Renate Solbach: Sonnenaufgang

The farmer is the man, the farmer is the man
Lives on credit ´till the fall
Then they take him by the hand and they lead him from the land
And the merchant ist the man who gets it all.
Aus dem traditionellen Folksong »The Farmer is the Man« (zit. in Backhout)

I. Zum Eigenleben eines Begriffs

Begriffe dienen der Orientierung in komplexer Wirklichkeit. Sie tauchen auf, verschwinden womöglich wieder oder führen ein Eigenleben, oft gefüllt mit vagen, wenig bekannten Inhalten. In der ingua politica dienen sie vielfach als Kampfbegriffe oder Denunziationsformeln, wie etwa das sowohl in demokratischer wie antidemokratischer Version bekannte ›Volk‹, welches derzeit durch vermeintlich begriffsneutrale Bezeichnungen wie ›Bevölkerung‹ (zuweilen auch ›Population‹, im Deutschen ein Terminus der Zoologie) oder ›Menschen in diesem Lande‹ abgelöst wird. In aller Munde, genauer: im Sprachgebrauch der politisch-medialen Klasse – ein populismusverdächtiger Begriff – ist seit einiger Zeit der ›Populismus‹. Der Begriff als solcher dient der Abwehr von Kräften, die das bestehende politische System, den ordre établi, herausfordern. Im Raum des Politischen ist der Begriff negativ ›besetzt‹ (terminus militaris). Sein haut gout wirkt umso stärker, als er nahezu ausschließlich mit ›rechts‹ – dem ›Gottseibeiuns‹ schlechthin – assoziiert wird, während ›Linkspopulisten‹ in den medialen Debatten ein gewisses Maß an Nachsicht genießen dürfen.

Über Herkunft und Inhalt der Vokabel herrscht weithin Unklarheit, wenngleich die ›politisch interessierte Öffentlichkeit‹ – ein nicht-populistischer Begriff – wissen dürfte, dass der Populismus aus den USA kommt. ›Populismus‹ war lange ein Thema für Fachhistoriker. Seine negative Popularität verdankt der Begriff nicht zum mindesten der zu definitorischen Abstraktionen geneigten Politikwissenschaft, was nicht nicht nur historische Verkürzungen, sondern Missverständnisse, ja Fehlinformationen mit sich bringt. Beispielsweise definierte der Politologe Kurt Lenk anno 1986 – mit Zielrichtung von links auf die autoritären Tendenzen einer ›Neuen Rechten‹ in Frankreich und in den USA – im  Lexikon des Sozialismus Populismus als »Oberbegriff für soziale und politische Bewegungen seit dem ausgehenden 19. Jh., denen die Abwendung von staatlicher Zentralisation und die Rückkehr zu ethnischen Traditionen und Werten gemeinsam ist.« Als Beispiele nannte er »die Narodniki im zaristischen Rußland 1870-81« und eine in den USA 1891-1908 bestehende »Populist Party, die sich u.a. für die direkte Wahl der Senatoren, Verstaatlichung der Eisenbahnen und progressive Einkommensteuer einsetzte, um den Bedürfnissen der Farmer entgegenzukommen.« (Lenk)

Es handelt sich um eine – obendrein in sich widersprüchliche – Definition, in der zwei in ihren historischen Voraussetzungen und Erscheinungsformen gänzlich unterschiedliche Bewegungen zusammengefasst sind. Selbst wenn die narodniki – in der deutschen Geschichtsschreibung bekannt als ›Volkstümler‹ oder ›Volksfreunde‹– in der angelsächsischen Literatur als populists bezeichnet werden, so unterscheiden sich deren antikapitalistisch agrarsozialistische, in revolutionären Terrorismus mündenden Konzepte und Aktionen grundlegend von der populist revolt (Hicks) in den USA.

Kurz und einprägsam definiert Webster´s New Twentieth Century Dictionary (Ausgabe von 1974) hingegen die Bewegung: »n. [from L:populus, the people; and -ism.] 1. the theory and policies of Populists 2. the Populistic movement«. Über das Adjektiv ›Populistic‹ erfahren wir, dass es sich erstens auf die »Populists or their views« bezieht und zweitens: »having to do with the People´s party«. Mit einem Gran Ironie sei desweiteren folgender Satz aus dem Eintrag zu »The People´s Party (United States)« in der amerikanischen Wikipedia zitiert: »For a few years, 1892–96, it played a major role as a left-wing force in American politics.« (https://en.wikipedia.org/wiki/People's_Party_(United_States.)

II. Die agrarische Krise im Anbruch des ›Gilded Age‹

Die ›populistische Revolte‹ in den USA fügt sich in das ökonomisch-soziale Erklärungsmuster des Übergangs von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft im Zeichen des Industriekapitalismus. Es war dies die Ära zwischen dem Bürgerkrieg und dem Aufstieg der USA zur Weltmacht um die Jahrhundertwende, markiert durch den – von den USA ausgelösten – Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898. Aussagekraft gewinnt das Schema indes erst anhand eines Gewebes komplexer historischer Fakten und Details, in denen – im Vergleich zur europäischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Spezifika der nordamerikanischen Geschichte hervortreten. Für die zweite Phase dieses stürmischen Prozesses – datierbar von 1877 bis 1914 – prägte Mark Twain die Bezeichnung ›Gilded Age‹.

