Vorbemerkung
Dass sich deutsche Sozialisten/Marxisten von allem Anfang an mit Nietzsche beschäftigten, ist lange bekannt. Darauf haben Vivetta Vivarelli und Ernst Behler schon mit dokumentarischen Berichten (1984) hingewiesen. – Da wurde Nietzsche sogar von dem vehementen Nietzschekritiker Franz Mehring eine (im Vergleich zu Schopenhauer) viel interessantere philosophische Nähe zu Hegel zugestanden, die es schließlich gestatten wird, ihn dann auch dem Denkkreis von Marx anzunähern. Auch wäre hierbei zumindest eine politische Gemeinsamkeit auszumachen, so Mehring, nämlich die tiefe Kritik beider Antipoden am preußisch-deutschen Nationalismus, der wiederum in Eduard von Hartmann seinen zeitgemäßen Philosophen hatte, der seinerseits von Marx wie Nietzsche gleichermaßen kritisiert wurde.
Die beiden Denkern gegenüber verständnisvollste Arbeit ist Max Falkenfeld (1864-1929): Marx und Nietzsche (Leipzig 1899, russ. 1906). Falkenfeld hoffte, mit beiden Denkern zu einer Symbiose von Sozialismus und Individualismus gelangen zu können. Bei Falkenfeld wird namentlich in Nietzsche der »freieste Kopf des Jahrhunderts« gesehen, der – wie auch Marx – als guter Europäer allem nationalen und militaristischen Enthusiasmus ablehnend gegenübersteht. Das macht beide – auch theoretisch, kritisch – kompatibel.
Dieser ›synthetische‹ Blick auf Marx und Nietzsche gipfelt zeitgenössisch in einem Nachruf auf Nietzsche in den Sozialistischen Monatsheften (IV. Jg., Okt. 1900, 630-640), in dem es heißt: »Er war unser. Er war nicht der Philosoph der zünftlerischen Romantik […] Er war nicht der Philosoph des Capitalismus […] Er hat geweissagt, was wir uns erarbeiten mussten: dass der Wert der Menschheit im Menschen liegt und das jedes echte Aufwärts einen aristokratischen Sinn hat.« Der Nekrolog stammt von Ernst Gystrow, – das war ein Pseudonym für Willy Hugo Hellpach (1877-1955), deutscher Politiker und Arzt, der 1925 für die ›Deutsche Demokratische Partei‹ (DDP) bei der Wahl zum Reichspräsidenten kandidierte.
Auch außerhalb Deutschlands gab es eine Nietzscherezeption durch Intellektuelle, die sozialkritisch-marxistischen Ideen nahestanden. Exemplarischer Fall ist der französische Germanist Charles Andler (1866-1933), der seit 1889 Mitglied des Parti ouvrier socialiste révolutionnaire bzw. zwischen 1905 und 1920 zur Section française de l’Internationale ouvrière gehörte und der 1920 eine sechsbändige Darstellung von Leben und Werk Nietzsches veröffentlichte.
In akademischen Kreisen in Deutschland wird ein Vergleich Marx-Nietzsche erst nach dem Ende des Kaiserreichs erkennbar. Aus dem Umkreis des Nietzschearchivs war es zunächst der Leipziger Privatdozent Max Brahn (1872-1944), der in diesen Tagen des Umbruchs sogar »einige Vorarbeiten für eine Schrift über Marx und Nietzsche gemacht [habe]. Die Ähnlichkeiten sind grösser und grundsätzlicherer Art, als man gewöhnlich annimmt: und die Verschiedenheiten sind ebenfalls so direkt gegensätzlich, dass eine schöne Parallele herauskommen wird« (Max Brahn an Elisabeth Förster-Nietzsche, v. 4. Febr. 1919). Der philosophie- und kulturkritisch markanteste Text zu diesem Thema stammt aus dem intellektuellen Umkreis des sogenannten ›Juni-Club‹ , der 1919 von Hans Roeseler und Arthur Moeller van den Bruck (1876-1925) als jungkonservativer ›Think-Tank‹ begründet wurde; dieser ›Juni-Club‹ bestand bis April 1924.
