Renate Solbach: Sarkophag

1 Einleitung

»Homo homini lupus«, schreibt Hobbes in De Cive (1657). Damit meint er, in heutiger Sprache ausgedrückt, dass Gewalt und Macht (das Ergebnis erfolgreicher Gewaltausübung) immer eine zentrale Rolle bei der menschlichen Vergesellschaftung spielen. Wie Aggression und Neigung zur Gewalt im Zusammenleben begrenzt werden können, ist das zentrale Thema der politischen Philosophie. Einerseits brauchen wir das staatliche Gewaltmonopol, um chaotische, private Gewalt zu minimieren. Andererseits tendieren die Amtsträger, die das Monopol ausüben, stets dazu, diese gewaltige Macht, deren Breite und Tiefe mit dem technischen Fortschritt immer weiter zunimmt, zu ihren Gunsten zu verwenden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie das Monopol im Rahmen einer Dynastie, einer Wahlmonarchie, als kommunistische Diktatoren wie in der UdSSR oder (noch heute) in China oder als auf Zeit gewählte Inhaber der Exekutivgewalt demokratischer Staaten innehaben: Die Tendenz zum Missbrauch der Macht ist im Wesen des Menschen verwurzelt und daher immer vorhanden. Dies kann bis zu einem Zustand gehen, in dem die Amtsinhaber für sich oder ihre Auftraggeber den Staat derart vereinnahmen, gewissermaßen privatisieren, dass ein Status erreicht wird, der den Anfängen der Staatlichkeit zur Zeit des Urbanisierungsbeginns ähnelt, als der Hochadel sich im Besitz von Land und Bevölkerung befand. Ein extremes Beispiel dafür ist das heutige Nordkorea.

Deswegen haben Gesellschaften, die Gewalt nach Innen erfolgreich minimiert haben, seit der attischen Demokratie ein im Verlauf der Geschichte sich auf ähnliche Weise entwickelndes republikanisches Modell zur Verhütung staatlichen Machtmissbrauchs genutzt: Isonomie (Gleichheit vor dem Gesetz), unveränderliche Normen (Grundrechte), Gewaltenteilung, Besetzungsnormen für Staatsämter, Verfahrensnormen der Ausübung von staatlicher Gewalt (von Zivilprozessordnung bis zum Haftordnung), und Öffentlichkeitsnormen (Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Pluralismus) (Popitz 1992). Der Aspekt der Verhinderung dichotomer Eigentumsstrukturen fehlt bei Popitz, was kein Zufall ist und uns weiter unten beschäftigen wird.

Wir finden dieses Modell im antiken Athen, im republikanischen und in vielerlei Hinsicht auch noch lange Zeit im kaiserlichen Rom, in den Vereinigten Staaten und den rechtsstaatlich-demokratischen Staaten, die sich seit dem 19. Jahrhundert insbesondere im Abendland herausgebildet haben. Doch auch in diesen Gesellschaften war die Begrenzung der inneren Gewalt immer problematisch, es gibt stets eine Dynamik zu ihrem Missbrauch. Mit dem Begriff ›Paradoxon der Gewaltbegrenzung‹ ist hier gemeint, dass wir einerseits das staatliche Gewaltmonopol brauchen, um chaotische private Gewalt zu vermeiden, wodurch andererseits neue, staatliche Gewalt im Rahmen des Machtmissbrauchs ermöglicht wird und unweigerlich entsteht: wir können uns der Gewalt auch beim Versuch, sie zu verhindern, nie ganz entziehen. Dies liegt in unserer Natur als eingeschränkt kooperationsbefähigte Raubtiere begründet (Eibl-Eibesfeld 1984). Im folgenden wird (i) gezeigt, dass wir uns heute in Westeuropa, und besonders in Deutschland, in einer Phase des weit fortgeschrittenen Missbrauchs staatlicher Gewalt für die Interessen einer sehr kleinen Gruppe befinden und (ii) der Frage nachgegangen, wie wir wieder zu einer adäquaten Kontrolle des Gewaltmonopols zurückkehren können. Wir beginnen mit einer historischen Perspektive.

