Geschrieben von Felicitas Söhner/Dominic Anders
Gleichberechtigte Teilhabe gilt als wesentlicher Grundpfeiler der demokratischen sozialen Ordnung. Ein historisch entscheidendes Dokument, das deren Bedeutung unterstrich, ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Mit ihr postulierte die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 in beeindruckender Breite universelle soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Rechte von Menschen beginnend mit Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
›Gleichheit‹ gilt als eines der grundlegendsten Konzepte, das die Frage von Besitz, Macht und damit Einfluss stellt (Hausstein 2017). Ungeachtet dessen polarisiert der Diskurs um Gleichheit die Debatten verschiedener gesellschaftlicher Systeme (Cölle 2007). Vor allem wissenschaftliche Disziplinen, die sich mit Individuum und Gesellschaft beschäftigen, befassen sich in einer kaum überschaubaren Anzahl an Arbeiten mit dieser Frage. Unsere Überlegungen beschränken sich auf einen essayistischen Blick aus einer Auswahl verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven.
In der Beschäftigung mit der Thematik ist zu unterscheiden zwischen den Kategorien der ›absoluten Gleichheit‹ als Ideal und den Konzepten der ›Gleichbehandlung‹, der ›Gleichberechtigung‹ bzw. der ›Chancengleichheit‹. Während ›Gleichbehandlung‹ gemäß dem aristotelischen Prinzip ›Gleiches ist gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln‹ bedeutet, Personen derselben Sozialkategorie gegenüber keine Unterschiede zu machen, bezieht sich ‚Gleichberechtigung‘ als Standard auf die Gleichheit der rechtlichen Bedingungen aller Individuen. [»... denn alle sind einig darin, daß es eine Zuteilung von Sachen und an Personen in sich schließe und für Gleiche ein gleiches sein müsse; allein man darf auch nicht darüber im unklaren bleiben, worin denn die Gleichheit und worin die Ungleichheit der Personen zu bestehen habe, denn darin liegt gerade die Streitfrage« (Aristoteles 1994:20)]
So blickt dieses Prinzip auf die Verfahren und weniger auf die Resultate, kann also auch bedeuten, dass bislang unterprivilegierte Gruppen auf das Niveau anderer Gruppen angehoben werden. (Lautmann 1990:35) Das Prinzip ›Chancengleichheit‹ hingegen verlangt, dass allen Personen dieselben Gelegenheiten eingeräumt werden, ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechend ihre Ziele zu verfolgen. Auch hier interessieren weniger die Resultate, als vielmehr die Nivellierung von Hindernissen. (Lautmann 1990:37)
Ideengeschichtlicher Blick
Die Idee von Freiheit und Gleichheit gehört zu den zentralen Idealen demokratischer Gesellschaftsordnungen. Das Programm der Aufklärung, das sich auf humanistisches Gedankengut bezog, forderte die Gleichheit aller Bürger. Die Interpretation von Gleichheit unabhängig vom Geschlecht findet frühe Formulierung in der Streitschrift der Philosophin Marie Le Jars de Gournay (1622 – Gournay 2007) und im Manifest zu juristischen Gleichstellung der Geschlechter der Publizistin Olympe de Gouges (1791 – Gouges 1995/1791). Der Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier propagierte die Durchsetzung der Gleichbehandlung der Geschlechter als gesellschaftliche Aufgabe (1817 – Fourier 1977/1817). Während die Theoretiker im 19. Jahrhundert insbesondere die biologischen Differenzen reflektierten, standen im 20. Jahrhundert vor allem Fragen sozialisationsbedingten und strukturellen Ursprungs im Fokus der Diskussion. (Ritzi 2012:70) Vor diesem Hintergrund postulierte die Philosophin Simone de Beauvoir (1949), dass zwischen den Geschlechtern