Aus diesem Kreis legte Albert Dietrich im Jahr 1922 in Die Dioskuren, im ersten von drei Jahrbüchern für Geisteswissenschaften, seinen großen Aufsatz Marx‘ und Nietzsches Bedeutung für die deutsche Philosophie der Gegenwart vor. Diese Jahrbücher (1922-1924) gab der Philosoph und Kulturhistoriker Walter Strich (1885-1936) heraus (sein Bruder war der Berner Germanist Fritz Strich (1882-1963). Walter Strich wurde auch bekannt durch sein geschichtsphilosophisches Werk Der irrationale Mensch (Berlin: Lambert Schneider 1928).
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Beide Denker (Marx wie Nietzsche) werden hier jetzt bei Dietrich philosophisch neu entdeckt als Überwinder bloßer ›System‹- & Begriffs-Methodik. Dass diese geistige Konstellation in der Philosophie nicht länger als, ordnungsmonistisches Ideal (Hans Drisch, 1921) erfüllbar oder aufrechtzuerhalten sei, schien in jenen Tagen eine verbreitete Grundkritik an der üblichen Betriebsform von Philosophie zu sein.
Auf dieses Thema hatte – ebenfalls akademisch markant – schon Ernst Cassirer aufmerksam gemacht. In einem Vortrag vor der Mitgliederversammlung des ›Vereins zur Begründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums‹ (vom 17. Mai 1920) bemerkt er als ein neues Formproblem für die gegenwärtige Philosophie, dass ihre System-Form ganz aus der Mode zu kommen scheine: »Vielen gilt, mit Nietzsche, schon der bloße Wille zum System als Wille zur Unwahrheit.« (Cassirer, 2009, S. 500)
Cassirer bezieht sich auf Nietzsches Götzendämmerung: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.« (Nietzsche, KSA 6, 63). Cassirer spricht dann auch programmatisch von einer mit Nietzsche anhebenden grundsätzlichen »Umprägung des metaphysischen Grundgegensatzes« [von Geist vs Leben], und, so Cassirer, man mache sich dann »blind gegen ihren Ursprung und gegen ihren eigentlichen geistigen Gehalt, wenn man sie als blosse ›Modeströmung‹ abtun zu können vermeint.« (Cassirer 1995, S. 8)
Auch Walter Benjamin hatte diese Frage zu den Begriffsgrenzen der modernen Philosophie bewegt, als er überlegte, »welche Bedeutung [Nietzsches] Schriften im Ernstfall abzugewinnen ist.« (Walter Benjamin an Gershom Scholem, v. 1. Juni 1932). Das heißt, ›Ernstfall‹ (als Chiffre für einen besonders intensiven Modus des Lebendigen) und akademische Schulphilosophie haben keine gemeinsamen Schnittmengen, d.h. die (überwiegend neokantianische) deutsche Schulphilosophie hat auf Lebensfragen keine Antworten, – schon weil sie dazu keine Fragen stellt …
Und ›Ernstfall‹, – das ist nun selber kein theoretisches Problem mehr, sondern gehört zur Lebensform der seit einigen Jahrzehnten aufkommenden modernen Industriegesellschaft mit ihren sozialen Entgrenzungen. ›Ernstfall‹ könnte aber auch der je konkrete Akt der Konfrontation mit solchen Strukturen sein (z.B. Umsturz, Bürgerkrieg, Revolution). ›Ernstfall‹ ist jetzt u.a. das Problem: Wie wird das Zusammenleben in Zeiten des Zusammenbruchs ehemals übernationaler Herrschaftsformen möglich sein? Sind auch weiterhin ›Gemeinschaften‹ dafür die geeigneten Verkehrsformen? – Und vor allem: Wie können sich fortan Menschen untereinander als Freie Gleiche begegnen?
