Es ist schwer, eine allseits akzeptierte Definition von Demokratie zu finden. Abraham Lincoln sprach 1863 bei der Einweihung des Nationalfriedhofs von Gettysburg von »the government of the people, by the people, and for the people« (Nagler, 2009, 361 ff.). Nun ist offensichtlich, dass auch undemokratische, sogar eindeutig diktatorische Regierungen ›aus dem Volk‹ (›of‹) hervorgegangen sein können. ›For the people‹ beschreibt einen Staatszweck, der im Konsens kaum zu objektivieren ist. Letztlich bleibt unbestritten nur ›by the people‹, ein wenig konkreter: Rechtsgleichheit aller Bürger, Volkssouveränität und Mehrheitsregierung, und das ist problematisch genug. Das Wort Demokratie als Herrschaft des Volkes, des Demos, und deren historisch erste Gestalt stammen bekanntlich aus dem antiken Athen. Kleisthenes gilt als ihr Urvater. Die politische Macht wurde in mehreren Reformschüben in die Hände der Gemeinschaft aller Bürger (anstelle eines Alleinherrschers oder einer beschränkten Gruppe) gelegt, was im direkten Sinn nur im Rahmen eines überschaubaren Stadtstaates denkbar war. Als Bürger galten die waffenfähigen, stimmberechtigten Männer über dreißig, eine Minderheit, doch eine große Minderheit der erwachsenen Einwohnerschaft, zu der, außer den Frauen, ansonsten auch Sklaven, Halbfreie, Schutzverwandte, Klienten und Fremde gehörten. Trotz der demokratischen Gestaltung der Regierungsform blieb die sozial ohnehin weiter dominierende Aristokratie mit ihren Leitbildern kulturell prägend; der Kern des politisch berechtigten Staatsbürgertums bestand darüber hinaus aus Land- und Manufakturbesitzern, Schiffsunternehmern und Handwerksmeistern. Heute mit der Demokratie assoziierte Vorstellungen von universellen Menschenrechten waren den alten Griechen völlig fremd; selbst auf ein Mindestmaß ›humanen‹ Verhaltens gegenüber Feinden oder Unterworfenen war nicht zu zählen.
Als Bestandteil der klassischen Staatsformenlehre der Antike wurde der Begriff ›Demokratie‹ von der politischen Philosophie über die mehr als tausendjährige Zeit der ständisch-feudalen Gesellschaftsverhältnisse transportiert. Anknüpfungspunkte in der Realität gab es am ehesten in den städtischen Gemeinden und in den unterschiedlich stark ausgeprägten Dorfgenossenschaften bzw. dem, was aus vorfeudaler Zeit in einigen Regionen an Mitwirkungsrechten frei gebliebener Bauern übrig war. Die Isländer sehen in ihrem Althing (seit 930) das älteste Parlament der Welt. In der Typologie des Aristoteles standen drei gute drei schlechten, entarteten Staatsformen gegenüber. Wie andere bedeutende Staatsdenker der Antike sah Aristoteles die Demokratie mit gewissen Differenzierungen als eine schlechte Staatsform an, bei ihm die Entartungsform der ›Politeia‹. Allerdings ähnelt dieses Ideal in manchen Zügen dem, was sehr viel später mit der Demokratie verbunden wurde (Aristoteles 1994).
Bis ins 19., teilweise bis ins 20. Jahrhundert hielt sich die Vorstellung, dass eine gute Verfassung ›gemischt‹ sein müsse. Dabei dachte man z.B. an das antike Rom und das frühneuzeitliche England. Mit der reinen Demokratie seien Instabilität, Herrschaft der Minderwertigen bzw. Besitzlosen, und eine Neigung zur Despotie verbunden. Selbst der Theoretiker der Volkssouveränität Jean Jacques Rousseau zweifelte an der Realisierbarkeit der Demokratie in seiner Epoche und schlug für Korsika wie für Polen gemischte Verfassungen vor. Noch die Liberalen des 19. Jahrhunderts, die für gesicherte Grundrechte, Wirtschaftsfreiheit und einen gewaltenteiligen Verfassungsstaat eintraten, setzten sich in der Regel von der Demokratie ab – und das nicht nur terminologisch, wie sie an der Eingrenzung des ›eigentlichen‹ Volkes auf die Männer von Besitz und Bildung (zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte) zu erkennen gaben. In manchen Ländern, so in Schweden und in England, entwickelten sich die modernen Parlamente aus den Ständeversammlungen der Vormoderne. Das im Hoch- und Spätmittelalter rudimentäre britische Parlament verfügte erst über wenige Rechte und begrenzten Einfluss. Nachdem sich im Bürgerkrieg der 1640er Jahre das Unterhaus gegen die Königspartei durchgesetzt hatte, worauf eine Restaurationsphase folgte, wurde mit der Glorious Revolution und der Bill of Rights 1688/89 endgültig der Verfassungsstaat und mit ihm die Gewährleistung der Unabhängigkeit und Mitwirkungsrechte des Parlaments gesichert. Doch eine Demokratie war – entgegen einer verbreiteten Deutung – keineswegs entstanden.