nach wie vor keine wirkliche Gleichheit bestehe. (Beauvoir 1949:185) De Beauvoir stellte die Geschlechterrollen – also die emotionale, intellektuelle und ökonomische Arbeitsteilung der Geschlechter – in Frage. (Raedel 2017) Sie konstatierte, dass rechtliche Gleichheit nur dann zu Gleichberechtigung führen werde, wenn sich auch Rollenverständnisse, Sozialisationsprozesse und Anerkennungsmechanismen einer Gesellschaft änderten. Darauf aufbauend propagierte die Philosophin Martha Nussbaum Gerechtigkeit, Menschenwürde und Gleichheit aller Menschen als universelle Werte. Es ging ihr insbesondere um Respekt gegenüber dem Individuum unabhängig von dessen Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer oder sozialer Zugehörigkeit. (Nussbaum 1999) Gemeinsam mit dem Philosoph Amartya Sen baute sie ihre Gerechtigkeitstheorie auf dem Fundament prinzipieller Gleichheit auf. Diese könne sowohl metaphysisch, beispielsweise in der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, als auch empirisch bzw. naturwissenschaftlich fundiert sein. Nach Sen und Nussbaum gehört zu einem gelingenden Leben neben einer ausreichenden Ausstattung mit Grundgütern unabdingbar die Freiheit der Lebensgestaltung und Gerechtigkeit. (Sen/Nussbaum 2009)
Mit der sich im ausgehenden 20. Jahrhundert etablierenden soziologischen Perspektive auf Gesellschaft, Individuum und Geschlechtlichkeit lockerte sich das Diktat, soziale Ordnung vor allem an die Biologie zu attribuieren. Die Soziologin Helen Lopata beschrieb, dass in der postmodernen Gesellschaft weniger die Rollen von Frauen und Männern wirkten, als vielmehr alles durchdringende geschlechtliche Identitäten, die beinahe sämtliche sozialen Rollen beeinflussten. Nach Lopata bringt jedes Individuum sein ›Paket‹ an Identität in soziale Bezüge mit ein (Lopata 1976: 172), geschnürt aus feststehenden Merkmalen wie Alter, Ethnie und biologischem Geschlecht, die in der Regel weit einflussreicher und tiefreichender sind als wandlungsfähige Merkmale wie Beruf oder Freundeskreis. Hier seien die Definition und die Interpretation von Begrifflichkeiten besonders heikel. Vor allem bei Fragen geschlechtlicher Rollenbilder sei äußerste Vorsicht geboten. Denn viele der Merkmale, die einst als ›typisch männlich‹ oder ›typisch weiblich‹ galten und auf biologische Grundlagen zurückgeführt wurden, erweisen sich als gesellschaftliche, kulturelle oder soziale Konstrukte. Demzufolge sind allein über das biologische Merkmal Frau/Mann kaum treffende Aussagen zum Verhalten einer Person zu erstellen. Doch auf beinahe allgegenwärtige Weise bedingt das biologische Geschlecht für das Individuum soziale Konsequenzen – dies wird insbesondere an den gesellschaftlichen Mechanismen deutlich, die Transsexuelle auf ihrem Weg erfahren. (Prüll 2016)
Lebenswissenschaftlicher Blick
Das Postulat der Gleichheit aller Menschen vor der Tatsache, dass nicht alle Menschen gleich sind, bietet immenses Konfliktpotential. Schon allein der Blick auf das biologische Geschlecht verbindet abstrakte Gleichheit – als Mensch – mit konkreter Ungleichheit.
So muss vom rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus eingeräumt werden, dass in der Tat messbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen. Diese betreffen sowohl die Anatomie, als auch die Psyche. Daher ist es nun, um wahrer Gerechtigkeit (sofern diese Utopie überhaupt eindeutig zu definieren ist) Genüge zu tun, besonders geboten den abstrakten Begriff der Gleichheit so anzuwenden, dass die Gleichberechtigung in Harmonie mit der faktischen Vielfalt, also Ungleichheit, der Menschen steht.