Beide, Marx und Nietzsche, schienen in dieser Situation dem modernen philosophischen Denken nun über die Begriffsform hinaus, jetzt ganz anders – aus der Kultur des Kapitalismus heraus (nicht bloß aus Apologie oder Kritik) –, aus der Kapitalform, einen neuen transzendentalen (Ermöglichungs-)Grund zu finden; also Neukonstruktionen von Bedingungen der Möglichkeit von nicht mehr bloß Begriffs-, sondern von Lebensformen zu versuchen. Zumal Marx begreift hier neue Entstehungszusammenhänge, die für ihn durch »Widersprüche, aus dem Geldverhältnisse, dem Verhältnisse des Produkts zu sich als Geld« (Marx, 1953, S. 64), induziert seien. Solche Genealogien sind aber auch Nietzsche nicht fremd! Wenn er z.B. das Begreifen von ›Gott‹ und ›Mensch‹ nicht als Deduktions- sondern als Lebensproblem lösen will. – Kurz: Beide haben einen theoretisch-konstruktiven Sinn für alltagspraktische Lebensformen, namentlich für solche des Scheins, der Lüge, der Verkehrung, – eben auch als robuste Imaginationen für die Selbsterhaltung.
Was heißt das? Marx als Beispiel, begreift durch seine Analyse die, wie er schreibt, »scheinbar transzendentale(n) Macht des Geldes.« (Marx, 1953, S. 65) Und in diesem kaleidoskopischen Schein (von der Dominanz des Geldes) werden neue Betriebsformen des Scheins für das Leben des Menschen unterscheidbar: nämlich geld- bzw. kapitalinduzierte, aber eben lebensintensiv reduzierte Lebensformen – und die haben einen allgemeinen Namen: nämlich ›Gemeinschaft‹. – Auch für Nietzsche ist der Schein eine solche zentrale Metapher für das Gehäuse der Hörigkeit (Max Weber), in dem sich das Alltagsleben des modernen Menschen abspielt.
So werden beide, Marx und Nietzsche, als Gemeinschafts-Kritiker für die Gegenwartsphilosophie interessant.
Der Raum, den Menschen sozusagen gemeinschaftsförmig entwerfen, ist – als Familie, Stamm, Clan, Volk, Nation – mehr oder weniger klar umgrenzt, auch als ökonomische ›Normalform‹. Er gestattet wohl definiertes Verhalten untereinander, dient der eigenen sozialen und personalen Identitätsfindung und bestimmt die Kommunikation untereinander und gegenüber anderen Gemeinschaften. – Der Zusammenhalt des Menschen aber, den wir philosophisch – neuzeitlich, seit der Französischen Revolution – zu entdecken hätten hat einen anderen Namen: Gesellschaft nämlich. Das Zusammenleben von Menschen, das modern unter dem emphatischen Signum der Freiheit stehen sollte, musste zunächst als der Gedanke eines freien Menschen gedacht und – vor allem – rechtsförmig gemacht werden. Dieser neue, freie Mensch (als formal Freier!) – der Citoyen, »das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft« (MEW 1, S. 363) – wurde konstituiert in der Großen Revolution der Franzosen, durch die Droits de l’homme et du citoyen, Aug. 1789. – Seine juridisch verbindliche Bestimmung erfolgte dann durch das Loi Le Chapelier: das Gesetz zur Abschaffung aller bloß herkömmlichen, gewachsenen, ›organischen‹, gemeinschaftlichen Verbindungen (Korporationen, Zünfte, Clubs, Ordensgemeinschaften, Bruderschaften etc.) vom 14. Juni 1791, vorgestellt von Isaac René Guy Le Chapelier (1754-1794), dem Mann, der im Juni 1789 den ›Ballhausschwur‹ formulierte und der im August 1789 Präsident der Konstituate war. – In seiner programmatischen Begründung dazu hieß es, es gäbe ab jetzt nur noch »das Partikularinteresse jedes Einzelnen und das Allgemeininteresse.« (Simitis, 1989, S. 157) – Das wurde lange (missverständlich) so begriffen, als seien beide unvermittelbar gegeneinandergestellt, – noch in der (politikgenerierten) Kritik von Marx heißt das: »Weit entfernt, dass der Mensch [hier] als Gattungswesen aufgefasst wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen.« (MEW 1, S. 366)