Bereits vor dem Bürgerkrieg – der heute vergessene Historiker Charles Beard sprach dereinst von der ›zweiten Amerikanischen Revolution‹ – hatte der Industrialisierungsprozess in den USA mit Schwerpunkt im Norden eingesetzt. Neben dem vorrangigen ethischen Konflikt über die Sklaverei – die ›besondere Einrichtung‹ (peculiar institution) des Südens – führte auch der materielle Konflikt zwischen der an Freihandel interessierten Pflanzeraristokratie und der von Schutzzöllen – zuletzt der Morill Tariff vom 2. März 1861 – für den nationalen Markt profitierenden Unternehmerklasse im Norden zur Sezession der Südstaaten und zum bis heute blutigsten Krieg der amerikanischen Geschichte. Der Krieg selbst wirkte in den Nordstaaten als Movens der Industrialisierung. Für den Süden endete er mit der umfassenden Zerstörung der auf exportorientierter Plantagenwirtschaft sowie auf selbständiger, weithin auf Subsistenz ausgerichteten Farmwirtschaft beruhenden Wirtschaftsbasis.

Von zyklischen Krisen – wie nach dem Bankenkrach von 1873 – vorübergehend verlangsamt, erlebten die USA nach dem Bürgerkrieg Jahrzehnte kontinuierlicher industrieller Expansion. Als führender Sektor fungierte – im Zusammenspiel von Bundesregierung, Banken und Kapitalgesellschaften – der Bau von Eisenbahnen. Am spektakulärsten war der Bau der Interkontinentalbahnen, der 1862 mit der Unterzeichnung des Pacific Railroad Act durch Präsident Lincoln eröffnet worden war. 1869 war der Bau der ersten Interkontinentalbahn vollendet. Es folgten neben den zwei weiteren, 1881 und 1883 eröffneten großen Ost-West-Verbindungen – Southern Pacific Railroad und Northern Pacific Railway – eine ganze Reihe von Linien, die möglichst alle Regionen des Landes für den nationalen Markt erschließen sollten.

Die Finanzierung der Eisenbahnen geschah teils durch Bundesanleihen, teils durch einzelstaatliche Unterstützung. Stimuliert wurde der Ausbau zudem durch die sogenannten land grants, d.h. durch die Zuteilung von Regierungsland – in den Präriegebieten verfügbar dank Vertreibung und Abdrängung der Indianer in Reservate – an die Kapitalgesellschaften. Insgesamt wurden – im Westen in einer Art Schachbrettmuster von jeweils abwechselnd 10 Quadratmeilen entlang der Linien – an die 129 Millionen Acre (= ca. 52 Millionen ha = 520 000 km2 = 7 Prozent der damaligen Fläche der USA) an die Eisenbahnen vergeben. Die Eisenbahngesellschaften verkauften ihrerseits – teils direkt, teils auf Kredit – Parzellen an landhungrige Siedler. Diese kamen aus allen Teilen des Landes, auch aus dem verarmten Süden, nicht zuletzt dank gezielter Anwerbung aus Europa, vor allem aus Deutschland, Österreich-Ungarn, Skandinavien und Polen. Die Werbeprospekte erreichten selbst Deutsche in Russland, deren Vorfahren ein paar Generationen zuvor von Katharina II. d. Gr. ins Zarenreich geholt worden waren und die jetzt nach Aufhebung ihrer Sonderrechte, insbesondere der Befreiung vom Kriegsdienst, unter dem Regime Alexanders II. mit ihren christlich-pazifistischen Überzeugungen unter Druck gerieten. (Hicks, 14).

Befördert wurde die Besiedlung der Middle Border und der Prärieregionen durch die sogenannten Heimstättengesetze. Das bekannteste war das unter Abraham Lincoln beschlossene Homestead Act von 1862, durch welches aus public lands, d.h. aus Regierungsbesitz, jedem botmäßigen Bürger – man dachte zuvörderst an künftige Kriegsveteranen – und Einwanderer ein Stück Siedlungsland von 160 Acre (= 65 ha) zugeeignet wurde, unter der Bedingung, es mindestens fünf Jahre lang nutzbringend zu ›verbessern‹. Ergänzt und erweitert wurde die angestrebte Besiedlung durch den Timber Culture Act von 1873 – ein Gesetz, das den Siedlern weitere 160 Acre an Boden gewährte unter der Verpflichtung, darauf Bäume zu pflanzen.

Die Folgen dieser Art von Siedlungsanreizen waren absehbar: Sie führten zu allen möglichen Formen von Spekulation sowie – fern von Regierungskontrollen in der baumlosen Prärie – zur Ausdehnung der nach Westen hin zunehmend regenarmen Anbauflächen. Fehlendes Eigenkapital für die Bewirtschaftung ihres Landes, für Saatgut, Düngemittel – in der Prärie zerstampften Knochenmühlen die millionenfach herumliegenden Bisonskelette zu Knochenmehl – Pferde, Ackergeräte wie Pflüge, Eggen, Walzen etc., für Scheunenbau, Windräder, Maschinen, schließlich Lagerungs- und Transportkosten, nicht zuletzt die Kosten für den Lebensunterhalt, nötigten die Siedler – einige hausten noch jahrelang in Hütten aus Grassoden (sod houses) (Goodwyn, 71) – zur Kreditaufnahme. Als Kreditgeber fungierten lokale und nationale Banken, im Osten gegründete Hypothekenbanken, lokale Kaufleute sowie die Eisenbahngesellschaften.