Während der Französischen Revolution tauchte der Begriff ›Demokratie‹ und die Bezeichnung ›Demokrat‹ erstmals häufiger im positiven Sinn auf. Jetzt ging es nicht mehr allein um eine Staatsform, sondern zugleich um eine soziale Positionierung, hauptsächlich gegen den Adel, dann auch gegen die ›Geldaristokratie‹. Die radikalen Jakobiner fügten – entgegen der traditionellen Staatsformenlehre, die aristokratische von demokratischen Republiken unterschieden hatte – Demokratie und Republik begrifflich als untrennbar, wenn nicht synonym zusammen. Die Anhänger der Französischen Revolution nannten sich in vielen Ländern Europas Demokraten oder wurden so genannt – ein Grund für die Diskreditierung dieser Bezeichnung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, auch wenn etwa Hardenberg in seiner Rigaer Denkschrift von 1807 von »demokratischen Grundsätzen in einer monarchischen Regierung« sprach, die er in den Preußischen Reformen zur Geltung bringen wollte (Hardenberg 1931). Das ist ein Beispiel für den noch nicht gefestigten Begriffsinhalt.
Strikt demokratisch im Sinne einer möglichst weitgehenden Selbstregierung des Volkes einschließlich direktdemokratischer Elemente sowie der Konzentration der politischen Macht in der Volksvertretung auf der Grundlage eines allgemeinen und gleichen Stimmrechts für Männer (diese Einschränkung war noch ein ganzes Jahrhundert fast selbstverständlich) war für lange Zeit allein die jakobinische Verfassung von 1793. Doch diese blieb auf dem Papier stehen zugunsten der durch äußere und innere Bedrohung der Revolution begründete, jedenfalls damit gerechtfertigte, blutige Diktatur des Wohlfahrtsausschusses.
Unterschiedlich restriktive Stimmrechtsbeschränkungen (neben einer noch gewichtigen Ersten Kammer des Parlaments und der ausschließlichen oder beträchtlichen exekutiven Entscheidungsmacht der Monarchen) kennzeichneten den europäischen Konstitutionalismus im größten Teil des 19. Jahrhunderts. Auf allen diesen drei Ebenen setzten die Forderungen der Demokraten an. Das allgemeine, gleiche Wahlrecht, befeuert und vorangebracht durch die Revolutionen von 1848/49, und die Parlamentarisierung der Regierungsweise (oder in umgekehrter Reihenfolge) wurden mehr und mehr zu einem zusammenhängenden Programm, das als Ganzes aber erst in den Jahrzehnten um 1900, mit einem vorläufig letzten Schub am Ende des Ersten Weltkriegs, verwirklicht wurde. Seit 1867 bzw. 1871 hatte Deutschland, zumindest auf Reichsebene, ein demokratisches Männerwahlrecht, während die parlamentarische Regierung erst Jahrzehnte später als Ergebnis der Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg und der Novemberrevolution durchgesetzt wurde.
Mit einer Vielzahl von damals ausgesprochen progressiven Elementen wie Volkssouveränität, allgemeinem Männerwahlrecht, Grundrechtekatalog, suspensivem (statt absolutem) monarchischem Veto, parlamentarischer Mitwirkung und Kontrolle in der Außen- und Militärpolitik sowie parlamentarischer Ministeranklage und unabhängiger Verfassungsgerichtsbarkeit zählte die von der Frankfurter Nationalversammlung am 28. März 1849 angenommene erste deutsche Gesamtverfassung zu den fortschrittlichsten ihrer Zeit. In mittelfristiger Perspektive war von ihr entweder ein massiver Verfassungskonflikt zwischen Krone und Volksvertretung oder aber der Durchbruch der parlamentarischen Demokratie mit monarchischer Spitze zu erwarten. Doch fehlten dem Paulskirchenparlament die notwendigen Machtressourcen, um den unwilligen Preußenkönig in das ihm zugedachte Amt des ›Kaisers der Deutschen‹ hineinzuzwingen und damit den Verfassungstyp des parlamentarischen Konstitutionalismus zum Fundament eines deutschen Nationalstaats werden zu lassen. In Großbritannien vollzog sich in den 1830er und 40er Jahren gewohnheitsrechtlich der Übergang zum Parlamentarismus, doch erfolgte die Demokratisierung des Wahlrechts, ausgehend von einer quantitativ recht bescheidenen Ausweitung 1832, nur schrittweise in mehreren Reformschüben. Auch nach der Reform von 1867 verfügte erst eine Minderheit der erwachsenen Männer über das Stimmrecht. Die Fiktion, dass monarchisches, aristokratisches (das House of Lords) und demokratisches Verfassungselement sich wechselseitig harmonisch ergänzten, ließ sich spätestens mit der proletarisch-plebejischen Wahlrechtsbewegung der Chartisten in den 1830er und 1840er Jahren auch für England nicht mehr halten.
In den USA, wo die Unionsgründung durch Verfassungsgebung 1787/89 mit einem starken Präsidentenamt und anderen Spezifika von den Founding Fathers auch als Gegengewichte gegen Ansprüche der Volksmassen gedacht waren, gelten die Jahre der Präsidentschaft Andrew Jackson (1829-1837) als erste Durchbruchsphase der Demokratie, wobei in den Einzelstaaten die Demokratisierung des Wahlrechts (allgemein und gleich für weiße Männer), dann auch der Wahlpraxis, schon vorher eingesetzt hatte. Mehr und mehr kam auch die Volkswahl von Beamten und Richtern in Gebrauch. Charakteristisch für die Ausformung der Demokratie in den USA war zudem die frühzeitige Herausbildung von (wenn auch heterogenen) Parteien, von denen die eine sich explizit als ›Demokraten‹ bezeichnete. Das abschreckende Bild, das der Liberal-Konservative Alexis de Tocqueville in seiner tiefgründigen Analyse Mitte des 19. Jahrhunderts von den Zuständen in den USA malte – Mehrheitstyrannei, Abbau der Gewaltenteilung, Nivellierung der Bildung und Ausbreitung von Mittelmäßigkeit (Tocqueville 1984) – beruhte großenteils darauf, dass er alle vermeintlich negativen Entwicklungstendenzen der modernen, sich industrialisierenden, markt-kapitalistischen Gesellschaft einseitig auf den politischen Faktor der Demokratisierung zurückführte.
