle anderen zu Konterrevolutionären, die gewaltsam unschädlich gemacht werden müssen, um den Bewegungscharakter der Bewegung zu erhalten. Die zentrale Gesetzesvorschrift einer Bewegung lautet: Du musst alles töten, was nicht Teil der Bewegung ist (vgl.: Elemente und Ursprünge, S. 710). Es gilt, Zustand und Ziel zu unterscheiden.

Der Sinn von Revolution ist ein anderer, darauf hat zuerst Karl Griewank (Der neuzeitliche Revolutionsbegriff, Frankfurt/Main, 1973) aufmerksam gemacht, je nachdem, ob es sich um die Rückwendung zu einem früheren gesetzten Zustand oder das Ziel einer Bewegung handelt. Die Theorie der ›permanenten Revolution‹ reflektiert die größte Gefahr einer Bewegung: in irgendeiner Form von Gesetztheit zu verenden (vgl.: Elemente und Ursprünge, S. 610: »...eine Entwicklung zum Absolutismus würde der Bewegung im Inneren ein Ende setzen, und eine Nationalisierung würde die Expansion nach außen, auf die sie angewiesen ist, unmöglich machen.«; vgl auch: »Allein die ununterbrochene [...] Austragung der vorhandenen Widersprüche ermöglicht [...] den Erziehungsprozess der Menschen und damit die Permanenz der Revolution. Ohne die Herausbildung des Neuen Menschen ist die permanente Revolution unmöglich.« Rudi Dutschke, Vom Antisemitismus zum Antikommunismus, in: Bergmann, Dutschke, Levebre, Rabehl: Rebellion der Studenten oder die neue Opposition, Reinbek, 1968, S. 77; konsequent weitergedacht ist diese Revolution erst am Ziel, wenn aus der gesamten Völkerfamilie ein einziger neuer Mensch hergestellt worden ist). Wo die Gesetzung Plätze im Raum verteilt und pluralisiert, jedem Einzelnen eine Stelle einräumt, die er einnehmen, und von der aus er sprechen und den anderen erscheinen kann, Zwischenräume, öffentliche Räume, heilige Orte und Niemandsland voneinander abgrenzt (es gab bei den Alten die Regel, dass zwischen zwei Grundstücken jeweils ein Zwischenraum Niemandsland sein muss), entpluralisiert die Bewegung, indem sie die Zwischenräume entfernt, die die vielen Unterschiedlichen zur einheitlichen Menge verdichtet. Die Herrschaft des Einen zielt auf einen einzigen Massenkörper, der von einem Willen bewegt auf ein Ziel hin ausgerichtet wird. Man wird daher unter den Maßnahmen zur Herstellung eines einheitlichen Massenkörpers auch stets die Säuberungswellen finden, die alle krankhaften, faulen und feindlichen Elemente aussondern muss. Bewegungen nehmen den Raum nur als das Zu-Durchschreitende wahr. Zur Zeit des Raumes, seinem Dauern, haben sie keinen Bezug. Raum und Recht aber gehören zusammen. Eine Menschenrechtsideologie, die von angeborenen Rechten fabuliert und den Eindruck erweckt, man könnte Rechte wie persönliches Eigentum besitzen und an jeden beliebigen Ort des Globus mitnehmen, verkennt, dass Rechte Verhältnisse sind zwischen einem, der ein Recht beansprucht und einem anderen, der diesen Anspruch anerkennt. Rechte halten Menschen zueinander in einem rechtsförmigen Bezug; sie sind eine Eigenschaft des Zwischen und somit an einen speziell geschützten Rechtsraum gebunden. Sie beruhen auf Gegenseitigkeit und der Fähigkeit, einem anderen ein Versprechen zu geben und sich selbst an dieses zu halten. Stabile Verhältnisse entstehen