Dank guter Ernten und stabiler Preise zog das frei gewordene Land im Westen, alsbald bekannt unter dem Namen wheat belt, in den 1870er Jahren – kaum beschadet von der Bankenkrise von 1873 – zahllose Siedler an. Zwischen 1870 und 1880 verdoppelte die Bevölkerung in Kansas sich fast auf knapp eine Million, in Nebraska verdreifachte sie sich nahezu auf 452 402 Einwohner. (Hicks, 16) Ein Teil der Einwanderer strömte nicht in die neuen Agrargebiete, sondern fand – oft genug unter ausbeuterischen Bedingungen – Arbeit bei den Eisenbahnen, in den alten und neuen Bergbaugebieten – im Fernen Westen etwa die Silbergruben von Colorado – in den wachsenden Industrie- und Handelszentren von New York bis Chicago, von Pittsburgh bis St. Louis, in der Holzindustrie sowie im Schiffsbau von Baltimore bis San Francisco. Insgesamt verdoppelte sich die Bevölkerung der USA von 38,5 Millionen im Jahr 1870 auf 76,2 Millionen um 1900. Davon lebten um 1870 noch etwa zwei Drittel in ländlichen Gegenden, um die Jahrhundertwende nurmehr 60,4 Prozent (https://www.census.gov/population/censusdata/table-4.pdf).

Gegen Ende der 1880er Jahre war der hoffnungsvolle Zug nach Westen zu Ende. 1893 verkündete der Historiker Frederick Jackson Turner seine berühmte These ›The frontier is closed‹, was nicht nur den Abschied von der weithin gepflegten Vorstellung von den Wurzeln der amerikanischen Demokratie in der Kultur der frontier signalisierte, sondern dem Faktum Rechnung trug, dass kein beliebig verfügbares Siedlungsland mehr zur Verfügung stand.

In den Jahren zuvor war in weiten Regionen des Landes der agrarische Protest aufgeflammt. Er ergriff wie ein Lauffeuer insbesondere die kurz zuvor besiedelten Regionen der Präriestaaten. Mehrjährige Dürren, Missernten und einbrechende Preise stürzten zahllose verschuldete Farmer in den Ruin. Tausende bankrotter Farmern überquerten den Mississippi wieder zurück nach Osten. Ein bitteres Wortspiel kursierte in den unlängst erschlossenen Agrargebieten: »In God we trusted, in Kansas we busted.« (Hicks, 32)

III. Deflation, Monopole und Gegenbewegungen

Als ein Hauptfaktor für die – im Westen erst in den späten 1880er Jahre eklatierende – Agrarkrise wirkte ein maßgeblich ›von oben‹, d.h. ein von der Bundesregierung in Washington beförderter währungspolitischer Prozess, eine anhaltende Deflation. In der langen Phase wirtschaftlicher Expansion blieb die Geldmenge nahezu konstant. Im Hinblick auf die wachsende Bevölkerung halbierte sich dadurch faktisch die Geldmenge, während der Dollar seinen Wert verdoppelte. Das Bankkapital konzentrierte sich nach wie vor im industriellen Nordosten der USA. In anderen Regionen, nicht nur im vom Bürgerkrieg verheerten Süden, herrschte Kapitalknappheit. Sie ging einher mit wachsender Schuldenlast der in nicht geringem Maße vom kapitalistischen Weltmarkt abhängigen Farmer.

Die Ursachen dieser Entwicklung führen in den Bürgerkrieg zurück. Zur Finanzierung des Krieges hatte die Unionsregierung seit 1862 hunderte Millionen Dollar in ungedecktem Papiergeld ausgegeben. Die Greenbacks, benannt nach der grün bedruckten Rückseite der Noten, zirkulierten weiterhin nach 1865 in großen Teilen der USA, während die von der Confederacy gedrucken Geldscheine mit der Niederlage der Südstaaten gänzlich wertlos geworden waren. Nach Ende des Bürgerkriegs zog die Regierung einen Großteil der Greenbacks (44 Mio. $) aus dem Verkehr. Zur Eindämmung der inflationären Tendenz der noch vorhandenen Greenbacks betrieben Regierung und Kongress, angetrieben von der am europäischen Goldstandard orientierten Treasury (Schatz- oder Finanzministerium), eine kontraktive Geldpolitik. 1873 unterzeichnete Präsident Ulysses S. Grant ein Währungsgesetz (Fourth Coinage Act oder Mint Act of 1873), welches die bisher dezentral praktizierte Prägung von Silbermünzen untersagte. Das Gesetz bedeutete die Abkehr von dem in den Anfängen der Republik (1787) begründeten – eingeschränkt anno 1853 durch eine gesetzliche Aufhebung des Garantiewerts von Silbermünzen (Coinage Act of 1853) – Bimetalllismus.

Gegen diese von der republikanischen Partei forcierte Währungspolitik regten sich alsbald die ersten Widerstände. Bereits 1873, im Jahre des eine längere Rezession einleitenden Bankenkrachs, kam es in Indiana zur Gründung einer Independent Party. Andernorts trat der Protest als Union Labor Party, in Wisconsin als Reform Party, sodann 1876 in Indianapolis als National Independent Party auf den Plan. Bekannt wurde sie unter dem informellen Namen Greenback Party. Mit einem eigenen Präsidentschaftskandidaten scheiterten die Greenbackers mehrmals, doch konnten sie 1878 dreizehn Abgeordnete in den Kongress nach Washington schicken.