Seit der Französischen Revolution hatte ›Demokratie‹ einen auch sozial egalitären Beiklang. Wie vom Liberalismus zur Demokratie so war auch die Grenze der bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Demokratie zum Frühsozialismus und -Kommunismus fließend, und dass sich später die marxistisch ausgerichtete bzw. sich so verstehende politische Arbeiterbewegung (in etlichen Ländern Europas) ›sozialdemokratisch‹ nannte, nahm, wie auch große Teile der Programmatik, auf die ältere demokratische Tradition Bezug. Am Ende des 19. Jahrhunderts bildeten die sozialistischen Arbeiterparteien überall in Europa die Hauptkraft im Wahlrechtskampf, teilweise unter Zuhilfenahme des Mittels des Massen- bzw. Generalstreiks, so etwa wiederholt in Belgien. – Die verschiedenen Varianten des Anarchismus lehnten jede staatliche Herrschaft, auch als Übergang in eine herrschaftsfreie Ordnung ab. Demokratie durch Mehrheitsentscheid enthielt für sie keine Legitimität, wurde teilweise sogar als besonders gefährliche Verschleierung von politischer und sozialer Unterdrückung des Volkes durch die Oberen und Reichen angesehen.
Für Marx und Engels als theoretische Autoritäten lassen sich mindestens drei Perioden ihrer Auffassung von Demokratie und des entsprechenden Wortgebrauchs unterscheiden: Vom Linkshegelianismus kommend, verstanden sie sich (und mit ihr die sozialistische Strömung) bis zur Niederlage der Revolution von 1848/49 als linker, vorwärtstreibender Flügel der »Millionenbewegung der europäischen Demokratie« (Rosenberg 1962, 60). Die Neue Rheinische Zeitung hieß im Untertitel Organ der Demokratie, und das war keine Camouflage. Die bürgerlich-demokratische Revolution sollte bis an ihre äußerste Grenze vorangetrieben werden, wobei deren Ablauf und der Übergang zur letztlich angezielten proletarischen Revolution von 1789 gedacht wurde. Auffällig ist die fehlende Reflexion der Frage sozialer Organisation der Demokratie. In einer zweiten Phase, die vom vermeintlichen Versagen der Bourgeoisie wie auch des Kleinbürgertums (das jetzt als Trägerschicht der Demokratie schlechthin erscheint) wird die demokratische Republik lediglich als die letzte Staatsform der bürgerlichen Gesellschaft verstanden, auf deren Boden der Klassenkampf auszufechten ist. Die Absetzung von der ›kleinbürgerlichen‹ Demokratie dominiert. Das Kleinbürgertum, »eine Übergangsklasse, worin die Interessen zweier Klassen sich zugleich abstumpfen, dünkt sich über den Klassengegensatz überhaupt erhaben« (MEW 8, 144). Die Demokratie wird stets im Hinblick auf ihren Klassencharakter analysiert und bewertet, so 1871, als die Pariser Commune mit der Wählbarkeit und Abwählbarkeit aller Amtsträger, die einem imperativen Mandat unterliegen und der Aufhebung der Trennung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt das vermeintliche Modell des proletarischen Staatswesens kreiert (MEW 17, 339 f.) Seit den 1880er Jahren entdecken Marx und vor allem der mehr als ein Jahrzehnt länger lebende Engels am deutschen Beispiel den Nutzen des allgemeinen Wahlrechts für die sozialistischen Parteien. Die Formel der ›Diktatur des Proletariats‹ ist nicht in einem instrumentellen oder staatsrechtlich-normativen Sinne, sondern soziologisch-analytisch gemeint (wie die soziale Herrschaft der Bourgeoise selbst in parlamentarisch-demokratischen Formen ihrerseits als ›Diktatur‹ verstanden wird). Insofern ist es nicht paradox, auch wenn es sich so anhört, dass dem späten Engels zufolge die demokratische Republik zugleich die »spezifische Form für die Diktatur des Proletariats« (MEW 22, 235) sein wird. Die unabdingbare Notwendigkeit der Selbstbestimmung der arbeitenden Massen und der demokratischen Organisation der Gesellschaft gerade im Übergang zum Sozialismus postuliert dann insbesondere auch Rosa Luxemburg, schon früh auch in Auseinandersetzung mit Lenin. In dem von ihr verfassten Gründungsprogramm der KPD heißt es, diese werde »nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Massen in Deutschland.«
Für Lenin ist Demokratie fast ausschließlich die inhaltliche Frage der vermeintlichen Interessen des Proletariats und der verbündeten Bauernschaft, nicht die Frage der Institutionen. Ohne die später üblichen Verschleierungsfloskeln benennt Lenin die diktatorische Seite des bolschewistischen angestrebten Regimes als »unbeschränkte, außergesetzliche, sich auf Gewalt im direkten Sinne des Wortes stützende Macht« (LW 10, 241). In seiner Schrift Staat und Revolution entwirft Lenin am Vorabend des Oktoberumsturzes andererseits das Modell einer sozialistischen Rätedemokratie mit »gewaltiger Erweiterung des Demokratismus« für die Volksmassen, »Freiheitsbeschränkungen für die Kapitalisten« (LW 25, 475). Von der Sowjetdemokratie, wie deren Organe sich in Gestalt der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte (wie schon 1905) nach der ›Februarrevolution‹ 1917 spontan herausgebildet hatten, blieb nach der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki schon bald zugunsten der Parteidiktatur wenig übrig – teils aus äußeren, teils aus inneren Gründen; jene verstand sich aber mit hauptsächlich inhaltlicher Begründung weiterhin, auch in der massenmörderischen Stalin-Periode, als höhere Form der Demokratie. Und das galt ebenso für die definitorisch zunächst unterhalb der ›sowjetdemokratischen‹ ›Diktatur des Proletariats‹ angesiedelten, programmatischen Varianten ›antifaschistischer‹, ›Neuer‹ (so in China) oder ›Volksdemokratien‹.