2 Vom Gewaltparadoxon im Absolutismus zur bürgerlichen Verfassung

Hobbes und andere staatsphilosophische Denker seiner Zeit hatten im Zeitalter der europäischen Bürgerkriege ein uniformes Gewaltmonopol mit einem einzigen Souverän, dem König, gefordert, um den inneren Kriegszustand zu beenden (Coltman 1962). Mit dem Übergang zum Absolutismus fanden die Bürgerkriege in Frankreich, England – hier entwickelte sich die Sonderform der konstitutionellen Monarchie – sowie Deutschland, wo sie religiöse Ursachen hatten, ihr Ende. In Frankreich wurde das Gewaltmonopol von seinen gesellschaftlichen Trägern, dem Monarchen, dem Hofadel und dem sie stützenden Klerus, im Folgenden krass missbraucht. Diese Schicht nutzte ihre politische Machtstellung, um eine seit langem entstehende bürgerliche Schicht, die durch Eigenleistung zu Eigentum gekommen war, an der politischen Partizipation zu hindern und im reinen Eigeninteresse über die Verwendung der Staatseinnahmen zu bestimmen. Außerdem missbrauchte der Adel seine Stellung, um sich zusätzlich zu den regulären Steuereinnahmen parasitär einen Teil des Reichtums des Bürgertums anzueignen, beispielsweise durch Kreditaufnahme und anschließende Annullierung der Rückzahlungen mit Hilfe einer parteiischen, den Adel bevorzugenden Gerichtsbarkeit. Dieser Missbrauch führte letztlich zur Formulierung eines an die historischen Verhältnisse der Neuzeit angepassten Fassung des republikanischen Modells der Gewaltkontrolle und schließlich zur französischen Revolution (Koselleck 1959). Dabei war ein entscheidender Faktor eine gesellschaftliche Dichotomie in Form außerordentlicher Ungleichheit der Eigentums- und Produktionsmittelverteilung, da es ohne die verelendeten Massen des dritten Standes gar nicht zu einer erfolgreichen bürgerlichen Revolution gekommen wäre. Aus Sicht des Bürgertums war jedoch die Eigentumsverteilung weniger problematisch als aus Sicht der Bauern und Kleinhandwerker, deren Interessen nicht zum Hauptgegenstand des bürgerlichen Gewaltkontrollprogramms wurden: Emanzipation bedeutete für das Bürgertum Eigentums- und Freiheitsrechte (Menschenrechte als Schutzrechte) sowie die oben genannten weiteren Faktoren der Gewaltkontrolle, aber nicht Eigentumsumverteilung, da aus Sicht des Bürgertums bereits ausreichend historisch gewachsenes Eigentum bestand und es vor allem an politischer Macht fehlte. (Die Säkularisierung und Enteignung des Adels führten in erster Linie zu öffentlichem Eigentum der Republik.) Eine prinzipiell vergleichbare Eigentumskonstellation lag auch in den Vereinigten Staaten vor, weshalb die Declaration of Independence die Eigentumsverteilung genauso wenig problematisierte. Die Forderung nach einer egalitären Eigentumsumverteilung war vielmehr Gegenstand der mit Babeuf beginnenden und dann von Marx geisteswissenschaftlich erstmals umfassend theoretisch durchdachten sozialrevolutionären Bewegung, auf die wir später zurückkommen.

Das historisch bedingte Fehlen der Problematisierung der Eigentumsstruktur im republikanischen Modell der Gewaltkontrolle hat für unsere Zeit bedeutende Auswirkungen. Denn die Eigentumsstruktur einer Gesellschaft ist die Voraussetzung für die Verteilung von Macht, da die Verfügungsgewalt über Sacheigentum – über Menschen (in Sklavenhaltergesellschaften), Land, Gebäude, Technologie, Produktionsmittel, neuerdings auch Daten – politische Macht erst ermöglicht. Dies hat die sozialistische Bewegung zwar erkannt, doch mit der Forderung nach der Abschaffung des Privateigentums die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Dazu unten mehr.

3 Von der offenen Gesellschaft nach 1945 zur heutigen Plutokratie

Nach der Erfahrung des deutschen Totalitarismus wurde 1949 in Westdeutschland eine (als temporär gedachte) Verfassung in Kraft gesetzt, die alle wesentlichen Elemente des oben beschriebenen Modells der republikanischen Gewaltkontrolle enthält. Aufgrund der Erfahrungen in der Spätphase der Weimarer Republik und der lediglich partiellen Souveränität Deutschlands als eines besetzten Landes (die volle Souveränität wurde erst 1991 durch den Regelungsvertrag restituiert) wurden allerdings die ordnungsstaatlichen Elemente reduziert und die Selbstdarstellung des Staates im umfassenden Sinne hinter den Rechtsstaat zurückgenommen, so dass Forsthoff (1970) vom »introvertierten Rechtsstaat« sprach und der BRD die Fähigkeit des Staates zum Selbsterhalt in echten Krisensituationen absprach. Wir kommen auf diesen wichtigen Aspekt der Schwächung staatlicher Autorität und Ordnungsstaatlichkeit noch zurück. Während der Bonner Republik (1949-1998, bis Ende der Kanzlerschaft Helmut Kohls, der das international domestizierte, erstmals in den Westen integrierte Deutschland perfekt repräsentierte), war das ordnungsstaatliche Defizit der BRD nicht problematisch und für den Kampf gegen den linksextremen RAF-Terror der 1970er und 1980er Jahre reichte die Staatlichkeit noch aus. Die Gewaltbegrenzung funktionierte daher nach Innen und nach Außen hervorragend, und auch der Missbrauch staatlicher Macht durch Amtsträger im eigenen oder fremden (Auftraggeber-) Interesse war zunächst gering. Allerdings fehlte dem republikanischen Modell neben einer dezidierten Ordnungsstaatlichkeit in der oben beschriebene Tradition bürgerlicher Verfassungen auch eine die ökonomische Dichotomisierung verhindernde Komponente. Zwar wurde schon bald nach Gründung der BRD die Frage nach dem Sozialstaat vehement gestellt und klar beantwortet. Abendroth (1972) setzte sich, wie die folgende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigte, gegen Forsthoff (1954) mit seiner Interpretation des Gleichheitsbegriffs durch, wonach Art. 3 GG kein Abwehrrecht der Bürger gegen staatliche Diskriminierung, sondern ein Teilhaberecht sei, das als eine Aufgabe des Staates festschreibe, aktiv für die Gleichheit der Bürger zu sorgen. Die Weichenstellung führte zu einem massiven Ausbau des Sozialstaats, der nun nicht mehr nur Armut zu lindern und Daseinsfürsorge zu betreiben, sondern aktiv für die Gleichheit der Bürger zu sorgen hatte. Letzteres ist aus zwei wesentlichen Gründen vollständig misslungen. Erstens scheint es grundsätzlich unmöglich, in menschlichen Gesellschaften soziale Ungleichheit zu beseitigen, da diese zum genetischen Programm sich sexuell fortpflanzender Organismen gehört: Populationen geschlechtlicher Organismen sind genetisch heterogen, um durch ein diversifiziertes Verhaltensmuster evolutionärem Druck besser Stand zu halten (Hennig und Graw 2015). Dies gilt auch für das Säugetier Homo sapiens, die biologische Natur unserer Species setzt sich in dieser Hinsicht wohl immer gegenüber der sprach- und bewusstseinsvermittelte Kulturfähigkeit des Menschen durch (Lorenz 1963). Dies steht nicht im Widerspruch zur hohen Kooperationsbefähigung des Menschen (Gehlen 1950), denn die historische Erfahrung bestätigt, dass alle Versuche, soziale Gleichheit herzustellen, bestenfalls mit einer Diktatur der Amtsträger des Gleichstellungsprogramms, meist begleitet von staatlichem Blutvergießen in großem Maßstab endeten (Gray 2007). Zweitens wurde im Sozialstaatskonzept der BRD politisch-praktisch die Eigentumsfrage nie gestellt, da das im Grundgesetz formulierte republikanische Modell der Gewaltbegrenzung dem bürgerlichen Staatsverständnis treu blieb. Arbeitnehmer bekamen proportional zu Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerung Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhungen, die Daseinsfürsorge für Kranke, Alte, Invaliden und Arbeitslose wurde parallel dazu immer weiter verbessert, die progressive Einkommenssteuer sollte ebenfalls der Umverteilung dienen. Die politische Linke, die für die Eigentumsfrage blind war oder diese nicht sinnvoll thematisieren konnte, gab sich ab den 1970er Jahren damit weitgehend zufrieden und verlagerte ihr Interesse schrittweise auf Identitätspolitik, während der Liberalismus sein Emanzipationspotential ebenfalls aufgab. Zur Aufgabe des Emanzipationspotentials durch die beiden führenden teleologischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (Sozialismus und Liberalismus) und deren Synthese zum linken Pseudoliberalismus siehe Eisleben (2018c), Richardt (2018) und Kondylis (1991).