Es ist äußerst kritisch zu sehen, wenn aus naturwissenschaftlichen Erkenntnissen moralische Verhaltensregeln oder dogmatische Rollenbilder abgeleitet werden. Daten, die in den Lebenswissenschaften generiert werden, generieren sich zumeist aus statistischen Verteilungen, was bedeutet, dass Kategorien wie ›männlich – weiblich‹, ›lebend – tot‹ oder ›europäisch – asiatisch‹ meistens drastische Vereinfachungen darstellen. Dies sind zwar Vereinfachungen, die aus datentechnischen Gründen sinnvoll erscheinen können, jedoch stets als solche betrachtet werden müssen. Während diese Typisierungen in vielen Fällen akzeptiert und angewandt werden können, zeigt sich ihre Problematik wann immer eine Einteilung nicht eindeutig gemacht werden kann. Beispielsweise existieren mit Transsexualität, Hermaphroditismus oder Homosexualität geschlechtliche Ausprägungen, die den kritisch Denkenden veranlassen sollten, kategorisches Denken und darauf aufbauende Sozialstrukturen grundsätzlich zu hinterfragen. Für eine treffende Charakterisierung muss das sozialpsychologische Geschlecht berücksichtigt werden, also die Identität, die eine Person geschlechtlich selbst bestimmt hat. Dies bedeutet, dass geschlechtliche Rollenbilder weiterentwickelt und für Alternativen offen gedacht werden müssen. (Lautmann: 1990:266) Das Prinzip des offenen Denkens ist nicht nur in den angeführten Beispielen wichtig, sondern muss universell gelten, auch wenn Gruppenzugehörigkeiten oder -zuschreibungen nicht den gesellschaftlichen Mehrheitsnormen entsprechen. Vor diesem Hintergrund benötigt es Konzepte der Chancengleichheit außerhalb von Geschlechterrollen für Menschen mit atypischen Lebensläufen, die nicht in die bipolare Geschlechterschablone passen. (Steinbach 2012:265)
Sozialwissenschaftlicher Blick
Darüber hinaus stellt sich die Frage ob durch eine reine Gleichbehandlung dem Anspruch von Gleichheit Rechnung getragen werden kann. Nach der Geschlechterwissenschaftlerin Anne Philips, bedeutet ›Gleichheit‹ in einigen Fällen unterschiedliche Behandlung und unter anderen Umständen bedeutet dies, Menschen gleich zu behandeln. Nach Philips existiert keine logische oder politische Verpflichtung für nur eine beider Optionen zu votieren. (»And yet the solution to this dilemma seems simple enough. In some circumstances equality means differential treatment; in other circumstances it means treating people the same – there is no logical or political requirement to stand by just one of these two options.« – Philips 1995:37) So liegt das Desiderat der Forschung vielmehr darin, zu untersuchen, an welchen Punkten Grenzen zu ziehen sind. In der Realität bedeutet dies einen immerwährenden fortlaufenden Prozess, da wie zuvor dargestellt wurde, absolut eindeutige Grenzen in der Natur kaum oder zumindest kaum ohne Ausnahmen existieren. So stellt jeder Mensch eine ganz eigene Mischung aus vielen Einzelmerkmalen dar, denen verallgemeinernde Regelungen, wie Gesetzestexte nie in allen Fällen gerecht werden können.
Die Politikwissenschaftlerin Claudia Ritzi unterscheidet demokratietheoretisch zwischen ›Gleichheit durch gleiche Teilhabe‹ und ›Gleichheit durch Ungleichbehandlung‹. (Ritzi 2012: 75) Gleichheit durch gleiche Teilhabe, die also durch Quotierung eine gleichmäßige Repräsentanz verschiedener Gruppen in Institutionen vorsieht, basiere nach Ritzi auf der These, dass eine nicht ausreichende Artikulation und Umsetzung unterschiedlicher Lebensperspektiven ein wesentliches Gerechtigkeitsproblem westlicher Demokratien darstelle. (Ritzi 2012:75f.) Ob ausschließlich durch die Präsenz gesellschaftlicher Vertreter die Interessen diskriminierter Gruppen besser vertreten werden, ist umstritten. Der Ansatz einer Gleichheit durch Ungleichbehandlung fordert statt Sonderrechten für weniger einflussreiche Gruppen vielmehr eine faire Repräsentation bestimmter Bevölkerungsgruppen im politischen Raum. Als Ziel formulierte Ritzi eine erhöhte Sensibilität der Wahrnehmung verschiedener Identitäten und damit Interessen bei Entscheidungsträgern. (Ritzi 2012:79)
Ausblick
Gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe bedeutet nicht, dass Menschen keine soziale Geschlechtsidentität haben sollten, im Gegenteil – vielmehr bedeutet es, dass kategoriales Denken beispielsweise nach biologischem oder sozialem Geschlecht in außersexuellen Bereichen keine Rolle spielen sollte.
Tatsächliche Gleichberechtigung (im Sinne von individueller Gerechtigkeit) bedarf der Orientierung an humanistischen Werten und der Implementierung im gesellschaftlichen Diskurs. Gesetzestexte und Richtlinien bieten für deren Umsetzung wesentliche Grundlagen. Doch kann die Formulierung der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit gleicher Rechte in der Gesellschaft auf dem Papier allein nur als erster Schritt verstanden werden, denn eine formal festgeschriebene Gleichheit in juristischen Vorgaben und ethischen Leitlinien allein bewirkt noch keine substantielle Gleichberechtigung.