aus haltenden Versprechungen, was in dem jährlichen Schwörtag zum Ausdruck kam, an dem die Schwurgemeinde einer freien Stadt ihr gegenseitiges Versprechen erneuerte. In vielen Städten galt deshalb der heute weitgehend vergessene Schwörtag noch vor den christlichen Feiertagen als höchster Feiertag. Das Pochen auf die universelle Geltung von Menschenrechten ist deshalb nur eine besonders perfide Form von Flucht vor der Verantwortung. Wenn jeder Mensch, nur weil er Mensch ist, Eigentümer von Rechten ist, braucht sich niemand mehr um die Errichtung und Aufrechterhaltung wohnlicher, ziviler Verhältnisse zu kümmern, der Unterschied zwischen zivil und barbarisch wird sinnlos. Juristen wurden auch deshalb privilegiert, weil man sie als ›Organe der Rechtspflege‹ ansieht und ihnen eine Gemeinwohlaufgabe anvertraut hat. Ob sie das in ihrer Mehrheit heute noch rechtfertigen, ist eine andere Frage. Ein Recht, das nicht gepflegt wird, verwildert. Es sollte uns zu denken geben, dass sich die Verachtung der Juristen sowohl bei Hitler als auch bei Merkel findet. Erleben wir gerade den zweiten Aufguss einer ›legalen Revolution‹? (vgl.: Horst Dreier: Vom Schwinden der Demokratie, in: Die Zukunft der Demokratie, München 2018)

Links und rechts, die Mitte und die Extreme sind räumliche Kategorien. Sie machen nur Sinn innerhalb einer räumlich geordneten Gesetztheit. Zur Analyse des gegenwärtigen Geschehens taugen sie nicht. Sie blockieren nur, erst recht in ihrer hypermoralisch aufgeladenen Variante, das Verständnis dessen, was auf dem Spiel steht. Der Versuch der Weimarer Republik, nachdem der große Krieg – die zweite Urkatastrophe nach dem dreißigjährigen – Vieles und Viele in Bewegung versetzt, im buchstäblichen wie übertragenen Sinne entsetzt hatte, wieder zu einer Gesetztheit zurückzufinden, dem Freiheits-Spiel-Raum ausreichend Zeit zu geben, um wieder Gewohnheit werden zu können, wurde nicht von linken und rechten Extremen, sondern von zwei Bewegungen beendet, der kommunistischen und der nationalsozialistischen. Hannah Arendt hatte das verstanden, Joachim Fest auch, Adorno dagegen hat es nicht verstanden. Der ganze anti-autoritäre Ansatz der Frankfurter Schule ist verständnislose Donquichotterie, weil »das Prinzip der Autorität in allen entscheidenden Punkten dem der totalen Herrschaft diametral entgegengesetzt ist.« (vgl.: Elemente und Ursprünge, S. 629). Ich komme darauf zurück. Die nach der Katastrophe des Ersten Weltkrieges und der Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre verlorene Gesetztheit bleibt in Deutschland ohne Gewohnheit und kann gegenüber dem Ansturm der Bewegungen keinen Halt geben. Leichtfertig wird die Verfassung der Bewegung geopfert. Dass es auch anders gehen kann, demonstrierten die Italiener, die am 24./25. Juli 1943 im Augenblick höchster Gefahr im Faschistischen Großrat mit deutlicher Mehrheit die totale Herrschaft des einen verhinderten, Mussolini absetzten und die Macht mit Verweis auf die Verfassung wieder an den König zurückgaben. Nicht nur, dass dort der Konflikt zwischen Gesetzung und Bewegung in einem Ratsgremium zur polemischen Austragung kam, er wurde politisch zugunsten der Gesetztheit entscheiden.

