Renate Solbach: Sarkophag

Mein ’68. Aufbruch nach Europa, hg. v. Holk Freytag u. Ingrid Sonntag, Dresden (Sandstein Verlag) 2019, 196 Seiten

Wenn historische Ereignisse vergangen sind, sind sie zwar historisch, aber in einem spirituellen Sinne doch nicht vergangen. Die Sächsische Akademie der Künste hat gerade einen Band zum Jahr 1968 vorgelegt, der uns dessen Aufbrüche gleichermaßen als weiterwirkende Illusionen wie legitime Niederlagen und tragische Aufbrüche verdeutlicht. Der Untertitel, mit dem die Herausgeber, der Dresdener Akademiepräsident Holk Freytag und die Leipziger Literaturwissenschaftlerin Ingrid Sonntag, hier in ihrem hochinteressanten Band vor allem die epoche-übergreifenden Nachwirkungen des ›Prager Frühlings‹ markieren, ist einem Prager Text von 1968 entlehnt, in dem es heißt: »Wenn es uns bisher genügt hat, zu wissen, wohin wir nicht wollen, müssen wir uns jetzt endlich entschließen, wohin wir eigentlich wollen. Wir sollten zurück nach Europa wollen.« Das hatte damals Jan Procházka (1929-1971) geschrieben – (Solange uns Zeit bleibt, 1973, 147) –, da war er Eduard Goldstückers Stellvertreter im Vorstand des Schriftstellerverbands der ČSSR. Damit ist aber auch die geistig-politisch prinzipielle Differenz zum studentischen ’68 in Westdeutschland offenbar, wie sie schon Ondřej Černý erlebte: »Mein Gott, die sind ja hier viel kommunistischer als bei uns« (S.145); die wollten – wie dann maßgebliche DDR-›Bürgerrechtler‹ ’89 – natürlich kein geeintes Europa, keine bürgerliche ›Normalität‹ – sie befeuerten einen neuen, ›wahren, demokratischen‹, utopischen Sozialismus, – während die Osteuropäer zum Befund, es habe doch noch gar keinen richtigen Kommunismus gegeben, gelassen antworteten: … und dabei sollten wir es auch belassen. Und so war es, wie Marek Zybura schreibt, »die Jugend von Warschau und Prag, die recht behalten hat, und nicht diejenige von Paris, Berlin oder Frankfurt.« (S.136) Das zeigte sich schon bei einer frühen Begegnung Rudi Dutschkes mit Alexander Dubček, als er von den besetzten Westberliner Hörsälen her gewarnt wurde vor der Wiedereinführung jedweder Marktwirtschaft (… wie sie aber Ota Šik just projektierte). Milan Horáček erinnerte sich im Abschlussgespräch zu diesem Band: »Rudi wurde bei seinem Auftritt in der Karls-Universität im Grunde nicht verstanden … er wurde als spinnerter Revolutionär wahrgenommen.« (S.175)

Im historischen Rückblick könnten wir das politisch-strategische Projekt der Dubček-Gruppe, das sie gerade nicht ›im geheimen‹, sondern in und mit der Öffentlichkeit der Bürger zu vollbringen entschlossen war, als historisch singulär einschätzen. Aus einem einzigen Grund: Man darf es nämlich als historisch einmaligen Versuch betrachten, nicht einen neuen, diesmal ›demokratischen‹, Aufbruch zum Kommunismus zu versuchen, sondern umgekehrt, aus intensiver analytischer Arbeit und aus ›kaleidoskopischer‹ Wahrnehmung des Kommunismus in allen seinen nationalen und mentalen Spektren, einen für alle verständlichen und mitzutragenden großen Rückzug vom Kommunismus zu entwerfen. Es sollte, wie Pavel Kohout (*1928) hinterher sein Mitwirken am ›Prager Frühling‹ motivierte, eine öffentliche Wiedergutmachung des Februar ’48 bewerkstelligt werden. Das nun nicht wiederum als ›Putsch‹ (wie damals) gegen die Zivilgesellschaft – es wurde eine gesamtgesellschaftliche – ja, antikommunistische – Agenda zur öffentlichen Diskussion gestellt, engagiert und mit »typisch tschechischer Autoskepsis« (Ondřej Černý, S.144): diskutiert wurde nationale Selbstbestimmung, Abschaffung des Vorbehalts- und Einspruchrechts sog. führender Parteien bei politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entscheidungen, Wiederherstellung von Markt- und Privatwirtschaft, Wiederherstellung des Parteienparlamentarismus, Entbindung des Rechts aus dem Partei-Framing, Garantie der Presse-, Denk- und Lehrfreiheit. Kurzum, wie Marek Zybura schreibt: »Nicht Systemreformen wurden gefordert, sondern Meinungsfreiheit, das Recht auf die ungehinderte Pflege nationaler Kultur und generell die Bürgerrechte unter Berufung auf Verfassung und Menschenrechte.« (S.137).

Das aber bedeutete, wie Ondřej Černý schreibt: »Ohne das Jahr 1968 kann … im gesamten Europa das Jahr 1989 nicht wahrgenommen werden.« (S.145) Das war, wie Jan Schindler-Wisten und Klaus Michael hervorheben, »nicht noch einmal ein neues Gesellschaftsexperiment… Das war die europäische Demokratie.« (S.64).

Diese kommunistische Selbstkritik des Kommunismus – physiognomisch mit Alexander Dubček (1921-1992) verbunden (vgl. Vladimir Šlapeta, S. 178-185), mit dessen Lebensfreude und seiner Schüchternheit im politischen Alltag (die einen heute noch zu Tränen rührt) sowie dem illusionslosen Mannesmut Frantisek Kriegels (1908-1979) – zeichnet in die Gewaltgeschichte der Selbstbehauptung des Kommunismus einen lebendigen, menschheitlichen, anti-politischen Affekt ein, der uns inmitten der Verfallsgeschichte des Politischen an die sich davon abhebende Würde des Einzelnen, der Person glauben lässt – in B.K.Tragelehns Versen: »Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.« (S.73) Seine Melodie des Rückzugs an der Moldau hört Ludwig Güttler im Bläser-Quintett zu einem »Thema« bei Petr Eben (1929-2007).

Diese große kultivierte Retirade weg von der sowjetischen Gleichheits- und Schreckenspraktik vom Frühling 1968 war also gerade das Gegenteil einer – immer heilsversprechenden! – politischen Reform eines Systems, das noch programmatische Potenzen zur Verfügung habe; es war auch nicht mehr das Werk einer zu allem entschlossenen politischen ›Avantgarde‹. Die paradoxe Situation der Prager ’68er, die ihnen selber damals nicht aufging (!), beschrieb einmal einer ihrer Kombattanten, Zdenȇk Mlynář (*1930), als er von ihrem tapfersten der Tapferen schrieb, es sei wahr, »daß Kriegel damals vor allem als Mensch und weniger als Politiker gehandelt hat. Es war diese Haltung der damaligen Situation viel angemessener als unsere […] wir hielten die Illusion aufrecht, als ob wir als Politiker mit anderen Politikern über politische Probleme verhandelten.« (Mlynář, Nachtfrost, Frankfurt/M. 1988, 296f.) Gerade wegen dieser Asymmetrie der Gestaltung konnte es ein Projekt ›mit menschlichem Antlitz‹ sein und keine ›Bartholomäus-Nacht‹ (wie 1956 Budapest, Bukarest 1989 oder Jugoslawien 1999ff.).

 

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