Die Greenback-Bewegung kam hauptsächlich aus den Reihen der National Grange of the Patrons of Husbandry. Diese – bis heute bestehende – seinerzeit mit freimaurerisch inspirierten Geheimritualen operierende Farmervereinigung, bald bekannt unter der Abkürzung The Grange (die Scheune), war 1867 von Oliver Hudson Kelley, der als Beauftragter des Department of Agriculture die trostlose Lage im Süden untersuchen sollte, gegründet worden. Die Grangers engagierten sich im Bildungsbereich, speziell in der Unterweisung in besseren Anbaumethoden, in der Gründung von Kooperativen und Spargenossenschaften sowie im Kampf gegen die Preisdiktate von Lagerhaltern und Eisenbahnen. Zu den politischen Forderungen der Grangers gehörte das – 1869 erstmals im territory von Wyoming eingeführte – Wahlrecht für Frauen. Politische Erfolge erzielten sie in einigen Staaten durch die Verabschiedung von sogenannten ›Grange laws‹. Wenig Beachtung schenkten die Grangers dem Problem der Überproduktion, die sowohl im wheat belt, wo man in Konkurrenz zu Exportländern wie Kanada, Argentinien und Australien geriet, als auch im Süden mit seinen Monokulturen von Baumwolle, Tabak und Zucker, auf die Preise drückte. (Hicks, 58)

Als die deflationäre Wirkung des Goldstandards von 1873 spürbar wurde, sammelten sich Gegner der von Protagonisten beider Parteien befürworteten Geldpolitik unter dem Banner des ›Free Silver‹. Seit 1875 gingen aus derlei Bewegungen im Mittelwesten, in den Präriestaaten sowie im Süden die großen Organisationen der Farmers' Alliances hervor. Diese bildeten den Nährboden für den in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre hervorbrechenden populistischen Protest. In den Jahren des populistischen Aufbegehrens ertönte der Protestschrei vom ›crime of 1873‹. Im Jahr 1890 erschien die Bewegung einem Beobachter sodann kaum noch »as a political campaign. It was a religious revival, a crusade...in which a tongue of flame sat upon every man, and each spake as the spirit gave him utterance.« (Zit. in: Stock, 62).

IV. Die Lage im Süden

Im Mittelwesten und in den Präriestaaten kam die populistische Revolte erst Ende der 1880er zum Durchbruch. Den Ursprung sehen die Historiker bereits früher im Süden, wo sie eine andere Vorgeschichte – und andere Nachwirkungen – hatte.

Die Niederlage der Südstaaten im Bürgerkrieg – besiegelt durch die bedingungslose Kapitulation des Generals Robert E. Lee gegenüber General Ulysses S. Grant am 9. April 1865 im Court House zu Appomattox in Virginia – bedeutete das Ende des auf Sklavenwirtschaft beruhenden Wirtschaftssystems. Hatten die Pflanzer durch die – entschädigungslose – Befreiung der Sklaven den Großteil ihres ›Kapitals‹ verloren, so kamen für viele die Kriegszerstörungen sowie der Verlust der aufgekündigten Kriegsanleihen hinzu. Zu Beginn der Reconstruction verließen eine Anzahl der ›Southern gentlemen‹, vielfach Kriegsveteranen, den Süden und gingen in den Westen. Andere verkauften ihren Besitz – zuweilen sogar an nördliche Kapitalgesellschaften –, um sich in den Städten als Unternehmer zu betätigen. Diejenigen, die ihren Landbesitz – nicht selten jetzt als absentee landlords – erhalten konnten, mussten ihre einstigen Plantagen unter den neuen Bedingungen bewirtschaften.

Aus dem Zusammenbruch des Sklavensystems im cotton belt, in den Tabakstaaten sowie in den Regionen des Zuckerrohranbaus resultierte – mit Ausnahmen von ländlicher Lohnarbeit – ein komplexes Pachtsystem. Geldpacht blieb die Ausnahme. Stattdessen setzten sich auf der Basis der vorherrschenden Monokultur zwei – vielfach verquickte – Formen von Naturalpacht durch. Die eine war bekannt unter der Bezeichnung share-cropping – mit Abgaben in Höhe eines Drittels bis zur Hälfte der Ernte –, die andere als das crop-lien-System. Umfassender und noch bedrückender erwies sich das crop-lien, bei dem der Pächter oft die gesamte Ernte gegen Vorschuss an einen Kreditgeber verpfändete. Als Gläubiger fungierten in der Regel die städtischen Geschäftsleute, die Saatgut, Dünger, Lagerhallen, nicht zuletzt Lebensmittel und Gebrauchsgüter bereitstellten. (Es handelte sich um die agrarische Variante des – Jahrzehnte später (1947) – im Country-Song Sixteen Tons besungenen Elends der Bergarbeiter.) Zur bitteren Ironie des agrarischen Elends gehört der Umstand, dass der town merchant für den Ankauf seiner Waren vielfach Kredit bei seinem Großhändler aufnehmen und dieser wiederum bei seinem Kreditgeber verschuldet war. (Woodward III, 184f.) Der gesamte Süden glich nach den Worten eines Historikers einem ›gigantischen Pfandleihhaus‹ (giant pawn shop). (Goodwyn, 22)