Daraus erwuchs dann – zunächst von Marx induziert – konsequenterweise das Unternehmen einer fundamentalen (vor allem politischen) Gesellschaftskritik, die gerade in den nächsten hundert Jahren in Deutschland, um aus einer scheinbar ausweglosen Dichotomie von ›Individuum‹ versus ›Gesellschaft‹ herauszukommen, in politisch-theologischen Erlösungsdiskursen enden werden. – Das stand alles auch in der Tradition von Rousseau, für den »der cosmopolite ein asoziales, egoistisches Wesen [ist], das durch die universelle Ausdehnung seiner Anteilnahme am Schicksal der Menschheit … zugleich die Tugend des Staatsbürgers, den Patriotismus einbüßte.« (van den Heuvel, 1989, S. 46)
Das ist durchaus korrekt wahrgenommen, denn: Gesellschaft ist eben (anders als Gemeinschaft) gerade nicht der Ort der ›Nächstenliebe‹, sondern, wenn man das so nennen könnte, der ›Fernstenliebe‹: d.h. aber der Ort der – selbstbestimmten! – Freundschaft und Freiheit. Denn: »Du kannst die Menschheit nicht ehren, außer im Menschen.« (Hebbel, 1905, S. 44) Hierbei hat noch Marx selber nicht alle Register des neuen Begriffs vom Menschen als gesellschaftliches Wesen gezogen, denn der Mensch hat nicht als ›Teil‹ der Gesellschaft dieses Prädikat, sondern er ist sie als Individuum, als Subjekt. Schließlich wollte »auch Marx […] die staatenlose, apolitische, freie Assoziation […], die vollendete Gesellschaft aller Menschen.‹ (Kohn, 1930, S. 193 )
Der Mensch ist das »Rätsel der Gesellschaft« (Max Adler 1936) und seine Auflösung. Und Marx hat es ja geahnt, als er der kommenden Gesellschaft – institutionskritisch und (in Differenz zu Max Weber) entwicklungsgeschichtlich – das Ende (Abschaffung) des Staates in Aussicht stellte. Und dies nicht als Thymos einer enthusiastischen zerstörerischen Revolutionsmeute, die nicht zu zügeln ist, sondern aus einem neuen analytischen Begriff des Menschen heraus, der sich dann auch – politisch – nicht mehr repräsentativ regieren lässt, sondern das an allen Orten seines Lebens – im demokratischen Modus – selber tut (dies war die Räte-Idee). Denn, wie schon Kant (§ 52 Rechtslehre) definiert: »es ›repräsentiert‹ das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst.«
Das ist neben natürlich Marx, auch von Nietzsche bemerkt worden: »Die Gesellschaft [ist] als Großmandatar des Lebens« (KSA 13, 599) zu begreifen. Damit konnte Nietzsche anknüpfen an philosophisch-literarische Diskurse zur Weltbürgerlichkeit (in der Goethezeit), als hier schon Gesellschaft bestimmt werden konnte als »eine untheilbare denkende und fühlende Person. Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.« (Novalis, 1965, S. 431) Dieser Gedanke findet sich dann als zentrale Konstellation wieder in Marx‘ Bestimmung (aus dem ›Kommunistischen Manifest‹), – nämlich, dass erst »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (MEW 4, S. 428) Auf die geistesgeschichtliche Bedeutung dieser Bemerkung von Marx weist nun auch Dietrich hin, als er kommentiert (für seine Zunft überraschend): »Die Rede vom Antiindividualismus des Marxismus stammt von … philosophischen Halbdenkern.« (Dietrich, S. 360)
Gesellschaft also ist damit als so etwas wie ein formgebender ›Hintergrund‹ von Gemeinschaften begriffen worden, – der von der Zwienatur des Menschen selber erzeugt wird. D.h. aber auch, dass ›Zwienatur‹ nicht bloß als menschliche ›Entfremdung‹ begriffen und kritisiert werden sollte.
