Renate Solbach: Der Bogen

Wann begann all mein Fragen? Wer bin ich, was leb ich hier
und nicht dort? Wo das Licht langer Tage Granit
von Schauern benetzt kranbeerenrot zum Glänzen bringt,
samt der Heide – die da heißt Erika. Wo der Orbit
die Zeit ins Dunkel zwingt. Es kommt dann ’ne herrliche Märzenzeit.
Da glitzert der Fjell, da gleiten dahin auf Scheiten meilenweit,

frei – in guter Verfassung – König und Volk. Hier zwingt die Zeit,
das Land, zum Fragen, zum Suchen in den Regalen; zur Re-vision
des Gewussten, Gedruckten; der Bilder, der Chiffren, der Orte und Ziffern
der Toten. Zum Forschen nach remote causes, Umständen, Zufall,
Vorlauf und Folgen des Unheils. – Was bleibt von Erinnrung an Tage,
Stunden des Glücks im Schicksal der Stadt, des Vater-Landes?

Im Leben der andern, der Freunde? – An den Kalender geheftet das Jahr,
die Daten, die Fakten, die Dinge erwägbar im Irrealis: Januar, Februar,
März, April/Mai, ein Tag im Juni, nein ’ne Vielzahl. Fliegenumschwirrt
die Julihitze im Mauerwald. Die Tage, ein Sonntag im August. Das führt
im September sagt kaum einer mehr oder doch? vom zweiten
zum ersten. – – Thesen eröffnen, verstellen den Blick auf die Zeiten,

die Lage. Gut, vor dem deutschen November kommt der rote Oktober,
der im November. Die Völker, comrades, Genossen, y compañeros,
hörten die Signale. Viele, nicht alle, überhörten die Schüsse der Tscheka.
To wit: Zum guten Gewissen von Aktivisten gehört zu wissen die Weißen
die sind nicht besser. Wer ersäufte wen, wer zog zuerst wem
den Handschuh, die Haut ab, chinesisch? Wer ahnte den Schrecken?

Erschrak beim Marsch der Kolonnen? Nachgespielt für die Massen
im Lichtspiel. – – Noch hallt nach der Jahrhundertschritt.
Verblasst ist manch Bild der frühen Jahre, hervortritt
der Palimpsest. Dahin sind die alten Phantasmen, gefallen
die alten Schranken, in bitter befriedeter Landschaft; jetzt erscheinen
die neuen Risse, faultlines, Antagonismen. Welche Kräfte,

welche Mächte war’n stets im Spiele, wer legte die Lunte?
Jetzt machen wieder mehr Frauen – Lex Salica non valet ubique –
diese Geschichte. Mephisto – nur so als Frage – gebannt durch Quoten.
– – Ich erkenne die Knoten im Geflecht von Gestern und Heute.
Ich kenne die Wege der Völker, der Klassen, der Nationen und Reiche.
Ich lehrte zu scheiden was war von Hülsen, von Phrasen;

zu sehen was ist. – Dass alles fließt, wusste der Weise, der Dunkle.
Für mich galt’s mitten im Fluß den Lauf der Dinge zu fassen.
Ich fand – und noch find’ ich – die Antwort auf viele Fragen.
Klar, geht ohne Theorie nicht, noch Parenthesen, Binde-Strich.
Und klar, der Kreislauf – in meinen Kreisen geläufig – für mich
kommt derlei Betrachtung nicht in Betracht.

Denn noch bewegt mich
die Frage des Prokurators.
Stoiker, Zyniker? Fraglich.
Jetzt, da die Zeit manchmal drängt,
im zuweilen goldnen Oktober,
komm ich der Sache schon näher.


Berlin, den 4. Oktober 2018,
für den Freund Peter Brandt zum 70. Geburtstag