Erst mit dem Eurokommunismus der 1970er Jahre kam der Standpunkt der klassischen Arbeiterbewegung wieder zur Geltung, dass hinter die bürgerliche Demokratie nicht zurückgegangen werden dürfe, diese vielmehr durch basisdemokratische Formen und Dimensionen zu erweitern sei. Ähnlich hatte sich im Jahr 1968 schon die Kommunistische Partei der Tschechoslowaken positioniert: »Sozialismus ohne Demokratie ist kein Sozialismus« (Aktionsprogramm 1968). Das bedeutete faktisch eine Annäherung an sozialdemokratische Staatsrechtler der Zwischenkriegszeit wie Hermann Heller. Für Heller beinhaltete soziale Demokratie »die Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung« (Heller 1929, 451). Von Demokratie als Volksherrschaft könne im eigentlichen Sinn nur gesprochen werden, wenn die Repräsentanten genossenschaftlich bestellt würden und eine magistratische, nicht souveräne Stellung einnähmen. Eine spezifische Variante marxistischen Verständnisses von Demokratie war das Theorem der österreichischen Sozialdemokratie in der Ersten Republik, ein relatives »Klassengleichgewicht« ermögliche qua Teilung der Staatsmacht »mehr oder minder lange Zeiträume« ohne schwere soziale Konvulsionen, vielmehr bestimmt von friedlichem Fortschritt (Bauer 1924; Adler 1926). Diese Idee bot sämtlichen Strömungen des breit gefächerten Austromarxismus eine Begründung für ihre praktische Politik.
Schon um 1900 verstand die west- und mitteleuropäische Sozialdemokratie die angestrebte soziale Revolution nicht mehr als bewaffneten Aufstand, sondern als einen Vorgang, der über den Stimmzettel und eventuell mit Mitteln der friedlichen Verweigerung, von der Lahmlegung des Wirtschaftslebens bis zum Militärstreik, in Gang zu setzen wäre, jedenfalls als Aktion der Mehrheit des werktätigen Volkes. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich dann mehr und mehr ein gradualistisches Konzept des vom parlamentarisch-demokratischen Staat gesteuerten Weges zum Sozialismus an sich durch. Für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens machte Nils Karleby 1926 klar, dass es sich beim kapitalistischen Eigentum nicht um einen monolithischen Block, sondern um ein komplexes Geflecht von einzelnen Rechten und faktischen Machtverhältnissen handele. Es sei ein realistisches Ziel, die private Verfügung zugunsten gesellschaftlicher Kontrolle sukzessive zurückzudrängen. Die dem Bestehenden abgetrotzten Verbesserungen der materiellen Lage der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung und der politischen Partizipation, soziale Reformen somit, bereiteten die neue Gesellschaft nicht nur vor, sondern sie seien bereits in ihrer Substanz Elemente davon, indem sie die »Grenzen des Kapitalismus« überschritten (Karleby 1926, insb. 85). Weg und Ziel der Sozialdemokratie waren hier im Sinn des ›Revisionismus‹ Eduard Bernsteins bereits im Wesentlichen identisch.
In diese Richtung dachten in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre auch die konzeptionellen Köpfe der SPD und des ADGB: Fritz Naphtali wollte, wie in der Weimarer Verfassung vorgesehen, betriebliche und überbetriebliche Institutionen einer »Wirtschaftsdemokratie« installieren, die den Arbeitnehmern und ihren gewerkschaftlichen Vertretungen einen gleichrangigen Einfluss in der ökonomischen Sphäre verschaffen würden (Naphtali 1928). Und Ernst Fraenkel sah in der »kollektiven Demokratie« der außerparlamentarischen gesellschaftlichen Organisationen eine weiterführende Methode (Fraenkel 1929). Für Rudolf Hilferding war in der Entwicklung zum »organisierten Kapitalismus« in der Verbindung mit der demokratischen Staatsform und der Stärke der Arbeiterbewegung der Übergang zum Sozialismus vorgezeichnet. Begünstigt durch die Hegemonie der anglo-amerikanischen Kapitalismus-Variante nach dem Ersten Weltkrieg, sahen Hilferding und andere SPD-Spitzenleute auch auf internationaler Ebene gute Chancen, mit friedlicher Verständigung und Abrüstung das demokratische Prinzip durchzusetzen, etwa durch Schaffug eines Völkerbundparlaments (Hilferding 1924). Die politische Demokratie sei keine kapitalistische Erfindung und kein Machtmittel des Kapitals, sondern eine Errungenschaft des Kampfes der Arbeiterbewegung (Hilferding 1927). In diesem Sinne stellte Kurt Schumacher in seiner ersten halböffentlichen Rede vor Hannoveraner Parteigenossen am 6. Mai 1945 mit Nachdruck fest, »daß es von vornherein keine bloß ›formale‹ oder ›kapitalistische‹ oder ›proletarische‹ oder mit einem sonstigen Beiwort geschmückte Demokratie gibt... Es gibt nur eine Demokratie schlechthin und das, was die Einsicht und die Kraft einer Klasse aus ihr machen!« (Schumacher 1985, 213).