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Mit der Entdeckung dieser ›Zwienatur‹ (u.a. von Friedrich Nietzsche, von der Durkheim-Schule, Cassirers Symboltheorie und der George-Schule) war man anthropologisch in der Lage, »den Apriorismus und den Empirismus, die Transzendenz und die Immanenz zu versöhnen und sogar den Dualismus des Menschen, der zugleich Individuum und soziales Wesen, zugleich profan und heilig ist« (Jourdan, 1927, S. 485) zu einem neuen ›Dritten‹ hin zu überwinden. Denn, wie es dann bei Cassirer heißt, »so wenig die Form der objektiven Gegenstände der Natur ... etwas schlechthin und unmittelbar Gegebenes ist, so wenig ist es auch die Form der Gesellschaft.« (Cassirer, 1994, S. 230)
Für die Frage nach dem ›Was-ist-Gesellschaft?‹ bleiben zwei Antworten ungenügend: sowohl eine substantialistische Begründung von Gesellschaft wie eine dualistische, die von einer anfänglich-ursprünglichen Opposition von Natur und Kultur als einem ›urweltlichen Datum‹ ausging. – Für eine damit induzierte ›dritte‹ Lösung eröffnen sich dann moderne neue Perspektiven, die allerdings so oder so mit ihrer ›intersubjektiven Subjektförmigkeit‹ (Marx) bzw. mit der ›Übermenschlichkeit‹ des Menschen (Nietzsche) zusammenhängen. Dessen Kommunikation und Selbsterhaltung gründet – bei beiden Denkern – nicht mehr in äußeren, sinnlichen Formen oder Institutionen, sondern in den menschlichen Operativkräften und Tätigkeiten, die nicht mehr diversifiziert (oder begrenzt) sind durch herkömmliche nationale, ökonomische, geistige, geistliche oder spirituelle Besonderheiten. Denn: »Der Mensch ist menschlich nur durch das, was er an Übermenschlichem aufbietet, und der ist nicht wahrhaft Mensch, der sich nicht vom Menschen zu mehr als Mensch wandelt.« (Valèry, 1992, S. 198 ) – In Gemeinschaften aber wird der Mensch strukturell begriffen als »das nummerierte Mitglied einer Gemeinschaft, das zoon politicon, der vielseitige, gemeinnützige, gemeinverständliche Sittlichkeitsapparat mit Gebrauchsanweisung.« (Mongré, 1897, S. 27)
Nur so werde, wenn man das so sagen wollte, ein Geheimnis des Ganzen von Welt und Mensch offenbar, nämlich »das Selbstgefühl des Menschen, die Freiheit, wiederzuerwecken.« (MEW 1, 338) Und es habe sich gerade Marx an diesem ›Geheimnis‹ versucht, als er vermutete: »Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht, bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht.« (MEW 18, S. 570) Also: nicht Geld, sondern Arbeit, Tätigkeit ist als die transzendentale (gesellschafts- also subjektbegründe) Macht zu bestimmen, die von Marx philosophisch und anthropologisch zentral gesehen wird.