Unter den Pächtern (tenants) im cotton belt finden wir teils die früheren Sklaven, teils verarmte, einst grundbesitzende Farmer sowie die bereits in ante-bellum-Zeiten existierende Schicht von ›armen Weißen‹. Mit dem Ende des alten Plantagensystem im black belt änderten sich überdies die Lebensverhältnisse der vor dem Krieg als selbständige Farmer – dem Selbstverständnis nach die Verkörperung von Thomas Jeffersons Ideal des freien yeoman – existierenden weißen Bevölkerung in den hügeligen Regionen des Südens. Sie stellten ihre Produktion auf Stapelgüter um – vor allem Tabak und Baumwolle – und wurden so vielfach in das crop-lien-System einbezogen. Wer von über die Jahre hin angehäuften Schulden erdrückt wurde, war genötigt, sein Land dem town merchant zu übereignen und als tenant weiter zu existieren.

Die Nöte der Landbevölkerung des Südens wurden durch Ausdehnung und Intensivierung der Baumwollproduktion nicht gemindert, sondern vermehrt, da für die ausgelaugten Böden mehr Dünger – im Süden vor allem Guano und Pottasche – erforderlich wurde, zugleich die Produktionssteigerung auf den Märkten keinen höheren Gewinn brachte. Wie die Preise für Weizen und Mais im Westen, so fielen die Preise für Baumwolle – 1870 bis 1885 von durchschnittlich15,1 Cent auf 9,1 Cent – kontinuierlich. (Hicks, 56) Während manche tenant farmers nach Auslaufen ihres Pachtvertrags den Besitzer wechselten, suchten andere schlechtbezahlte Arbeit in den Industriestädten und Textilfabriken des ›New South‹. (Woodward III, 175-204, 222-226)

Politisch stand der Süden in der Nachkriegszeit – de facto von 1865, de jure ab 1867 bis zum Jahr 1877 – im Zeichen der ›Reconstruction‹. Es waren die Jahre des Militärregimes, der Vorherrschaft der Yankee carpetbaggers und der Scalawags, ihrer südstaatlichen Kollaborateure, der – teilweise durchaus erfolgreichen – politischen Mobilisierung der befreiten Schwarzen durch die Republikaner, die Partei Lincolns. In Reaktion auf die – von teils realen, teils propagandistisch übertriebenen Missbräuchen begleiteten – Umwälzungen traten die südstaatlichen Demokraten als Repräsentanten einer verklärten ›alten Ordnung‹ auf, appellierten an die tief verwurzelten Rassenvorurteile der Weißen und empfahlen sich mit Gewalt und Terror als Redeemers von nordstaatlicher Unterdrückung. Mit dem sog. ›Compromise of 1877‹ waren sie am Ziel. Darin überließen nach den Wahlen von 1876 die mit ihrem Kandidaten Samuel Tilden knapp siegreichen Demokraten dem Republikaner Rutherford Hayes die Präsidentschaft. Im Gegenzug beendeten die Republikaner das Militärregime und überließen den Süden sich selbst. Die faktische Alleinherrschaft in den Südstaaten lag fortan bei den Demokraten unter der Ägide der ›Bourbons‹, einer Herrschaftsschicht aus alten und hauptsächlich neuen, städtischen Eliten. Über ihre Parteimaschine kontrollierten die ›Bourbons‹, als Kaufleute, Bankiers und absentee landlords, verquickt mit der Agrarstruktur, die Politik im ›Neuen Süden‹. (Simkins, 263-77, 278-294, Woodward II)

Mit dem Abzug der ›Yankees‹ zerbrach die bis dato von gemeinsamen Ressentiments garantierte Interesseneinheit von weißer Herrschaftsschicht und armer Landbevölkerung. In den 1880er Jahren wurde das etablierte System in Frage gestellt, zunächst unter ökonomischen Vorzeichen, sodann politisch von den ›Populists‹.

Die ersten Anfänge einer Selbstorganisation von Farmern und Viehzüchtern im Süden liegen um 1874/75 in Lampasas County, Texas. (Hicks, 104). Ein Großteil der dortigen Landbevölkerung war in jenen Jahren erst aus dem verarmten Süden zugezogen. Als Wortführer und organizers sowie als Stichwortgeber von lecturers, die alsbald weite Teiles des Landes bereisten, um im Rahmen von ›Allianzen‹ für die Gründung von Kooperativen zu werben, traten zunächst S.O. Daws sowie William Lamb, zwei junge Farmer mit bescheidener Schulbildung, aber begabt mit großer Redegewalt (und publizistischen Fähigkeiten) hervor. Zugleich solidarisierte sich Lamb mit dem von den ›Knights of Labor‹ gegen die Praktiken des Eisenbahnkönigs Jay Gold organisierten – letztlich an Gewaltakten und Streikbrechern gescheiterten – »Great Southwest Strike«. (Goodwyn, 26-44).