Dabei waren die deutschen Sozialdemokraten (wie die anderer Länder) in den ersten Nachkriegsjahren überzeugt, dass der Wiederaufbau Europas, namentlich Deutschlands, in sozial erträglichen Formen nur sozialistisch, konkret: planwirtschaftlich bei Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien, durchführbar sein würde. Namentlich im deutschen Fall sei die konsequente Ausschaltung des Großkapitals nach den Erfahrungen der Weimarer Republik auch aus politischen Gründen unabdingbar. »Die deutsche Demokratie muß sozialistisch sein, oder die gegenrevolutionären Kräfte werden sie wieder zerstören.« (Forderungen 1947, 5) Wolfgang Abendroth zufolge handelt es sich beim Recht, insbesondere beim Verfassungsrecht, (West-)Deutschlands um eine eine die prinzipielle Gleichberechtigung aller, auch in der Wirtschaft, postulierende Friedensordnung, die den Klassenkampf nicht aufhebt, aber reguliert und zivilisiert. Wie Heller im Hinblick auf die Weimarer Reichsverfassung hob Abendroth auf den sozialökonomisch offenen Charakter des Bonner Grundgesetztes ab (Abendroth 1967, 1975).
Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919, erarbeitet und von der Nationalversammlung behandelt, während im Innern schwere Unruhen andauerten und parallel zur Verfassungsgebung die Entscheidung über einen allgemein als unzumutbar empfundenen Friedensvertrag anstand, verwandelte, nach dem kurzen Zwischenspiel der parlamentarisierten Hohenzollernmonarchie des Oktober 1918, Deutschland in eine parlamentarisch-demokratische Republik. Neben der Ausweitung des – jetzt proportionalen – allgemeinen, gleichen Reichstagswahlrechts auf Frauen und dessen Übertragung auf die Länder (wodurch auch das preußische Dreiklassenwahlrecht mit seiner Blockadewirkung fiel) sowie Gemeinden stand im Zentrum die veränderte Stellung des Reichskanzlers und der Minister, die vom Vertrauen des Parlaments abhängig wurden. Die Vertretung der Länder existierte als Reichsrat weiter, dessen ablehnendes Votum im Gesetzgebungsprozess jedoch von der Volksvertretung mit Zweidrittelmehrheit unwirksam gemacht werden konnte. Gegenüber dem Kaiserreich war die Weimarer Republik unitarischer konstruiert. Während die Möglichkeit direkter Gesetzgebung des Souveräns durch Volksbegehren und Volksentscheid in der Praxis keine große Rolle spielte, erhielt der Reichspräsident mit dem Notverordnungsrecht (trotz Gegenzeichnungspflicht des Kanzlers und des Rechts des Reichstags, jederzeit die Aufhebung der betreffenden Verordnung zu verlangen) ein Instrument, das angesichts eines nicht oder nur bedingt zur Mehrheitsbildung fähigen Parlaments präsidialdiktatorische Züge annehmen konnte, wie es ab 1930 geschah. Der umfangreiche Grundrechtekatalog der Weimarer Verfassung hatte programmatischen Charakter; er enthielt neben den klassischen Freiheitsrechten gesellschaftspolitische Ziele unterschiedlicher Herkunft mit sozialer bzw. Gemeinwohl orientierter Tendenz, darunter Restelemente rätedemokratischer Vorstellungen.
Das unter Vorgaben der Besatzungsmächte und beeinflusst von den Ministerpräsidenten der Länder von dem aus den Länderparlamenten gebildeten Parlamentarischen Rat beschlossene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 fungierte trotz seines provisorischen Charakters von Anfang an de facto als Vollverfassung, wobei es lediglich auf Länderebene ratifiziert wurde, zweifellos ein demokratisches Defizit. Da die staatliche Vereinigung Deutschlands zum 3. Oktober 1990 auf dem Weg des Beitritts der wieder geschaffenen ostdeutschen Länder vollzogen wurde, blieb das Grundgesetz als Verfassung der gesamtdeutsch erweiterten Bundesrepublik mit einigen unwesentlichen Änderungen erhalten. Hervorgehoben wurden 1949 die Grundrechte, die, anders als in der Weimarer Verfassung, unmittelbare Gesetzeskraft erlangten, und ein unveränderlicher Verfassungskern. Neben den Bundestag trat – in deutscher Tradition – als Vertretung der Länderregierungen der Bundesrat. Beim Zustandekommen von Gesetzen ist die Zustimmung beider Kammern erforderlich, sofern nicht die alleinige Zuständigkeit des Bundes gegeben ist. Dem Verfall der legislativen Kompetenzen der Länder bei gleichzeitigem Zuwachs an bundesgesetzlichem Einfluss des Bundesrats und damit der fortschreitenden Verschränkung der nationalen und der regionalen Ebene suchen seit 2003 die Föderalismuskommissionen entgegenzuwirken (Verfassungsänderungen mit Begleitgesetzen 2006 und 2009).