3.1 Einkommensdichotomie und Papiergeldsystem

Doch tarifliche Lohnpolitik, Besteuerungssystem und Sozialstaat konnten nicht verhindern, dass gleichzeitig mit deren ritueller Institutionalisierung bei Politik und Tarifpartnern die Ungleichverteilung des Realeigentums exponentiell zunahm und heute einen Zustand erreicht hat, der selbst die Dichotomisierung in Frankreich vor der Revolution von 1789 übertrifft. Wie Piketty (2014) gezeigt hat, ist dies durch die Tatsache zu erklären, dass die Kapitalrendite seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs das relative Wirtschaftswachstum, an dem sich Löhne und Gehälter unselbständiger Arbeitnehmer orientieren, bei weitem übertroffen hat.

Verkürzt gesagt ist die Ursache dafür die Entkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft in unserem System der realwertungebundenen Fiktivwährung (Papiergeld) in Verbindung mit dem Teilreservesystem. Dieses System erlaubt es Banken, eine private Geldschöpfung aus dem Nichts durchzuführen, für die der Staat als Garantieinstanz (›lender of last resort‹) fungiert und dadurch privaten Verluste aus dem riskanten Geldschöpfungsgeschäft zu vergesellschaften, während die Gewinne privat thesauriert werden – so war es auch bei der letzten Krise des globalen Finanzsystems 2007/2008. Die Geldmenge steigt durch diese Geldschöpfung deutlich schneller als die Menge der Realgüter (eine gute Übersicht dieses Krisenmodells von F. von Hayek findet sich bei Hülsmann (2007) und Huerta de Soto (2011)). Dadurch inflationiert deren Wert sich weit über den Realzinssatz hinaus (spekulativer Wertzuwachs). Wer Realgüter wie Häuser, Ländereien, Edelmetalle und -steine oder Produktionsmittel hält, wird dadurch automatisch wohlhabender, während Menschen, die wenig oder keine Realgüter halten, an Realeinkommen verlieren, weil die Nutzung von Konsumgütern (wie bei Miete oder Autokauf) einen immer höheren Teil des Realeinkommens verbraucht. Da das System eine Kreditschöpfung aus dem Nichts erlaubt, führt es mit der Zeit zu einer immer höheren privaten und staatlichen Verschuldung, die so lange weiter wächst, bis der Staat (oder seine Gläubigerstaaten, beispielsweise im Fall des Euro) nicht mehr als glaubwürdiger Garant für die Schulden auftreten kann. Dann kollabiert das System (Eisleben 2018d). Doch bis dahin senken die Zentralbanken die Referenzzinsen nahe oder unter Null, um den Kreditkreislauf des Teilreservesystems aufrecht zu erhalten. Dadurch erhalten abhängige Beschäftigte keine Zinseinkünfte mehr auf ihre Ersparnisse (Bargeld, öffentliche und private Renten- und Lebensversicherungen), während Finanzakteure weiterhin durch private Kreditvergabe und Derivatisierung hohe Renditen auf ihr massiv ›gehebeltes‹ Eigenkapital erhalten.

Dieses die etablierten Besitzer von Realwerten privilegierende Finanzsystem wurde vom internationalen Handels- und Kapitalallokationssystem verschärft, insbesondere ab den 1990er Jahren. Denn während man mit GATT von 1947 bis Ende der 1980er Jahre tatsächlich vor allem Handelsbarrieren durch Senkung oder Streichung von Zöllen im Sinne einer sinnvollen Globalisierung, die allen Handelsteilnehmern Vorteile bringt, vorantrieb, verfolgte man mit der Nachfolgeorganisation WTO seit Mitte der 1990er Jahre vor allem globalistische Ziele, die es globalen Realgüter- und Finanzkonzernen ermöglichen, überall auf der Welt möglichst billig zu produzieren und kleine oder lokale Unternehmen zu verdrängen: dazu dienen die Erleichterung ausländischer Direkt- und Portfolioinvestitionen, sowie das TRIM-Agreement (Wikipedia 2018a), welches Outsourcing und internationale Arbeitsplatzverlagerung erleichtert.