Die Aufrufe zur Bildung von grundbesitzende Farmer, Pächter und Farmarbeiter umfassenden Allianzen, sowie von Reden und Festlichkeiten markierte Versammlungen begründeten laut Lawrence Goodwyn (ibid., 33) ›die Bewegungskultur des Populismus‹ (the movement culture of Populism) Zu einem breiteren Zusammenschluss einzelstaatlicher Initiativen kam es aber erst ab 1886, als in Cleburne (in der Nähe von Dallas) Doctor Charles W. Macune auf den Plan trat. Der Aktivist Macune (1851-1940), Sohn eines kanadischen Methodistenpredigers, hatte bereits eine bewegte Existenz als Farmarbeiter, Zirkusangestellter, Viehtreiber, Journalist und Arzt hinter sich. Als Präsident der Farmers' Alliance of Texas verfocht er zunächst den Ausbau der ›Exchange‹ (Börse) genannten Einkaufs- und Verkaufsgenossenschaften »to fight monopoly with monopoly« (zit. in: Buckhout, Part I).

Anno 1889 trat er auf einem ›nationalen‹ Konvent in St. Louis – genauer: auf einer eher beliebig zusammengesetzten Versammlung von Vertretern der Northern und Southern Alliance – mit dem Plan einer subtreasury hervor: In jedem Staat sollte als Unterorganisation der U.S. Treasury eine von den lokalen Farmerverbänden in jedem County (Bezirk) mit Eigenkapital ausgestattete, zur Ausgabe von Greenbacks befugte Genossenschaftsbank gegründet werden. Diese Bank sollte zugleich Lagerräume oder Getreidesilos unterhalten, bei der die Farmer ihre Produkte – »including wheat, corn, oats, barley, rice, tobacco, cotton, wool and sugar, all together« – einlagern und zu einem preisgünstigen Zeitpunkt zum Verkauf offerieren könnten. Die subtreasury sollte den Farmern einen niedrig verzinslichen Kredit von 80 Prozent des erwarteten Wertes der Ernte garantieren. (Hicks, 187f.; Goodwyn, 81f., 91f., 109f.) Die Vermarktung sollte sodann kollektiv erfolgen. Bei dem Plan ging es nicht zuletzt darum, den verhassten town merchant als Zwischenhändler auszuschalten.

Macune selbst empfahl die Enthaltung von politischen Initiativen. Gleichwohl fanden seine Ideen, die er zeitweilig in Washington – dort entwickelte er ein freundschaftliches Verhältnis zu Terence Powderly, dem Vorsitzenden (Grand Master Workman) der Knights of Labor – über eine Zeitschrift National Economist verbreitete, vom Osten bis zur Westküste Widerhall. (Goodwyn, 107, 115) Sie verhalfen insbesondere der Southern Alliance zum Durchbruch. Um 1890 zählte die – als geheime Organisation formierte – Allianz zwischen ein bis drei Millionen Mitglieder. (Hicks 112f.) Zu den spezifischen Leistungen der Bewegung zählte die von einem weißen Baptistenprediger und einem schwarzen Aktivisten bereits 1886 in Texas initiierte Gründung einer Organisation der armen afro-amerikanischen Landbevölkerung. Die ›Colored Farmers' National Alliance and Cooperative Union‹ war gemäß den herrschenden Sentiments – nicht nur der Südstaatler – separat organisiert, erfreute sich aber eine Zeitlang des Wohlwollens und der Kooperation der weißen Southern Alliance. (Hicks, 114f.; Buckhout, Part I ) Die schwarzen Alliancemen stießen bei ihren Organisationsversuchen alsbald an Grenzen: Auf der einen Seite mussten sie mit dem Zorn der ›konservativen‹ Bourbons rechnen, auf der anderen Seite stießen sie auf geringe Sympathien bei den schwarzen Republikanern, die im Hinblick auf eine ›dritte Partei‹ um ihre bescheidenen Machtanteile fürchteten. (Goodwyn, 118-123)

Dessen ungeachtet wirkten Weiße und Schwarze bei der Mobilisierung der schwarzen Landbevölkerung eine Zeitlang zusammen. Dieses Faktum war nicht gering zu schätzen. Als der Interessenkonflikt zwischen Bourbons und leidender Landbevölkerung aufbrach, verfing – zumindest für einen historischen Augenblick – die alte Angstparole der herrschenden Demokraten nicht mehr. Entgegen der auf Ausschaltung der seit 1865 wahlberechtigten, ehedem teilweise von Seiten der republikanischen radicals manipulierten people of color zielenden Propaganda des demokratischen Parteiapparates, fochten die Anhänger des agrarischen Protests – zunächst noch innerhalb der Monopolpartei, ab 1890 –, allen voran Tom Watson aus Georgia, als Protagonisten der ›People's Party‹ für das schwarze Wahlrecht. In ihren Proklamationen verurteilten südstaatliche Populisten die Lynchpraxis sowie das nach Ende der Militärherrschaft etablierte convict-lease-system eine Art brutale Sklaverei von Staats wegen. Es ermöglichte Geschäftspartnern des Staates per Vertrag, sich wegen geringfügiger oder erfundener Delikte zu langjähriger Zwangsarbeit Verurteilte – hauptsächlich Schwarze – als Arbeitskräfte ›auszuleihen‹. (Woodward II, 257; Buckhout, Part I).

V. The People's Party

All die genannten Faktoren und Bestrebungen – die hauptsächlich agrarischen, aber auch industriellen Nöte sowie die verzweifelte Hoffnung auf Besserung – mündeten Anfang der 1890er Jahre in der Gründung der ›People's Party‹. Der Schauplatz war Omaha, eine 1854 am Westufer des Missouri gegründete Stadt im Präriestaat Nebraska, anno 1892 ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und ein mit Vieh- und Schlachthöfen (stockyards) ausgestattetes Landwirtschaftszentrum in der Region der ›Middle Border‹. Anfang Juli 1892 versammelten sich zwischen 1300 und 1400 Delegierte aus fast allen Staaten der USA in Omaha, um als ›People's Party‹ –als dritte Partei neben den Republikanern und Demokraten – für die Präsidentschaftswahlen im Herbst eigene Kandidaten zu küren.