Gesetzung und Zersetzung

Der Gegensatz von Gesetz ist nicht gesetzlos. Die gesamte anarchische und später anti-autoritäre Tradition bleibt an die Vorstellung von Gesetz als Vorschrift, als Gehorsamsgebot des Herrn gefesselt. Weil uns der erfahrbare räumliche Sinn von Gesetzung weitgehend abhanden gekommen ist, müssen wir den Umweg über seine Negation nehmen. Der räumliche Gegensatz im Inneren von Ge-setzung ist Zer-setzung, im ÄußerenWüste. Zersetzung holt die Wüste, die die Gesetzung draußen hält in das Innere der Gesetzung hinein und zerschneidet und entbindet, was durch Gesetzung erst entstehen kann: das unsichtbare Geflecht der vielfältigen Bindungen, die zwischen Menschen, die sich in einem geschützten Raum aufhalten können, durch die Zeit, die Wiederholung, die Gewohnheit und die Vertrautheit entstehen. Nirgendwo lässt sich der Sinn von Gesetzung besser verstehen als in der ehemaligen ›DDR‹, einer von außen aufgezwungenen totalitären Ordnung, die erst den Terror und dann andauernde Zersetzungsmaßnahmen zum Lebenselixier ihres Daseins gemacht hat. Kein Land der Erde, nicht einmal Nordkorea, hat je ein derart dichtes Netz von Spitzeln, Schnüfflern, Denunzianten und anderen widerwärtigsten Figuren auf seine eigenen Bürger gehetzt. Wo immer ein Standpunkt, eine Meinung, ein eigener Blick auf die Wirklichkeit sich bemerkbar macht, müssen umgehend Maßnahmen ergriffen werden, um das Entstehen normaler alltäglicher Verhältnisse zu unterbinden und die Geltung der organisierten Lüge aufrecht zu erhalten. Unter allen möglichen Bindungen soll nur noch eine einzige, die an die ideologische Fiktion aufrechterhalten werden, was bis in die intimsten privatesten Bindungen, die eines Kindern an seine Mutter, einer Ehefrau an ihren Ehemann oder eines Freundes an seinen Freund reicht. Während der Terror eine bereits bestehende und über viele Generationen gewachsene Gesetztheit initial zerstören muss, ist es die Aufgabe der Zersetzung, jedes Wiederentstehen einer Gesetztheit dauerhaft zu unterbinden. Lebenslange, von der Partei unabhängige, Freundschaften, darf es nicht geben. Das Ziel der Zersetzung ist die Zerstörung des Zwischen. Sie versucht, Menschen dauerhaft im Zustand der Ungesetztheit zu halten und jedes Entstehen der Vorformen des Politischen schon im Ansatz zu unterbinden.

Man hat Arendt gelegentlich und zu Unrecht vorgehalten, dass sie dem Terror eine zu große Bedeutung beigemessen hätte. Den fundamentalen Gegensatz zwischen Gesetzung und Bewegung hat sie sehr wohl gesehen. »Der totalitäre Machthaber muß mit allen Mitteln die Bedingungen des Zerfalls, unter denen die Bewegung zur Macht gekommen ist, aufrechterhalten und verhindern, daß das, was er dauernd versprochen hat, wirklich eintritt, nämlich eine Neuordnung aller Lebensverhältnisse und eine neue Normalität und Stabilität, die sich auf der Neuordnung gründet. Jede solche Neuordnung, gleichgültig, wie ›revolutionär‹ sie erst einmal anmuten sollte, würde auf die Dauer ihren Platz in den ungeheuer verschiedenen und kontrastierenden politischen Lebensformen der Völker der Erde finden, sie würde zu einer unter vielen werden, und gerade dies muß um jeden Preis verhindert werden.« (Elemente und Ursprünge, S. 613)