Vielmehr sollte deren Umsetzung einhergehen mit Aufklärung, Bildung, aktiver Interaktion und Selbstreflektion als implementierende Faktoren. Dazu muss das Prinzip ›gleichberechtigte Teilhabe‹ adressiert, verstanden, kritisch hinterfragt und schließlich gelebt werden. Insbesondere pädagogische Einrichtungen und die Medien können hier einen wertvollen Beitrag leisten, bestehenden und heranwachsenden Generationen die Werte, Rechte und Pflichten in einer freiheitlich und gerecht orientierten Gesellschaft zu vermitteln.
Eine zukünftige Aufgabe von Politik und Gesellschaft sollte unter anderem darin liegen, Zusammenhänge zwischen sozialer Identität, Differenz, Gleichheit und Gerechtigkeit kritisch zu betrachten sowie Regeln zu formulieren, die in allen vorstellbaren Situationen zu Ergebnissen führen, die als gut oder zumindest als akzeptabel verstanden werden können.
Die Deklaration politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte von 1948 bedeutet die politische Anerkennung der fundamentalen Unterschiedlichkeit von Menschen und der gleichzeitigen Würde von Menschen unabhängig von biologischem Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft oder religiösem Bekenntnis. Deren gesellschaftliche Anerkennung und faktische Implementierung im sozialen Miteinander ist nach wie vor eine große Aufgabe und bedeutet eine Grundfeste unserer demokratischen Gesellschaft als Ganzes.
Literatur
Aristoteles (1994) : Politik. Reinbek: Rowohlt
Beauvoir S. de (1949) : Le deuxième sexe: Les faits et les mythes. Paris
Cölle B. (2007): Die Gleichheit als Grundsatz der Politik. Informelle Universität in Gründung, Berlin
Fourier Ch. (1977/1817): Aus der Neuen Liebeswelt und Über die Freiheit in der Liebe. Berlin
Gouges O. De (1995/1791): Mensch und Bürgerin: Die Rechte der Frau. Aachen
Gournay M. de (2002): Apology for the Woman Writing and Other work. Chicago
Hausstein L. (2017): Warum Ungleichheit kaum etwas mit Leistungsgerechtigkeit zu tun hat. Nachdenkseiten 21.12.2017. http://www.nachdenkseiten.de/?p=41677
Kilian M. (2008): »Keine Freiheit ohne Gleichheit!«. Louise Michel (1830 – 1905), Anarchistin, Schriftstellerin, Ethnologin, libertäre Pädagogin. Bodenburg
Lautmann R. (1990): Die Gleichheit der Geschlechter und die Wirklichkeit des Rechts. Opladen
Lopata H. (1976): Review Sociology. In: Signs 2: 165 – 176
Molander P. (2017): Die Anatomie der Ungleichheit – Woher sie kommt und wie wir sie beherrschen können. Frankfurt
Nussbaum MC. (1999): Die feministische Kritik des Liberalismus, in: Nussbaum MC. (2002) Konstruktion der Liebe, des Begehrens und der Fürsorge – Drei philosophische Aufsätze, Stuttgart
Philips A. (1995): The Politics of Presence. Oxford
Prüll L. (2016): Trans* im Glück – Geschlechtsangleichung als Chance, Göttingen
Raedel C. (2017): Gender: Vom Gender-Mainstreaming zur Akzeptanz sexueller Vielfalt. Gießen
Ritzi C. (2012): Politische Gleichheit durch (Un-)Gleichheit? Zur feministischen Demokratietheorie. In: Lembcke O., Riitzi C., Schaal G.: Zeitgenössische Demokratietheorie. 1: Normative Demokratietheorien. Berlin
Rosenberger S. (1996): Geschlechter, Gleichheiten, Differenzen: eine Denk- und Politikbeziehung. Wien
Schönherr-Mann H-M. (2010): Simone de Beauvoir und das andere Geschlecht. München
Seeck A. (2003): Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?: Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld. Berlin
Sen A., Nussbaum M. (2009): Ist Gerechtigkeit in einer globalisierten Gesellschaft möglich? Vortrag im DGB Bildungswerk München
Steinbach K. (2012): Rückblick auf den Feminismus. Freiburg
UN (1948): Universal Declaration of Human Rights. A/RES/217, UN-Doc. 217/A-(III).