Vorausgegangen war – nach mehreren Anläufen – im Mai 1891 ein ›National Union Convent‹ in Cincinnati, Ohio, wo sich Vertreter aus dreiunddreißig Staaten und Territorien, die Hälfte davon aus Kansas und Ohio, zusammengefunden hatten. Die Mehrheit der Teilnehmer repräsentierten die – bis dahin im Norden und Süden separat organisierten – Farmerverbände (Farmers' Alliances). Die meisten kamen aus dem Norden und Mittelwesten, nur wenige aus den Südstaaten. Als Wortführer traten James B. Weaver (1833-1912) aus Iowa und Ignatius Donnelly aus Minnesota auf. Weaver, als frommer Methodist (und Prohibitionist) ehedem Vorkämpfer der Antisklavereibewegung, nach Ende des Bürgerkriegs noch zum General befördert, war als Vertreter der ›Greenback Party‹ mehrmals in den Kongress in Washington gewählt worden. Der wortgewaltige Donnelly (1831-1901) hatte eine Karriere als Landspekulant, Stadtgründer von Nininger, Minn. (benannt nach seinem Kompagnon), Bankrotteur, als ›Greenbacker‹ und als mehrmaliger Staatssenator, auf Bundesebene indes durch Wahlbetrug gescheiterter Politiker, hinter sich. Einen Namen gemacht hatte sich der Ex-Katholik auch als Autor fragwürdiger Werke wie Atlantis: The Antidiluvian World und Ragnarok sowie mit der These, die Werke Shakespeares stammten eigentlich von Francis Bacon. All das mochte Donnelly, den ›Weisen von Nininger‹ (the Sage of Nininger), nicht erst späterhin als ›crank‹, als Spinner, qualifizieren.

Zu den – meist ohne Mandat angereisten – Delegierten gehörten außer einigen ›Greenbackers‹ Anhänger des Utopisten Edward Bellamy (Looking Backward. Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887; 1888), die sich den Namen ›Nationalists‹ zugelegt hatten, sowie sogenannte ›Single-Taxers‹, d.h. Adepten des zuweilen dem Sozialismus zugerechneten Reformers Henry George (Progress and Poverty, 1879), der mit einer Einheitssteuer auf Grundbesitz die neuen Übel des Industriezeitalters beseitigen wollte. (Hicks, 211ff.)

Die Gründung der Partei wurde auf das kommende Jahr der Präsidentschaftswahlen verschoben. Nichtsdestoweniger proklamierte bereits Mitte Dezember 1891 Thomas E. Watson, als feuriger Rechtsanwalt (lawyer) in Georgia zu lokalem und als Kongressabgeordneter in Washington zu nationalem Ruhm gelangt – er hatte die Postzustellung auch in entlegene Regionen durchgesetzt –, die Gründung der neuen Partei. In seiner in Atlanta erscheinenden Zeitung People's Party Paper schrieb er, auf einem Treffen von Kongressabgeordneten habe man die Loslösung von den bestehenden Parteien vereinbart und damit ›den ersten distinktiven politischen Körper bekannt als die Pople's party‹ (»the first distinctive political body known as the People's party«) gebildet. (Zit. ibid., 222). Tom Watsons Mitstreiter in Washington war zu jener Zeit der aus Kanada stammende Viehzüchter Jeremiah (›Sockless Jerry‹) Simpson aus Kansas, wo bereits seit 1890 eine Partei dieses Namens existierte. Diese firmierte auch unter dem Synonym ›Populist Party‹. Laut John W. Breidenthal, einem Protagonisten der Partei in Kansas, verdankte sie diesen Namen dem Einfall eines für ein Parteienbündnis umworbenen Demokraten namens Overmyer. Dieser kramte in seinen Lateinkenntnissen und erfand das zur Ridikülisierung (›Pops‹) geeignete Adjektivnomen. (Ibid., 222; 238, Fn.1.)

Den Parteitag der neuen People's Party in Omaha hatte man auf den 4. Juli angesetzt, den Tag der Unabhängigkeitserklärung. Als erstes wurde unter großem Spektakel das Parteiprogramm verabschiedet. Die Präambel der Plattform stammte von Donnelly, der sie im Wortlaut bereits für eine ähnliche Versammlung ein paar Monate zuvor in St. Louis verfasst hatte. Darin heißt es: »We have witnessed for more than a quarter of a century the struggles of the two great political parties for power and plunder, while grievous wrongs have been inflicted upon the suffering people. We charge that the controlling influences dominating both these parties have permitted the existing dreadful conditions to develop without any serious efforts to prevent or restrain them. Neither do they promise us any substantial reform. They have agreed together to ignore in the coming campaign every issue but one. They propose to drown the outcries of a plundered people with the uproar of a sham battle over the tariff, so that capitalists, corporations, national banks, rings, trusts, watershed stock, the demonetization of silver, and the oppressions of the usurers may all be lost sight of. They propose to sacrifice our homes, lives and children on the altar of mammon; to destroy the multitude in order to secure corruption funds from the millionaires.« (Ibid., 440f.)