Die gescheiterte Ostpolitik Egon Bahrs beruhte auf der Illusion, dass es sich bei der ›DDR‹ nur um eine andere Form von Staat handeln würde. Tatsächlich ist der Sozialismus eine Bewegung, die kein Staat werden kann. Der bundesdeutsche Antifaschismus, die damit verknüpfte Abkehr vom anti-totalitären Konsens der frühen 50er Jahre basiert auf einer Zersetzungsstrategie der SED: das zentrale Propagandaorgan der SED für die entstehende Protestbewegung im Westen, der Studentenkurier, später konkret, ist eine Maßnahme jener schon vor der KPD 1954 vom Bundesverwaltungsgericht verbotenen FDJ in Westdeutschland. Die West-FDJ wurde, wie man dem lesenswerten Gerichtsurteil ( https://www.jurion.de/urteile/bverwg/1954-07-16/bverwg-i-a-2353/ ) entnehmen kann, verboten, weil es sich um eine zentral gelenkte terroristische Vereinigung handelt, deren Endziel es ist, mithilfe von Massenbewegungen die freiheitlich demokratische Ordnung zu beseitigen. ( vgl. zur Entstehung von konkret auch Bettina Röhl: So macht Kommunismus Spaß, München 2018, insb. S. 354 ff sowie die einschlägigen Arbeiten von Hubertus Knabe; gemeinsam mit den im Vergleich zu den Katholiken erheblich ideologieanfälligeren Protestanten bereiten die Protestbewegungen den Boden für eine Kanzlerin, die als ehemalige FDJ-Sekretärin für Propaganda und Agitation ihre protestanto-stalinistische Prägung nun auch auf den freien Westen überträgt).

Wenn die Gesetzung die Bewegung beendet, muss auch umgekehrt gelten: die Bewegung beendet die Gesetzung. Wer Menschen in Bewegung versetzen will, muss sie zuvor aus ihren gesetzten Gewohnheiten herauslösen, aus ihren Häusern locken, sie vereinzeln, sie erst völlig entwurzeln, um sie danach als verlorene Seelen in der Bewegung wieder auf das eine hin ausgerichtet, zusammenbinden zu können. Bewegung und Krieg verwenden dafür den gleichen Begriff: Mobilisierung. Die älteste Zersetzungsideologie des Abendlandes entsteht aus dem jüdisch-christlichen Monotheismus. Die Aussetzung aus dem räumlich verstandenen Gesetz steht sowohl am Anfang der jüdischen, wie der christlichen Bewegung. Der Herr schreibt Abraham die Aussetzung vor: er soll seines Vaters Haus, seine Verwandtschaft und sein Vaterland verlassen (1. Buch Mose, 12.1). Jesus übernimmt diesen Zug. Er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen, wie es in Mt, 10,34 heißt, sondern das Schwert. Mit dem Schwert müssen die bereits bestehenden Bindungen zerschnitten werden: »Denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater und die Tochter wider die Mutter und die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.« (ebd.) Der Tischfrieden, der Hausfrieden, der Landfrieden: die Bewegung treibt den Unfrieden in die gesetzten Räume, aus denen er ursprünglich durch die Gesetzung verbannt werden sollte. Wo die Gesetzung einen angstfreien Zeit-Spielraum einräumt, treibt die Bewegung die Angst wieder in die Räume, in dem sie die verbleibende Zeit verkürzt und mit dem apokalyptischen Ton, das Ende sei nahe, für Entsetzen sorgt. Die Prinzipien einer Gesinnungsgemeinschaft, sich durch Ausstoßung alles Unreinen zu konstituieren, sind weder mit den Regeln der Verwandtschaft, noch den Ritualen einer Gesetzung zu vereinen. Von Beginn an stehen diese Formen der Vergemeinschaftung in krassem Widerspruch zueinander. Ist es reiner Zufall, dass das zertrennende Schwert auch in der Selbstbeschreibung des MfS als ›Schild und Schwert der Partei‹ wieder auftaucht? Den entscheidenden Zug des Herauslösens aus der Gesetztheit, sowie den apokalyptischen basso continuo findet man in allen christlichen und ideologischen