Dies hat zu massiven Arbeitsplatzverlusten und Deindustrialisierung in den OECD-Staaten, Stagnation der Realeinkommen aufgrund der globalen Fertigungsketten mit Billigkonkurrenz und mangelnden staatlichen Investitionen in Infrastruktur geführt, da global agierende Unternehmen sich sowohl der Zahlung adäquater Löhne als auch der Besteuerung entzogen und die Gewinne vollständig privatisierten. Profitiert haben von dieser Entwicklung vor allem drei Gruppen: (i) niedrig qualifizierte Arbeitnehmer in Produktionsverlagerungsländern wie China und Indien, von denen hunderte von Millionen der bittersten Armut entkommen sind, (ii) vor allem Produktionsmitteleigentümer in den OECD-Ländern und in Neuaufsteigerländern wie Korea, China und Indien – diese Eigentümer sind durch Thesaurierung der Gewinne aus der globalen Produktionsverlagerung in kurzer Zeit märchenhaft reich geworden.

Die globalen Eigentümerschichten immunisieren sich mittlerweile auch gegen den Aufstieg neuer Unternehmer. So versiegte ab 2008 der Zugang zum Kreditmarkt für neu gegründete Unternehmen, statt dessen eignen sich großer Privatvermögen neue Erfindungen durch eine private Beteiligungspolitik (Stichwort Venture Capital/Private Equity) an, bestehende Großunternehmen werden durch staatliche Kreditvergabe privilegiert (Unternehmensanleihenkäufe durch Zentralbanken) und bei Staats- und Finanzkrisen erfolgen Bail-Outs privater Kreditoren. Alle diese Vorgehensweise festigen und steigern zu Lasten einer breiteren Einkommensverteilung die bestehenden Vermögen. Klassische Sozialstaatsmaßnahmen und Sozialpolitik zur Erhöhung von Löhnen, Renten und anderen Leistungen der staatlichen Daseinsfürsorgen sind dagegen wirkungslos, wie Piketty (2014) empirisch bewiesen hat.

4 Die heutige Plutokratie und ihre Herrschaftsideologie

Die Vermögen, die sich auf diese Weise gebildet haben, sind gigantisch. Etwa ein Tausendstel der Weltbevölkerung besitzt je nach Quelle zwischen 70 und 80% des globalen Finanzvermögens, das reichste Zehntel besitzt sicherlich mehr als 85% davon (Wikipedia, 2018b). Die ökonomische Dichotomisierung der Gesellschaft ist mittlerweile so extrem, dass es gerechtfertigt ist, von einer globalen Plutokratie mit Eigentumsoligopol zu sprechen. Diese globale Plutokratie verfolgt eine Politik der Auflösung des Nationalstaats als Ort der politischen Willensbildung und Machtausübung. Warum? Weil die im Nationalstaat verankerte Gewaltkontrolle die globale Machtausübung begrenzt und die heutigen riesigen Vermögen aus Sicht ihrer plutokratischen Eigentümer in keinem adäquaten Verhältnis zu den Möglichkeiten ihrer Machtausübung stehen: Sie müssten aus der eigenen Perspektive angesichts ihres Vermögensstands viel mehr Macht ausüben können. Doch demokratische, rechtsstaatlich verfasste Nationalstaaten als Orte der Machtkontrolle verhindern dies. Daher fordert die Ideologie des Globalismus, dass die Nationalstaaten einem internationalen Staatenverbund weichen, bei dem intergouvernementale, nicht-rechtsstaatliche, maßgeblich von den Plutokraten kontrollierte Gremien ein Willkürrecht in deren Interesse setzen. Gerechtfertigt wird dies mit einer humanitären Fassade: Aus Sicht des Globalismus haben Menschen keine politisch relevante kulturell-historische Verwurzelung, Vergesellschaftung ist planbar und der Mensch kann seine Existenz als biologisches Lebewesen transzendieren: homo deus. Daher, so die Ideologie, brauche man für die Vergesellschaftung in Staaten keine lokale, regionale oder nationale Kultur, sondern könne global unabhängig von kulturellen Voraussetzungen wirtschaften. Dafür brauche es auch keine Nationen mehr. Die Ablösung nationaler politischer Gewaltausübung durch supranationale, auf zwischenstaatlichen Verträgen beruhende Entitäten wie der EU oder der UNO diene dazu, moderne Probleme zu lösen, die Nationalstaaten im Alleingang nicht lösen könnten: Klimawandel, Migration, Währungspolitik, internationaler Handel, Regulierung wirtschaftlicher Akteure, Rüstungskontrolle, Befriedung von Konfliktregionen. Zusätzlich wird unablässig vorgegeben, der Nationalstaat habe historisch nichts als Konflikte hervorgebracht und habe nie eine Funktion zur Gewaltreduktion gehabt. So etwa der Schriftsteller, EU-Ideologe und Faktenfälscher Robert Menasse: »Den schützenden souveränen Nationalstaat hat es so nie gegeben.« (NZZ vom 19.12.2018). - Dieses Denken wird vielfach mit Preisen bedacht und hat sich so verfestigt, dass es von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten unablässig wiederholt wird wie ein Credo. Doch gibt der Globalismus lediglich vor, humanistisch zu handeln. Keines der oben genannten Probleme benötigt internationale Kooperation im Sinne der Abgabe von Souveränität, und keines kann ohne Nationalstaaten gelöst werden, sondern alle sind nur im Ringen der Staaten um gemeinsame oder antagonistische Lösungen bearbeitbar und nur durch den Einsatz der nationalen staatlichen Gewaltmonopole gegenüber den Bevölkerungen durchsetzbar.