Den Bundespräsidenten beschränkt das Grundgesetz fast ausschließlich auf repräsentative Aufgaben, während die Stellung des Bundeskanzlers gegenüber der Weimarer Republik in dreierlei Hinsicht gestärkt worden ist: Wahl durch den Bundestag, alleinige Verantwortlichkeit für die gesamte Regierung gegenüber dem Parlament, Einschränkung des parlamentarischen Misstrauensvotums auf ein ›konstruktives‹, mit der Wahl eines neuen Kanzlers verbundenes. Weitere stabilisierende Faktoren werden in der Fünfprozent-Sperrklausel bei Wahlen und im personalisierten Verhältniswahlrecht gesehen.
Erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte die Übernahme des Demokratiebegriffs durch nahezu alle politischen Parteien. Selbst Konservative scheuten nicht mehr das Wort ›demokratisch‹“, nannten sich jetzt häufig ›Volkspartei‹, auch wenn die Vorbehalte gegen die ›ungezügelte‹ Herrschaft der Mehrheit überdauerten. Allerdings war die Demokratie in der Zwischenkriegszeit – rechts wie links – noch nicht so eindeutig mit dem Parlamentarismus konnotiert. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, wohl nicht zuletzt aufgrund des militärischen Sieges der anglo-amerikanischen Mächte, verfestigte sich die Verbindung von Demokratie und Repräsentativsystem in den verschiedenen Grundformen (mit Zwischenformen) des präsidialen, parlamentarischen und kollegialen oder Ratssystems (letzteres in der Schweiz). Die Tendenz in Europa, nach 1989 auch im östlichen Europa, ist zur weiteren Parlamentarisierung vordem semipräsidialer Demokratien, zur Aufnahme zumindest konsultativer plebiszitärer Elemente und zur Herabsetzung des Wahlalters gegangen. Die Rolle politischer Parteien und die mit dem Wechselspiel von Regierungsmehrheit und Opposition (anstelle der traditionell-konstitutionalistischen Vorstellung einer der Regierung insgesamt gegenüberstehenden legislativen Macht) ist – als gewissermaßen moderne Form der Gewaltenteilung – längst akzeptiert, wird aber auch kritisch diskutiert. Der österreichische Verfassungsrechtler Hans Kelsen hat zudem schon 1920 festgestellt, dass das Volk, der Urgrund der Demokratie, nur im Plural auftritt. Als herausragender Vertreter der pluralistischen Demokratielehre bestreitet er jeden Anspruch, einen homogenen Gemeinwillen ›des‹ Volkes gegen den aus heterogenen, teilweise sogar antagonistischen Kräften sich bildendenden politischen Gesamtwillen auszuspielen (Kelsen 1920).
Das Verhältnis von Demokratie und sozialer Gleichheit bzw. Ungleichheit ist schon als ein durchgehendes Problem angesprochen worden. Als weitere konzeptionelle Probleme sind seit jeher die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – ist nur eine aus der Wahl einer verfassunggebenden Versammlung hervorgegangene Konstitution demokratisch? – das Verhältnis von Mehrheitsprinzip und Freiheitssicherung, der Grad der Bindung der Repräsentanten an die Wähler, das Spannungsverhältnis von Gewissensfreiheit der Abgeordneten und parteiischem Fraktionszwang, ferner das Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat diskutiert worden. Es liegt auf der Hand, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht identisch sind, sie in der Logik ihrer Grundprinzipien sogar konfligieren. Die Geschichte kennt vordemokratische bzw. autoritäre Rechtsstaaten, wie das Preußen des 19. Jahrhunderts, und ebenso Ansätze revolutionärer Demokratie ohne rechtsstaatliche Grundierung, wie in Frankreich 1792/93 und 1871 (Pariser Commune) sowie in Russland 1917/18 und in einer Reihe kleinerer kurzlebiger mitteleuropäischer ›Räterepubliken‹. Dass die Demokratie ohne Willkür nur zusammen mit einem Rechtsstaat, definiert als Verbindung von Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, funktionieren kann, darf man wohl als historische Erfahrung festhalten.
Am offenkundigsten zeigt sich das nicht ganz aufhebbare Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat in Gestalt der Verfassung als eines vorgeordneten Grundgesetzes und der Möglichkeit der Überprüfung normaler, vom volksgewählten Parlament beschlossener Gesetze auf ihre Verfassungskonformität. Das nach österreichischem Vorbild für die Bundesrepublik Deutschland geschaffene Bundesverfassungsgericht gibt vom Bundestag bestimmten, aber ansonsten ungebundenen professionellen Juristen die Möglichkeit, ordentlich beschlossene Gesetze und Verträge zu prüfen, und kann im Fall politischen Missbrauchs den Mehrheitswillen des Volkes systematisch unwirksam machen. Ohne irgendeine Form der Überprüfung von Gesetzen auf ihre Rechtmäßigkeit im Hinblick auf die Verfassung, sei es durch reguläre Gerichte, kommt indessen keine moderne Demokratie aus.