Bewegungen. Um Dynamik aufzunehmen, muss das zersetzende Gift einer Bewegung alle gewachsenen und stabilen Beziehungen angreifen und die gewachsenen Netze zerschneiden, einerlei, ob Nachbarschaft, ob Familie oder Freundschaften. Zur Wirksamkeit der Bindung an eine einzige Idee müssen erst alle anderen Bindungen zertrennt werden. Das ist der Sinn des ersten Gebots. Dass selbst die von der Natur instinktiv als unzertrennlich angelegte Bindung zwischen Mutter und Neugeborenem davor nicht gefeit ist, zeigt die von Manfred Clauss aufgegriffene Geschichte der Perpetua, die für die ausschließliche Bindung an den einen Gott in den Tod geht und Vater und Säugling zurücklässt (vgl.: Ein neuer Gott für die alte Welt, Die Geschichte des frühen Christentums, Berlin 2015, S. 93ff). Fast zweitausend Jahre später wiederholt Gudrun Ensslin das Schicksal einer der ersten christlichen Märtyrerinnen und lässt Kind und Vater zurück. Die Spur dieser eigenartigen Absonderungen lässt sich problemlos bis heute ziehen, wenn Schulkinder aus ihrer Schule herausgelöst werden, um gegen einen imaginären Klimawandel zu demonstrieren oder Kinder im Kindergarten wider ihre vermeintlich rechten Eltern in Stellung gebracht werden sollen. Man wird daher ideologische Bewegungen vor allem dort finden, wo die Zeit, die das Entstehen einer stabilisierenden Gewohnheit benötigt, aus unterschiedlichen Gründen nicht gegeben war, weil sie ständig unterbrochen wurde: durch Kriege, Verwüstungen, Epidemien etc. und viele orientierungslos und entwurzelt herumirren. Auch in Deutschland ist es bislang nicht gelungen, den seit den Religionskriegen im 17. Jahrhundert schwelenden Konflikt zwischen politischer Gesetzung und religiöser Bewegung nachhaltig zu entschärfen. Ob dem Land noch eine Dauer beschieden sein kann, scheint durchaus fraglich.

Entbindung und Einsetzung

Dass wir heute eine Geburt nur noch als Entbindung bezeichnen, deutet an, dass uns wesentliche Sinnbezüge von Gebürtlichkeit verloren gegangen sind. Nach der Entbindung, die als natürlicher Vorgang auch bei allen anderen Lebewesen vorkommt, erfolgt erst die eigentlich menschliche Entscheidung, ob das Neugeborene in die menschlichen, zivilisierten Zusammenhänge eingesetzt, oder den willkürlichen Kräften der Natur ausgesetzt wird. Die heidnischen Germanen, denen solche Zusammenhänge noch geläufig waren, sprachen deshalb von der doppelten Geburt, die im Christentum auf nur eine reduziert und aus der weltlichen Gemeinschaft herausgezogen wurde. Die zweite Geburt entspricht der ersten Einsetzung. Mit dem Namen bekommt das Neugeborene einen leeren Platz in der symbolischen Ordnung, der mit Geschichten gefüllt werden kann, die über die Person dieses Namens und das Haus, zu dem dieser Name gehört, erzählt werden können. Die Frage, ob jemand aus ›gutem Hause‹ kommt, dürfte den Älteren noch geläufig sein. Mit der zweiten Einsetzung erlangt der Neue seine politische Mündigkeit. In jedem Neuen steckt auch ein neuer Anfang. Er kann nun nicht nur in seinem oder im Namen seiner Familie sprechen, sondern zusätzlich als Vollbürger auch im Namen seines Landes. Damit fällt ihm die Verantwortung zu, seinen Teil dazu beizutragen, welche Geschichten andere von seinem Land erzählen können. Solange das Land noch da und in seiner Landessprache zu Wort kommen kann, kann jede neue Generation auch ein neues Kapitel anfangen. Welches ist nirgendwo festgelegt.