Der Globalismus muss allerdings von der sinnvollen und segensreichen Globalisierung abgegrenzt werden. Ersterer wird von der globalen Hochfinanz getragen, die nahezu vollständig von der Realwirtschaft entkoppelt ist. Die Globalisierung hingegen ist der freie Handel mit Realgütern, der allen beteiligten Ländern auch dann, wenn sie unterschiedliche ökonomische Entwicklungsstadien erreicht haben, i.S. des comparative advantage (nach D. Ricardo), Vorteile bringt. Der humanitaristische Globalismus ist eine Herrschaftsideologie, die plutokratische Partikularinteressen verfolgt, dies aber als Humanismus ausgibt. Dies lässt sich am besten am Beispiel der EU belegen, bei der die Verlagerung der Rechtssetzung von verfassungstheoretisch legitimen Prozessen der nationalen politischen Willensbildung in einen Raum der illegitimen Scheinrechtlichkeit bereits am weitesten fortgeschritten ist (Vosgerau 2018). Betrachten wir dies genauer am Beispiel des Euro.

4.1 Euro

Der Euro wurde geschaffen, um die politische Einheit der EU voranzutreiben, denn theoretisch war von vorne herein klar, dass die gemeinsame Währung kaum ökonomische Vorteile, sondern wahrscheinlich gravierende Nachteile haben würde. Der heutige EU-Generalsekretär Martin Selmayr stellte in seiner Promotion schon 2002 fest, dass mit dem Euro »ein Politikbereich vollständig aus dem nationalen Zusammenhang« herausgenommen wurde, um ihn »ausschließlich auf der Gemeinschaftsebene anzusiedeln«, wodurch »erstmals ein Kernbereich der Staatlichkeit« vergemeinschaftet worden sei und hier Gemeinschaftsrecht absolut über nationalem Verfassungsrecht stehe (Selmayr 2002), zitiert nach Schacht (2018). Damit traf er die Intention der Euro-Schaffung exakt. Es ging um die Auslagerung eines bedeutenden Teils der nationalen Souveränität in eine staatstheoretisch und politisch nicht legitime Form supranationaler Herrschaft.

Schon bei Gründung des Euro war viele Akteuren klar, dass die ungleiche Produktivität der Euro-Länder und die daraus resultierenden Handelsbilanzungleichgewichte innerhalb der Eurozone zu Kapitalexporten aus den Ländern mit Handelsbilanzüberschuss in die Länder mit Handelsbilanzdefiziten führen musste (Sinn, 2015). Daher wurden mit der Lissabon-Strategie von 2000 Maßnahmen beschlossen, um eine Produktivitätskonvergenz der beteiligten Ländern zu erreichen. Als diese scheiterten und die Marktteilnehmer der Exportüberschussländer ab 2009 nicht mehr bereit waren, freiwillig Kapital in die Defizitländer zu exportieren, wurde Kapital mit Hilfe von bilateralen Krediten und den staatlichen multilateralen Kreditprogrammen EFSF, EFSM, ESM, IWF und vor allem den Maßnahmen der EZB (Anleihenkäufe OMT und CSPP, flexibles Kreditprogramm TARGET-2-Salden, Negativzinspolitik) zwangsallokiert, um deren Überkonsum aufrecht zu erhalten und offene Staatspleiten in Griechenland, Irland, Italien, Spanien und Portugal abzuwenden. Diese unbesicherten und kaum verzinsten Zwangskredite (die TARGET-Salden werden gar nicht verzinst, die Kreditprogramme real kaum), die der Konkursverschleppung in den Schuldnerländern dienen, belaufen sich bis heute auf eine Summe von mindestens 5000 Milliarden Euro, wovon Deutschland derzeit (Ende 2018) mit ca. 1650 Milliarden (das sind ca. 5 Bundesjahreshaushalte auf dem Niveau von 2018 oder fast die gesamte Staatsschuld der BRD) im Risiko steht (Raad 2018). Da die Produktivitätsunterschiede und die Handelsbilanzungleichgewichte sich dabei nicht verbessern, sondern sich eher verschärft haben, ist nicht damit zu rechnen, dass diese Schulden je zurückgezahlt werden. Dafür müssten Italien oder Griechenland im Ausmaß ihrer Kreditaufnahme nach Deutschland Exportüberschüsse erwirtschaften – dies ist schlicht undenkbar. Laut den globalistischen Eliten der Euro-Gruppe geschieht die Euro-Rettung aus europäischer Solidarität, zur Vertiefung der Vergemeinschaftung und seit 2010 auch zur »Rettung Europas« (so Angela Merkel bei zahlreichen Reden im Bundestag). Doch wer profitiert von der Rettung und dem System? Bei der Eurorettung 2009/2010 waren es private Fremdkapitalgeber, die durch Umtausch privater Kredite in öffentliche vor dem Hair-Cut oder dem Totalausfall ihrer Forderungen bewahrt wurden. Diese Kapitalgeber waren Rentenkassen und Anlagevehikel wohlhabender Individuen wie Hedge-Fonds. Seitdem die Eurorettung in einen chronischen Modus übergegangen ist, hat sich die Nutznießerstruktur verändert, nun profitieren davon in erster Linie die Eigentümer von Firmen, die Eurozonen-Exportüberschüsse erwirtschaften. Denn diese werden aus EZB-Krediten an die Importeure der Güter bezahlt, und die daraus resultierenden Profite werden privatisiert. Zwar profitieren die Mitarbeiter der Exportfirmen auch, doch nicht im entferntesten im Ausmaß der Eigentümer.