Ein wesentliches Element des politischen Systems von Verfassungsstaaten ist seit jeher, doch verstärkt seit dem späten 19. Jahrhundert, das jeweilige Parteiensystem. Obwohl manche konservativen und liberalen Parteien noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eher an Honoratiorenvereinigungen erinnerten, setzte sich der Typus der modernen Mitgliederpartei, die sich in Wahlkämpfen an breite Volksschichten wendet, zunehmend durch. Der mit der Demokratisierung des Stimmrechts meist einhergehende bzw. ihr folgende Übergang zur Verhältniswahl gab den Gremien der Parteien eine unverzichtbare Funktion. Die Abhängigkeit der Tendenz zu Mehr- und Vielparteiensystemen vom Wahlsystem ist weit weniger eindeutig, als das in Wahlrechtsdiskussionen, etwa in der frühen Bundesrepublik, unterstellt wurde. Neben der je unterschiedlich tradierten Bindewirkung einer Parteimitgliedschaft scheint die Wahrnehmung der (sozialen, ideologischen und religiös-konfessionellen, regionalen bzw. ethnisch-kulturellen, inzwischen auch ökologischen) Konfliktlinien hauptsächlich bestimmend zu sein. Eine größere Zahl von Parteien kann, so in Frankreich bis heute, mit einem hohen Grad an Polarisierung entlang der gesellschaftspolitischen Rechts-Links-Achse einhergehen, wie sie in vielen Ländern lange dominierte.
Von Ausnahmen wie Irland abgesehen, wo die großen Parteien auf den Bürgerkrieg der frühen 1920er Jahre zurückgehen, zeigen die politischen Hauptrichtungen in den konsolidierten Demokratien des Westens Europas bei allen Differenzierungen so große programmatische und praktisch-politische Übereinstimmungen, dass der Zusammenschluss in europäische ›Partei-Familien‹ möglich geworden ist und mehr und mehr Substanz gewonnen hat. Neben den in der Tradition der Arbeiterbewegung stehenden sozialdemokratisch-sozialistischen Parteien, Jahrzehnte lang prägend vor allem in Nordeuropa, haben sich in den meisten Ländern linkssozialistische Formationen, in Einzelfällen noch orthodox-kommunistischen Typs, und ›grüne‹ Parteien etabliert, deren Aufstieg seit den späten 1970er Jahren mit Themen einer ›neuen Politik‹ (Umweltschutz, Frieden, Basisdemokratie) erfolgte. Die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Unterscheidung von Liberalen und Konservativen, wobei verfassungspolitische Konflikte in der Regel eine herausragende Rolle spielten, hat im Zuge der vollständigen Verbürgerlichung konservativer Parteien und ihrer Anpassung an die parlamentarische Demokratie schon lange an Schärfe verloren. An die Stelle der Konservativen als der dominierenden Mitte-Rechts-Partei sind nach dem Zweiten Weltkrieg in manchen Ländern konfessionelle oder interkonfessionelle christlich-demokratische Parteien getreten, die ein breites bürgerliches Spektrum integrieren und auch Teile namentlich der religiös gebundenen Arbeitnehmerschaft einbinden konnten. In Nordeuropa und in der Schweiz behaupten sich ehemalige Bauernparteien. Ethnisch-kulturelle Autonomie- bzw. Separationsbestrebungen haben, mit unterschiedlicher, seit den 1960er Jahren überwiegend eher linksnationalistischer Orientierung, zunehmend parteibildend gewirkt, namentlich in einigen früheren Zentralstaaten wie Großbritannien und Spanien. In Belgien haben sich die größeren Parteien entlang der flämisch-wallonischen Sprachgrenze komplett aufgespalten.
Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, zunächst schleichend und inzwischen verstärkt, lässt sich eine Erosion der etablierten europäischen Parteiensysteme beobachten. Kennzeichen sind sinkende Mitgliederzahlen, abnehmende Parteienidentifikation und zurückgehende Wahlbeteiligung, hauptsächlich in der Unterschicht. Im Wandel der Ideologien und Organisationsmuster sind die etablierten, mehr und mehr professionalisierten Parteien großen Industrieunternehmen immer ähnlicher geworden. Obwohl auch Mitte-Rechts-Parteien betroffen worden sind, haben diese Veränderungen vor allem die politische Linke getroffen, parallel zum Abschmelzen des gewerkschaftlichen Organisationsgrads. In Frankreich und Italien sind kommunistische Mehrheitsparteien der Arbeiterbewegung fast verschwunden bzw. einem Mutationsprozess unterworfen worden. Mit Verzögerung ist dann auch europaweit der Niedergang der Sozialdemokratie zu registrieren gewesen. Die längst zu beobachtende Wiederzunahme der Wahlbeteiligung kommt fast ausschließlich neuartigen Parteien und Bewegungen zugute, die meist als ›populistisch‹ bezeichnet werden. Die Unbeständigkeit der parteipolitischen Orientierungen hat sich vor allem im östlichen Mitteleuropa, in Südost- und Osteuropa, also in den ehedem kommunistisch regierten Staaten, geäußert, wo der ›goldene Westen‹ und seine Werteordnung inzwischen an Kraft verloren haben. Bei der auch für das westliche Europa nachgewiesenen Zunahme ablehnender und skeptischer Haltungen gegenüber der bestehenden politischen Ordnung ist allerdings zwischen der Beurteilung der ›real existierenden‹ Demokratie und der des demokratischen Gedankens an sich bzw. der in den konstitutionellen Demokratien klar zu unterscheiden. Rezepte, die von verschiedener Seite vorgeschlagen werden, um die repräsentative Demokratie zu ergänzen und damit in ihrer Substanz wiederzubeleben – wie aktive Partizipation im Internet und vermehrte Volksabstimmungen über Großprojekte und Gesetze nach dem Modell der Schweiz – haben sich eher als Instrumente einer im konkreten Fall interessengeleiteten, gut vernetzten Mittelschicht, nicht des Volksganzen erwiesen, so dass am Ende die Mehrheit eines abstimmenden Drittels entscheiden könnte.