Die nationalsozialistische Bewegung hat nach 1945 dem Land eine so schwere Last der Verantwortung hinterlassen, die wohl nur die versammelte Kraft des gesamten politischen Volks hätte schultern können. Ich neige zu der Ansicht, dass Kurt Schumacher mit seinem Verständnis von politischem Volk etwas in dieser Art im Sinn hatte. Die geschichtliche Herausforderung der Bundesrepublik wäre gewesen, dem Land die Zeit einer langsam wachsenden Neugesetzung zu geben, um durch eine allmähliche Wiederverwurzelung die durch den Erfolg der Nationalsozialisten offenkundig gewordene Anfälligkeit für totale Bewegungen zu verringern. Mit einer größtmöglichen Dezentralisierung und Verteilung politischer Verantwortung wäre es eine andere Bundesrepublik geworden. Bekanntlich ist genau das Gegenteil herausgekommen. Der Platz vor dem Gesetz, der Kafkas Herrn K. noch zur Verzweiflung trieb, der vogelfreie Platz des Parias wurde zur Rettungsinsel für alle, die am liebsten so tun, als hätten sie mit der ganzen Geschichtlichkeit nichts zu tun. Die billige Flucht vor der Wirklichkeit wurde zur Großen Weigerung, die Entbindung von jeglicher Verantwortung zur Emanzipation verklärt. Die klarste Formulierung findet sich in dem schon erwähnten Romanfragment von Bernward Vesper: »... wir müssen erst zur totalen Verantwortungslosigkeit zurückfinden, um uns überhaupt zu retten.« (Die Reise, Frankfurt/M. 1978, S. 34, vgl. auch die Wahrnehmung des Unterschieds zwischen der Situation des Parias und der Welt der anderen: »Die Suche nach einem Schlafplatz hatte sich längst verselbstständigt, sie war die Suche nach einer Zuflucht geworden, die Hetze eines Ausgestoßenen, der durch die Gesetzlosigkeit der Nacht irrte, während hinter verschlossenen Türen und heruntergelassenen Rollläden diejenigen schliefen, die mit der absurden Welt ihren Frieden gemacht hatten und in Gnaden aufgenommen worden waren.« ebd. S. 240; zum Zusammenhang zwischen der Grunderfahrung der Verlassenheit und der Flucht in die Vogelfreiheit vgl. auch. S. 410). Während Adorno den Platz vor dem Gesetz abseits jeder Gegenseitigkeit uneinnehmbar befestigt, um von dort aus allem und jedem die Negativität entgegenschleudern zu können, liest Arendt aus dem Vorhandensein des Ortes vor dem Gesetz das Ungenügen und Vorläufige des mosaischen Gesetzes heraus. Auch die negative Theologie bleibt im Gehäuse der Metaphysik. Man muss heute an Adornos Texte die Frage richten, ob er jenseits der pathetischen Leerformeln Auschwitz überhaupt verstanden hat. Die Heraustrennung aus den Verhältnissen der Gegenseitigkeit; im Extrem, das ›alle Brücken hinter sich abbrechen‹, ist ein gemeinsamer Zug der theologisch-ideologischen Bewegungen. »Alle Bindungen kappen. Die Wohnungen verbrennen, die Erinnerungen verbrennen, alle Brücken zerstören. Fegefeuer macht frei. Frei für ein neues Leben, verstanden als Endkampf, als totaler Krieg. Was Hanke (der Gauleiter von Niederschlesien, BB) jetzt, wo alle Rücksichten sinnlos werden, verkündet, ist nichts anderes als die permanente Revolution. An diesem Sonntagabend im März 1945 spricht aus dem Großdeutschen Rundfunk der revolutionäre Geist des zwanzigsten Jahrhunderts. Es spricht der Bruder, der Todfeind, der Genosse von Lenin, Stalin, Mao Tse-tung und Pol Pot. Auch Hanke möchte ganz von vorn beginnen mit dem Design des Menschen. Sintflut sein, Feuersturm, Schöpfer, Künstler der eisernen Faust.« (Wolfgang Büscher, Drei Stunden Null, Hamburg 2003, S. 20)

Doch die Entbindung von allem und jedem verlängert nur den allgemeinen Zustand der totalen Verlassenheit, der schon die entscheidende Bedingung der Möglichkeit der totalitären Bewegungen war. Die Befreiten entfliehen bloß in die Vogelfreiheit, die noch im Mittelalter den Gesetzlosen bezeichnet, der außerhalb einer Rechtsgemeinschaft über keinen Rechtsschutz mehr verfügt und von jedem sanktionslos um die Ecke gebracht werden kann. Was als scheinbare Rettung erschien, verschärfte nur die Krise. Das Ausmaß an Infantilisierung, das wir derzeit erleben, übersteigt noch das, was uns schon am Nationalsozialismus so verstörend entgegenkam.