Da das Eurozonen-Kreditvolumen jährlich um hunderte von Milliarden wächst, ist für deutsche Unternehmen mit zweistelligen kreditfinanzierten Milliardengewinnen zu rechnen, für die die Bürger als Gläubiger der Schulden im Euro-System einstehen. Kommt es zum unvermeidlichen Verlustfall, haften alle Bundesbürger für Deutschlands Anteile an den Anleihenkäufen der EZB, an den TARGET-Salden und an den Kreditfonds. Falls große Schuldnerländer wie Italien Bankrott melden, kann der Haftungsanteil Deutschlands sogar noch steigen. Wie wirkt sich die Haftung aus?

Bürger haften als Steuerzahler und Empfänger staatlicher Leistungen: Erstere werden steigen, letztere drastisch sinken, und wenn das nicht reicht, wird es zu Enteignungen kommen wie bei der Lastenausgleichsabgabe von 1952. Kurzfristig macht das System die Eigentümer von Exportunternehmen, das sind deutschen und internationale Großeigentümer, immer reicher, da sie die Gewinne im globalen Finanzsystem massiv gehebelt anlegen können. Derweil zementiert das Eurosystem die Arbeitslosigkeit und die staatliche Austerität in den strukturschwachen Südländern. Weil weder das (in Negierung kultureller Aspekte des Wirtschaftsgebarens) erhoffte Aufholen bei der Produktivitätsentwicklung noch die ›innere Abwertung‹ durch Senkung der Lohnstückkosten im ausreichenden Maße erfolgt, ist dort eine Erholung nicht in Sicht, die Armen und Schwachen werden immer ärmer. Und in den Nordländern werden Millionen von Sparern, das ist die Mehrheit der Bevölkerung ohne nennenswertes Realeigentum, durch die Negativzinsen kalt enteignet und sind vom Zusammenbruch des Schuldengebäudes bedroht, während der Euro als Weichwährung die Innovationsanstrengungen der Unternehmen hemmt.

Durch dieses sogenannte, bis heute anhaltende Eurorettungsprogramm wurde der Vertrag von Maastricht (no-bail-out-Klausel) gebrochen, das Budgetrecht der nationalen Parlamente durch die EZB-Maßnahmen verletzt und damit die verfassungsmäßige Ordnung außer Kraft gesetzt. Wir fassen zusammen: Die Verlagerung der Währungshoheit und des Budgetrechts vom Bereich nationaler Souveränität auf die supranationale Entität EU hat also zu staatlichen Rechtsbrüchen im Interesse der internationalen Produktionsmitteleigentümer geführt. Diese gehen zu Lasten der sozial Schwachen und des Großteils der Bevölkerung, der über kein nennenswertes Eigentum verfügt. Nie ging es bei der ›Eurorettung‹ um ›Solidarität‹ oder ›Europa‹, stets um klare ökonomische Interessen einer winzigen Schicht. Rechtsprechung funktioniert auf nationaler Ebene bestenfalls leidlich, weil ihre Umsetzung menschliches Ermessen erfordert, das fehleranfällig ist. Aber es funktioniert, wie die Geschichte der Bonner Republik veranschaulicht. Doch zeigt die Eurorettung, dass außerhalb des Nationalstaats in der EU das Recht nur eine Fassade ist, die ignoriert wird, sobald globalistische Interessen tangiert werden.

4.2 Träger der globalistischen Ideologie

Den globalistischen Plutokraten dienen explizit oder implizit zahlreiche hochqualifizierte Mit- und Zuarbeiter, die diese Ideologie mittragen und verbreiten: Explizit Manager globaler Konzerne und deren Dienstleister wie Strategieberater, Werbeagenturen, Outsourcer und Anwälte, aber auch implizit Journalisten, Künstler und Staatsbeamte, wie etwa Wissenschaftler, Richter, Staatsanwälte, Ministerialbeamte und Lehrer. Entscheidenderweise tragen insbesondere viele Linke diese Ideologie mit, obwohl sie nur einer winzigen, extrem reichen Minderheit dient. Die allermeisten von ihnen tun dies im guten Glauben, sich für eine scheinbar moralisch hochwertige Position, einen universellen Humanismus, einzusetzen. Dazu gehören auch prominenten Intellektuelle wie Michel Foucault (s. dazu Preparata (2007)) oder Habermas (1996).

Wie kam es dazu? Die Ideologie des Globalismus beinhaltet auch den Universalismus, dessen klassischer Bezugsrahmen zwar der Nationalstaat war (wie in Kants Schrift Zum Ewigen Frieden), der jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Projektionsfläche wurde, die mit Hilfe politischen Handelns die Verwirklichung einer ›Weltgesellschaft‹ versprach (Eisleben 2018a). Dabei haben viele Linke vergessen, dass ihre politische Orientierung ursprünglich bedeutet, sich für die sozial Schwachen des eigenen Landes einzusetzen, weil nur der Nationalstaat über die ökonomischen und politische Mittel verfügt, die Schwachen zu schützen und zu stützen. Statt dessen bekämpfen sie in einer Überreaktion auf die europäischen nationalistischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts den Nationalstaat als Ort der politischen Willensbildung, wie man das beispielsweise bei Habermas (2011) sehr gut erkennen kann. Dass sie damit in erster Linie den Interessen des internationalen Großkapitals dienen, ist ihnen entgangen, weil sie nicht in adäquaten ökonomischen und soziologischen Kategorien denken. Was ist damit gemeint?