Beide, Marx & Nietzsche, legen also – so sieht es Dietrich – gemeinsam einen Grund für die zeitgenössische Philosophie in das, was wir dann Philosophische Anthropologie nennen. Denn seit dem deutschen Idealismus und seit Marx sollte »ein zu Verstand gekommener Mensch« begreifen können, dass »er [sich] um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege.« (MEW 1, S. 379)
Denn Gesellschaft so hatte es schon Ferdinand Tönnies in seiner maßgeblichen Untersuchung (1887) bestimmt, »konstruiert einen Kreis von Menschen, welche, wie in Gemeinschaft, auf friedliche Art nebeneinander leben und wohnen, aber nicht wesentlich verbunden, sondern wesentlich getrennt sind [und ] getrennt bleiben trotz aller Verbundenheiten.« (Tönnies, 1991, S. 34) So könnte man gesellschaftstheoretisch wie als nationalpolitische Folgerung vermuten, dass mit Marx und Nietzsche die falsche Idealisierung des modernen souveränen Nationalstaates zu einer geistigen Gemeinschaft vermieden werden kann.
Gesellschaft ist – anders als Gemeinschaft – unmittelbar sinnlicher Anschauung und caritativer wie sekuritativer Funktion verschlossen. Ein Zusammenhang von ›mir‹ mit den ›anders anderen‹ ist nicht mehr so sehr empirisch erfahrbar, sondern abstrakt. – Dementsprechend hatte dann von den philosophischen Zeitgenossen der Zwanziger z.B. Hellmuth Plessner versucht, über Grenzen der Gemeinschaft (1924) hinauszugehen, – einer der Anlässe darüber nachzudenken war (politisch), weil Gemeinschaft zum ›Idol des Zeitalters‹ wurde, was auch Tönnies (1925) bemerkte: es sei »der Begriff Gemeinschaft neuerdings so tief ins allgemeine Bewusstsein eingedrungen und so sehr der Mittelpunkt lebhafter Gefühle geworden.« (Tönnies, 1991, S. XLIII) – Und nationalsozialistische Volksgemeinschaften und sozialistische Menschengemeinschaften bestimmten ja dann auch ein halbes Jahrhundert die europäischen Geschicke …
In Dietrichs Komparatistik in den ›Dioskuren‹ wird also mit ›Gemeinschaft‹ ein gemeinsames analytisches Problem bei Marx und Nietzsche namhaft gemacht, das man dann auch institutionskritisch zu vertiefen sucht. Deren Notzustände, die mit Massenverhältnissen nicht mehr zu Rand kommen, werden als »eine ewige Mitgift irdischer Einrichtungen« (Dietrich, 342) begriffen.
Jetzt wird bemerkt, dass mit der Entgrenzung von ›Gemeinschaften‹ nicht einfach folgerichtig ein Schritt in Richtung ›Gesellschaft‹ gemacht wird, sondern im sinnlich Erfahrbaren tritt alltäglich etwas Neues in Erscheinung: ›Masse‹. Sie wird als zentrales »Gestaltproblem […] der Politik als universaler Wissenschaft von den Verantwortungsformen des öffentlichen Gemeinlebens« (Dietrich 342) begriffen. Aber. sie habe »ihr eigenes Dunkel.« (Dietrich 345) und sei natürlich auch »leidendes Volk« (Dietrich 345).
Diesen Problemkern aber würde die zeitgenössische akademische Philosophie auch deshalb verfehlen, weil ihr der »Weltberuf der Philosophie« (Dietrich, 352) fremd wäre. Deshalb bleiben in der Philosophie der Zeit häufig genug nur nihilistische Befunde und Untergangs-, sowie Unbegreifbarkeitssymptome in Erinnerung. Die entsprechenden neuen Ressourcen in der deutschen Philosophie für die Gegenwart wären dagegen eben a) der »cäsarisch-heroische Karl Marx« und b) der »musisch-prophetische Friedrich Nietzsche.« (Dietrich 358)
Bei beiden sieht unser Autor der Dioskuren »ein Verflochtensein in überdeutsche Bedeutungszusammenhänge.« (Dietrich 359) Marx‘ Glauben an die Menschheit sei ebenso wie Nietzsche ›gutes Europäertum‹ eine spezifische Art »überdeutschen Deutschtums.« (Dietrich 359) Das »gemeinsame Geheimnis« beider, obwohl »von verschiedenen Sternen stammend und auf verschiedene zurückkehrend« (Dietrich 359), sei ihre je verschiedene philosophische Gemeinsamkeit: sie konstruieren beide »Mythologien ohne Mythos, Philosopheme ohne Philosophie« und »ohne Axiologie« (Dietrich 360).