Die erste Massenbewegung der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte, die Kampagne »gegen den Atomtod«, so die Enzensberger Biografie von Jörg Lau (Hans Magnus Enzensberger, Ein öffentliches Leben, Frankfurt 2001, S. 79ff), zeichnet sich bereits durch ihren endzeitlich gestimmten, apokalyptischen Ton und eine besondere Identifikation aus. Indem die Protestbewegung sich als Opfer einer Endlösung durch die Bombe inszeniert, verweigert sie die Einsetzung in die Verantwortung und flüchtet in die Fantasie einer geschichtlichen Entlastung. Alle Nachfolgebewegungen, von der Protest- über die Frauen- bis hin zur Umweltbewegung werden dieser Flucht vor der Wirklichkeit folgen und die Distanz zu den Tatsachen immer weiter vergrößern. Gab es zumindest in der Anfangsphase noch mögliche Verbindungen zu realpolitischen Interessen, ist die Wirklichkeitsflucht inzwischen offenkundig. Und immer wird man der Zeit keine Zeit geben, wird es kurz vor Zwölf sein oder schon danach. Sobald das eine Bedrohungsszenario sich als blanke Hysterie herausgestellt hat – vom abgestorbenen Wald ist weit und breit nichts zu sehen – muss das nächste erfunden werden, um den Bewegungscharakter zu erhalten. Im Unterschied zur ›DDR‹ geht in der Bundesrepublik die permanente Bewegung nicht von oben, sondern von unten aus. Erst nach der Wiedervereinigung und der ›glücklichen‹ Fügung einer von Stalinismus und Protestantismus geprägten Kanzlerin gelingt es, beide Stränge zusammenzuführen und politische Elite wie akklamierende Medien auf eine Herrschaft des Einen hin auszurichten. Die Erstarrung des revolutionären Elans in der Endphase der ›DDR‹ bekommt durch die ›neuen sozialen Bewegungen‹ der Bundesrepublik endlich wieder Wind unter die Flügel. Die Fokussierung auf die 68er, egal ob negativ oder positiv, führt in die Irre. Bei ihnen ist der Konflikt zwischen Gesetzung und Bewegung längst zugunsten der Bewegung entschieden. Die Selbstinszenierung als eigentliche Demokratie-Gründergeneration soll das Versagen vor der geschichtlichen Verantwortung nur verdecken. Die eigentliche Phase der Gärung des Landes spielt sich zeitlich in der Phase ab, in der die ›DDR‹ ihren antifaschistischen Gründungsmythos erfolgreich auf die junge und zu wenig widerstandsfähige Bundesrepublik überträgt und den anti-totalitären Nachkriegskonsens verdrängt. An sie und die Revolutionserfahrung des Ostens muss anknüpfen, wer das eigene Land noch nicht verloren geben will.