4.3 Das Eigentumsmodell der sozialrevolutionärer Tradition

Viele moderne Linke stehen in der Tradition der intellektuellen sozialrevolutionären Bewegung, einer ihrer wichtigsten Vordenker Habermas ist ein Spätmarxist, seine Vorläufer Georg Lukács, Herbert Marcuse und auch seine Lehrer Theodor W. Adorno und Max Horkheimer waren Marxisten. Das Eigentumsmodell der marxistischen Tradition weist ihm zwei wichtige Funktionen zu: (i) als Grundlage der Ausbeutung des Arbeiters durch den Kapitalisten und (ii) als Ursache der Verdinglichung und Entfremdung. Daher liegt für Marx in der Vergemeinschaftung des Eigentums im Kommunismus die Lösung der Probleme des Kapitalismus. Zwar haben sich Sozialdemokratie und Westmarxismus von dieser Forderung nach dem Zweiten Weltkrieg abgewandt, doch wurde dem kein positiver Eigentumsbegriff entgegengesetzt, sondern das Thema bliebt in der Schwebe. Obwohl das traditionelle Eigentumsmodell des Marxismus die rationale Sicht des Eigentums als Quelle von Wohlstand und Fortschrittsmotor (Gehlen 1957) verhindert, fand sich die Sozialdemokratie mit dem Thema ab: Eigentum wurde hingenommen, man konzentrierte sich in der Nachkriegszeit auf Einkommensverbesserungen, ließ die Eigentumsfrage aber offen, bis sie weitgehend – sowohl praktisch als auch theoretisch – aus dem Fokus geriet. Dabei verlagert sich das Denken vieler Linker immer mehr auf kulturelle Themen, in den USA mit den »politics of identity« (Richardt 2018), aber auch in Europa. So ebenfalls bei Habermas, der in seiner Theorie des kommunikativen Handelns den ökonomisch geprägten Entfremdungsbegriff durch die Vorstellung von der »systematisch verzerrten Kommunikation«, einen kulturellen Begriff, ersetzt (Sölter 1996). Im Kulturellen verbleibend strebt er eine Lösung der Probleme unserer Gesellschaft mit Hilfe einer »unversehrten Intersubjektivität« an. Während dieses Fokuswechsels der marxistischen Tradition von der ökonomischen zur kulturellen Perspektive entstand durch die oben geschilderten ökonomischen Prozesse eine historisch einmalige Eigentumskonzentration, die sich im Globalismus als Herrschaftsideologie abbildet. Durch den Fokus auf Kulturkritik hat die intellektuelle Linke dem nichts mehr entgegenzusetzen, es fehlt das begriffliche Instrumentarium, um die Entwicklung zu beschreiben, einzuordnen und darauf zu reagieren. Statt dessen wird der Globalismus ideologisch gestützt – dieser Teil der Linken ist zur Pseudolinken geworden und hat sich nun den tragenden Ideologen der globalen Plutokratie zugesellt. Dies kann man leider sehr gut am Beispiel der SPD betrachten, die sich u.a. im Namen der ›Solidarität‹ für die Eurorettung (und anderen den Interessen ihrer ehemaligen Klientel von Lohnabhängigen schadenden politischen Ansätzen) ausspricht, ohne zu verstehen, wem sie damit eigentlich dient und wem sie schadet.

5 Die drohenden Folgen des Missbrauchs

Falls sich die globalistische Ideologie weiter durchsetzt, droht dem Westen eine ernsthafte Krise. Die Rückkehr offener Gewalt in unserer Gesellschaft wird dann eine realistische Möglichkeit. Dies wird keine Krise im Sinne des Kulturpessimismus sein, sondern eine handfeste wirtschaftliche und politische Krise. Wenn der Staat nicht mehr das Gewaltmonopol nutzt, um Gewalt zu minimieren, sondern selbst interessierte Partei wird und das Monopol missbraucht, besteht für die Bürger Gefahr. Wie Arnim (2017) gezeigt hat, haben die Parteien sich den Staat zu eigen gemacht und missbrauchen aktiv das Gewaltmonopol zu ihrem Gunsten und im Sinne einer kleinen Minderheit. Daraus hat sich eine krisenhafte Situation mit der gefährlichen Interaktion folgender sozio-ökonomischer Entwicklungen ergeben, von denen bis auf die demographische Entwicklung alle auf politischen Fehlentscheidungen beruhen:

  1. Abbau des Ordnungsstaats nach Innen und Außen seit den 1960er Jahren,

  2. Deindustrialisierung durch ökologisch motivierte Überregulierung (siehe beispielsweise Klingner 2018; Eisleben 2018b; Bolz 2019), infolgedessen Senkung der Wirtschaftsleistung und der Beschäftigungsquote und Zunahme der Anzahl der Arbeitslosen,

  3. extreme Eigentumskonzentration mit Versiegen adäquater materieller Partizipationsmöglichkeiten für die Mehrheit der Bevölkerung unter Bildung eines Prekariatssockels nicht in die Produktion integrierter, meist bildungsarmer Gruppen,

  4. Demographische Überalterung der Bevölkerungsschichten, die aktiv zur Produktion beitragen können,

  5. Zunahme gesellschaftlicher Dysfunktionalität durch starke Zuwanderung von Migranten, von denen die meisten das westliche Normensystem, das für das Funktionieren einer modernen Industriegesellschaft erforderlich ist, nicht verinnerlicht haben und den Bildungsanforderungen der hochkomplexen Arbeitswelt einer weit entwickelten Industriegesellschaft nicht gerecht werden,

  6. ständige Ausweitung sozialstaatlicher Ausgaben für die in (2.), (3.), (4.) und (5.) erwähnten transferabhängigen Gruppen bei kontinuierlichem Anstieg der privaten und öffentlichen Verschuldung, in der Euro-Zone akzentuiert durch krasse Ungleichgewichte der transnationalen Schuldenverteilung.