In der historischen Realität hat sich nach 1945 die repräsentative Demokratie in Westeuropa (und zeitweilig auch in Nordamerika) zudem mit dem avancierten Sozial- und Wohlfahrtsstaat auf der Grundlage einer regulierten Marktwirtschaft verbunden. Zu den gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen einer Demokratie zählte man ferner lange die Existenz einer in einem Nationalstaat organisierten, nicht unbedingt ethnisch-kulturell definierten Nation, die sich als Einheit fühlt. Der seit den späten 1970er Jahren erneut entfesselte, zunehmende globalisierte, vom Finanzmarkt getriebene Kapitalismus hat alle diese Voraussetzungen noch nicht zerstört, aber angegriffen und teilweise zersetzt; die soziale Polarisierung hat sich über Jahrzehnte verstärkt – bis zu einem nach den Urteilen Vieler demokratiegefährdenden Ausmaß. Zugleich hat die Europäische Union, statt als Schutz- und Gestaltungsraum der Globalisierung zu fungieren, sich eher als Transmissionsriemen und Katalysator dieses Prozesses verstanden. Die Nationalstaaten geben Kompetenzen ab, ohne dass sie bislang in Brüssel wirklich aufgenommen werden. Die demokratische Legitimität der politischen Ordnung steht somit auf EU-Ebene in zugespitztem Maß infrage. Ein Teilprozess der Globalisierung ist die Massenzuwanderung nach Europa durch Migration und Flucht, die von weiten Teilen der Bevölkerung gerade in der unteren Hälfte des sozialen Spektrums als Bedrohung empfunden wird. Relevanter für die Perzeption der Zuwanderung seitens der autochthonen Bevölkerung (und gesamtgesellschaftlich wohl auch objektiv relevanter) als die absolute Zahl ist der Anteil der im Ausland Geborenen sowie derjenigen mit ›Migrationshintergrund‹ – und das heißt heute in der Regel: der aus nichteuropäischen Kulturkreisen Stammenden.
In den meist als rechtspopulistisch bezeichneten, fast überall Zuspruch gewinnenden Parteien verbindet sich ein (aus meiner Sicht fehlgeleiteter) sozialer Protest mit dem nicht unberechtigten Eindruck der Abkehr früherer Arbeiterparteien von ihrer ursprünglichen popularen Klientel zugunsten der einseitigen Hinwendung zu den kosmopolitisch-urbanen, kulturell-linksliberalen bis permissiven, gesellschaftspolitisch hingegen vielfach eher neoliberal angepassten Gewinnern der Globalisierung, so dass ein tiefer soziokultureller Graben entstanden ist. »Protest gegen materielle und moralische Degradierung gerät unter Faschismusverdacht, zumal frühere Fürsprecher der plebejischen Klassen zur Globalisierungsfraktion übergewechselt sind...« (Streeck 2017, 263). Zwischen Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wird seitens der Parteienforschung in der Regel unterschieden, ebenso zwischen Rechtspopulismus und Konservatismus. Einen ideologischen Kern auszumachen, ist nicht einfach, wenn man das diesbezüglich breite Spektrum in den Blick nimmt. Namentlich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik unterscheiden sich die Programme wie das Handeln in den verschiedenen Ländern erheblich und haben sich als wenig stabil erwiesen: Zwischen der protektionistischen, dirigistischen und sozialnationalistischen Linie des französischen Front National und dem Neoliberalismus etwa der Schweizerischen Volkspartei scheint der Abstand beträchtlich. Gemeinsam ist den Rechtspopulisten ein gewisser antipluralistischer Zug, erwachsend aus dem Anspruch, die wahren Interessen des Volkes gegen eine entartete, meist als linksliberal eingeordnete politische und mediale Kaste zu vertreten. Das große Kapital wird hauptsächlich dann kritisiert, wenn es sich damit in Verbindung bringen lässt bzw. wenn man es jenseits der eigenen nationalen Grenzen verorten kann. Auch eine Tendenz zum Autoritarismus ist unverkennbar, so dass der mit absoluter Mehrheit regierende ungarische Premier Viktor Orbán von der »nichtliberalen Demokratie« gesprochen hat (Kokot 2015). Dass sich in einer Reihe von Staaten, namentlich in Griechenland und in Spanien, auch links der Mitte neue parteipolitische Formationen gebildet haben, die im Protest gegen die Eliten, hier eindeutig antikapitalistisch gerichtet, und im Appell an ›das Volk‹ das Repräsentativsystem unter Druck setzen, veranlasst viele Beobachter, neben dem rechten auch einen linken Populismus aufkommen zu sehen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn man abschließend feststellt, dass sich die Zukunft der Demokratie, namentlich in Europa, daran entscheiden wird, ob und wie die ›populistische Herausforderung‹ bewältigt wird. Volkspädagogische Mahnungen zur Wohlanständigkeit werden dafür nicht ausreichen, wenn sie nicht sogar kontraproduktiv wirken. Es gilt, diejenigen politischen, sozialen und kulturellen Verwerfungen in ihrer ganzen Brisanz in den Blick zu nehmen und den Mut zu entwickeln, daraus Konsequenzen für das Handeln zu ziehen.
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