Wenn das Gesetz zum Bewegungsgesetz der gesamten Menschheit geworden ist, lautet seine zentrale Vorschrift: du musst alles töten, was nicht Teil der Bewegung ist. Das Gesetz der Herrschaft des Einen ist erst erfüllt, wenn aus einer Pluralität unterschiedlicher Menschen eine einzige homogene Masse Mensch hergestellt ist. Damit hat sich der ursprüngliche Sinn von Gesetz als Einzäunung und Eröffnung eines Freiheitsspielraums für die Vielen in sein Gegenteil verkehrt. Nach der Erfahrung der totalitären Bewegungen ist der Sinn von Gesetz als Vorschrift zum Abschluss bekommen. Wir wissen jetzt, was am Ende dabei herauskommt. Das gibt uns die einmalige Chance, den ursprünglichen Sinn von Gesetz wiederzuentdecken und dafür zu sorgen, dass er als Gemeinsinn geteilt werden kann. Mit ihrem feinen Gespür für das eigentlich Neue der Nazibewegung hat Arendt sehr genau gesehen, dass die Bewegung, trotz aller Perversion immer noch eine Antwort auf den mehr oder weniger dunkel erfahrbaren Zustand der Ungesetztheit und Verlorenheit lieferte. »Die Grunderfahrung menschlichen Zusammenseins, die in totalitärer Herrschaft politisch realisiert wird, ist die Erfahrung der Verlassenheit.« (Elemente und Ursprünge, S. 727). Dieses Antwort-Placebo wurde, weil sich an diesem Zustand wenig geändert hat, auch in den Bewegungen der Nachkriegsrepublik wieder begeistert aufgegriffen. »Den Massen atomisierter, undefinierbarer und substanzloser Individuen wurde ein Mittel der Selbstidentifizierung in die Hand gegeben, das ihnen ein durchaus brauchbares Surrogat für das verloren gegangene […] lieferte. […] Diese Propaganda, die von vorn herein auf Organisation abzielte, konnte in der Tat die Bewegung als eine Art Permanenz erklärter Massenversammlung etablieren, das heißt sie konnte jene wesentlich temporären Stimmungen überhitzten Selbst- und hysterischen Sicherheitsgefühls, die die Massenversammlungen dem isolierten Individuum einer atomisierten Gesellschaft inspiriert, rationalisieren und institutionalisieren« (vgl. ebd. S. 566). Das ›wir müssen ein Zeichen setzen‹ wurde zum selbstverständlichen Ritual. Eine Bewegung als Gegenteil von Gesetzung hat nur sich selbst im Akt der Bewegung, sie hat nichts außer sich. Ihr einzig Gemeinsames ist, dass sie sich selbst als bewegt erfährt. Damit bleibt sie gefangen in ihrer eigenen Notwendigkeit. Sie wird in nichts eingesetzt und übergibt nichts, sie hegt keine Räume ein, sie pflegt und zivilisiert nichts, sie errichtet keine Kirchen, die noch Jahrhunderte später Besucher in Staunen versetzen, sie baut keine Städte, deren Ruinen noch nach Jahrtausenden die Einbildungskraft inspirieren. Eine Bewegung ist zeitlos, geschichtslos und landlos. Das einzige, was sie hinterlässt, ist ein verwüstetes Land. Die größte Gefahr einer Bewegung ist ihr Stillstand. Sie ist gezwungen, stets die gesamte Menschheit organisieren zu müssen und als Vorhut im Namen aller Menschen mit einer grotesk kindlichen Allmachtsfantasie aufzutreten. Wer sich diesem Anspruch entzieht, kann nur der Feind der gesamten Menschheit sein. Bewegung ist der Modus der verlorenen Menschen der Moderne. Dass große Teile der heimatlos gewordenen Massengesellschaften Europas ein neurotisches, völlig bescheuertes Kind als Erlöserfigur verehren, ist nur der sinnfälligste Ausdruck der Verlassenheit der gesetzlosen Massen. »Je weniger die modernen Massen in dieser Welt noch wirklich zu Hause sein können, desto geneigter werden sie sich zeigen, sich in ein Narrenparadies oder eine Narrenhölle abkommandieren zu lassen, in der alles gekannt, erklärt und von übermenschlichen Gesetzen im Vorhinein bestimmt ist« (ebd. S. 723).

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