Als ein kulturmorphologisches Resultat kann hier zunächst festgehalten werden: »Weil aber nun Karl Marx und Friedrich Nietzsche, mögen sie in allem Peripherischen uns nicht selten fremd, feindlich und sogar abgeschmackt erscheinen […], so verfolgen sie uns mit Recht bis in die tiefsten Schlupfwinkel unseres durch und durch epigonenhaften Denkens.« (Dietrich, 367) In gewissem Sinne darf man den zu der so bestimmten Verkehrsform Gesellschaftpassenden Menschen einen … [horribile dictu] Über-Menschen nennen … Denn dies ist das Gegenteil eines Begriffs vom Menschen, der sich zwischen dem Ende des Deutschen Idealismus und Nietzsches Kulturkritik herauszubilden begann, nämlich »der institutionell schlechthin gefügige und lenkbare, ›aus dem man alles machen kann‹: schon seit Saint-Simon und Comte das geheime Wunschbild europäischer Soziologen.« (de Boer, 1961, S. 155)
Aber: Dieser Neue Mensch wird damit, und das ist der Preis, wenn er mit der Asymmetrie und Unbegrenztheit und Unbestimmtheit der Gesellschaft kompatibel sein will, paradox und unverfügbar bleiben – wie eben die Gesellschaft selber! »Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.« (MEW 1, S. 378)
Dietrich wollte wohl mit seiner (zugegeben singulären) symbiotischen Sicht auf Marx und Nietzsche versuchen, der Abwertung des Menschen im Massen-, Industrie- und Kriegsmodus der Moderne entgegenzutreten. Dazu muss er die lähmenden politischen (Links/Rechts-)Kontexte, in denen beide Denker instrumentalisiert wurden, zu marginalisieren versuchen. Und gerade das sollte gelingen durch eine Methode, die Albert Dietrich noch aus Ecce homo bekannt war: nämlich »Dinge, die noch nie einander ins Gesicht gesehen hatten, plötzlich gegenübersgestellt, aus einander beleuchtet und begriffen zu haben« (KSA 6, S. 310), und das hieße, wie Dietrich (S. 380) schreibt: »Marx der unerschütterliche Weltankläger« und »Nietzsche – ein namenlos leidender, am Ende zerbrochener Selbstankläger, ein Märtyrer der geistigen Menschheit« müssten dem Menschen seine eigentliche Passionsnatur begreiflich werden lassen.
Literatur:
(Der ›Juni-Club‹ war aus Protest gegen den gerade abgeschlossenen Versailler Vertrag (vom Juni 1919) gegründet; er war eine der frühen ›rechtsintellektuellen‹ Vereinigungen (seit 1920 in der Motzstr. 22), Mitarbeiter waren auch August Winnig (1878-1956) und Wilhelm Stapel (1882-1954)
DIETRICH, ALBERT (1890 Berlin – 1958 Tübingen), Diss. 1916 Berlin (›Kants Begriff des Ganzen und Leibniz‹), 1919 Mitbegründer des jungkonservativen ›Juni-Club‹, neben Arthur Moeller van den Bruck (1976-1925), Heinrich v. Gleichen-Rußwurm (1882-1959), Walter Schotte (1886-1958) und Hans Roeseler. – Albert Dietrich war 1924-1928 Oberassistent am Philos. Seminar Berlin, 1930 Prof. f. Philosophie Cottbus und 1941-1944 Hirschberg.
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