Platzt wie oben beschrieben die Schuldenblase, kommt es zu einer fundamentalen Wirtschaftskrise mit Kontraktion (Mayer, 2014). Es fehlen dann die staatlichen und privaten Mittel, um den Lebensunterhalt der Einwohner unseres Landes, die nicht erwerbstätig sind, zu finanzieren. Heute sind knapp die Hälfte (47%) nicht erwerbstätig, in der Krise werden es deutlich mehr als die Hälfte sein. Die oben aufgezählten Entwicklungen interagieren dann überadditiv: Nach dem jahrzehntelangen Abbau der Ordnungskraft des Staates in Zeiten, in denen die Bürger sich aufgrund der Verinnerlichung von Normen nahezu alle normenkonform verhalten haben, ist er schlecht darauf vorbereitet, in so einer Situation das Gewaltmonopol aufrecht zu erhalten. Private Gewalt und Willkür drohen dann in großem Maßstab wiederzukehren.

6 Die Rückkehr zur Gewaltbegrenzung

Kommen wir zum Schluss unserer Betrachtungen zur deren Ausgangspunkt zurück. Die entscheidende Funktion von Nationalstaaten besteht darin, das Paradoxon der Gewaltbegrenzung so gut wie möglich anzugehen. Das anzustrebende Gleichgewicht zwischen der Tendenz zum Missbrauch des notwendigen Gewaltmonopols und der Minimierung des Missbrauchs kann nur funktionieren, wenn die staatstragenden Eliten sich von dessen Verhinderung mehr versprechen als von der Aneignung staatlicher Mittel zu ihrem Vorteil – das Modell hängt vom Ethos der Eliten ab. Dieses Ethos ist heute verfallen, große Teile der Eliten haben sich vom Modell der Gewaltenteilung und Machtkontrolle verabschiedet und sehen das Gewaltmonopol des Staates vielmehr als Möglichkeit zur Optimierung ihrer eigenen Lage und der Machtstellung einer kleinen Minderheit, deren Interessen sie bewusst oder unwissentlich dienen. Dadurch ist ein Legitimationsdefizit unseres Staates entstanden. Wie kann dieses überwunden werden? Was sind die Elemente einer Restitution der Gewaltbegrenzung?

6.1 Institutionell-rechtliche Reformen

Wir haben in Deutschland – sieht man von den EU-spezifischen Verfassungsänderungen ab (wie Art. 23, 1992), die nun in Folge der von den Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gewaltenteilung abweichenden Entwicklung der EU problematisch sind (Kielmansegg 2015) – eine Verfassung, die bis auf ein entscheidendes Element bereits ein sehr weitgehendes Modell der Gewaltkontrolle vorschreibt, das weiter geht als in vielen anderen westlichen Ländern und aus historischen Gründen von den Besatzern gutgeheißen wurde.

Das wichtigste fehlende Element ist ein Eigentums- und Finanzrecht, das eine auf Eigentumskonzentration beruhende Erosion der demokratischen Gewaltbegrenzung, wie wir sie heute beobachten, verhindert. Wie unsere Analyse gezeigt hat, fehlt dies, weil bei der Entstehung bürgerlicher Verfassungen Ende des 18. Jahrhunderts das heutige Problem der Bildung von Eigentumsoligopolen noch nicht absehbar war und die sozialdemokratische Linke die Eigentumsfrage nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in der Schwebe gelassen und dann vernachlässigt hat. Wie solche neuen Rechte zur Verhinderung dieser Fehlentwicklung aussehen sollen, bedarf eines komplexen Entwurfs, der hier nicht zu leisten ist. Mit Sicherheit müssten Papiergeld- und Teilreservesystem überwunden werden (einen interessanten Entwurf dafür zeigt Mayer (2014)) und die Eigentumskonzentration durch staatliche Eingriffe in sehr große Vermögen begrenzt werden, um eine breitere Eigentumsverteilung zu erreichen.

Eine weitere Reformengruppe müsste die Verlagerung wichtiger Kompetenzen von Legislative und Judikative in nicht rechtsstaatliche, undemokratische transnationale Körperschaften rückgängig machen – wir brauchen wieder ein Europa der souveränen Nationen, die nur da Souveränität abgeben, wo es der Bevölkerung wirklich dient, vor allem beim innereuropäischen Waren- und Dienstleistungshandel. Frieden wird durch wirtschaftliche Verflechtung souveräner Nationen erreicht, weil Krieg zu führen dann niemandem nützt. Entzug der Souveränität erzeugt hingegen Feindseligkeit und Ranküne, wie das Beispiel der Eurorettung zeigt. Dagegen sind Klimawandel, Migration, Währungspolitik, Regulierung wirtschaftlicher Akteure oder Rüstungskontrolle Politikbereiche, die souveräne Nationen durch bi- und multilaterale Abstimmung und Verträge bewältigen sollten.

6.2 Revitalisierung des Ethos

Neben institutionellen Reformen ist auch eine Renaissance des demokratisch-rechtstaatlichen Ethos der machttragenden Elite erforderlich. Derzeit sind wir davon weit weg, stattdessen beobachten wir derzeit ein weitere Verschärfung des Zustands der Entfernung der Eliten von den Prinzipien der Gewaltbeschränkung. Wie wurden solche notwendigen Wiederherstellungsprozesse des Ethos historisch katalysiert? Meist durch große Umbrüche, wie den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten, die Französische Revolution oder das Ende des Zweiten Weltkriegs. Hoffen wir, dass es dieses Mal ohne oder mit weniger Gewalt möglich wird.

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