Die Wahlplattform von Omaha enthielt das meiste von dem, was in der Protestbewegung bereits zuvor in diversen Forderungen (demands) und Programmen proklamiert worden war. Dazu gehörte an erster Stelle ein ›gesundes und flexibles‹ Währungssystem, ein neues, von den Banken unabhängiges Kreditsystem »as set forth in the sub-treasury plan of the Farmers' Alliance, or a better system«, die unbegrenzte Ausgabe von Silbermünzen im Verhältnis zum Goldwert von 16:1. Man forderte eine progressive Einkommenssteuer, die Begrenzung und ›ehrliche‹ Verwaltung der Staatsausgaben, die Einrichtung von staatlichen Postbanken sowie – »like the post-office system« – die Errichtung eines staatlichen Telegraphen- und Telefonnetzes. Die anderen Hauptforderungen zielten auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen, das Verbot von ›fremdem Landbesitz‹ (alien ownership of land) – gemeint waren englische Landspekulanten –, sowie auf die Rückgabe des ehedem von der Bundesregierung den Eisenbahnen ›und anderen Unternehmen‹ (and other corporations) übereigneten Landbesitzes und der Bereitstellung dieses Landes ›nur für echte Siedler‹ (for actual settlers only).

Unter den spezifischen Beschlüssen (resolutions) stand obenan die Forderung nach freien, unbehinderten und geheimen Wahlen nach dem ›unverfälschten australischen System‹ (the adoption of the unperverted Australian or secret ballot system). Sodann erklärte die Plattform die Sympathie der People's Party für die ihnen verbündeten Knights of Labor sowie Forderungen nach kürzeren Arbeitsstunden samt Einwanderungsbeschränkung zugunsten der einheimischen Lohnarbeiter. Hervorzuheben sind schließlich die ›populistischen‹ Empfehlungen zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid (the legislative system known as the initiative and referendum), die Begrenzung der präsidialen Amtszeit auf eine Wahlperiode und die erwähnte Direktwahl der Senatoren. (Omaha Platform, in: Hicks, 439-444)

Zu ihrem Präsidentschaftskandidaten kürten die ›Populists‹ Weaver, zu seinem running-mate als Vizepräsident den früheren Attorney General und südstaatlichen Bürgerkriegsveteranen James G. Field aus Virginia. Auf seiner Wahlkampagne zog Weaver begleitet von seiner Frau und von Mary Lease, »the best-known orator of the Populist era« (Woestman), durch die Lande.

Geboren als Tochter dem Elend entkommener irischer Einwanderer, hatte Mary Lease (1850-1933) im Bürgerkrieg ihren Vater und zwei Brüder verloren, wofür sie die Demokraten als Urheber des Krieges verantwortlich machte. Mit 20 Jahren war sie als Schullehrerin nach Kansas gekommen. Im Gefolge der Bankenkrise von 1873 ging die Farm, die sie mit ihrem Mann, einem Apothekergehilfen, bewirtschaftete, verloren. Die Familie zog nach Texas, wo Mary Lease, Mutter von fünf Kindern, unter mühseligen Umständen sich juristische Kenntnisse aneignete. Zurückgekehrt nach Kansas begründete sie, zugelassen als Rechtsanwältin, ihre politische Karriere als Aktivistin der WCTU (Woman´s Christian Temperance Union), als Vorkämpferin des Frauenwahlrechts sowie als Kämpferin gegen jede Art von Unrecht. 1888 trat sie als Mitgründerin der Union Labor Party hervor, sodann anno 1890 als Protagonistin der maßgeblich von der Farmers' Alliance gebildeten People's Party. In einem ihrer populistischen Kernsätze verkündete sie, alsbald bekannt als ›the People's Joan of Arc‹ (die Heilige Johanna des Volkes: »Wall Street owns the country. It is no longer a government of the people, by the people, and for the people, but a government of Wall Street, by Wall Street, and for Wall Street.« (Zit. in: Woestman; s.a.: https://www.kshs.org/kansapedia/mary-elizabeth-lease/12128). Außer Tiraden gegen Wall Street gehörten Ausfälle gegen das Weltfinanzzentrum in London »and the Jews of Europe« zur populistischen Rhetorik. (Hofstadter, 77-80)

In den Präsidentschaftswahlen siegte Grover Cleveland aus New York über den republikanischen Amtsinhaber Benjamin Harrison. Der strikte Silberwährungsgegner hatte als erster nach dem Bürgerkrieg ins Weiße Haus gelangter Demokrat bereits eine frühere Amtsperiode 1885-1889 hinter sich. An dritter Stelle landete Weaver, der nur in Kansas, Colorado, Idaho und Nevada alle Wahlmännerstimmen sowie je eine Stimme in Oregon und North Dakota gewann. Das Wahlergebnis gibt Aufschluss über die damalige demographische und politische Landschaft der USA (vor der nächsten großen Einwanderungswelle nach der Jahrhundertwende): Mit 277 Wahlmännerstimmen – davon alle aus den demokratischen Südstaaten sowie aus einigen Staaten im Norden und Mittelwesten – gegenüber Harrison mit 145 und Weaver mit nur 22 Wahlmännern war Clevelands Sieg eindeutig. In absoluten Zahlen erhielt der Demokrat Cleveland 5 554 617 Wählerstimmen (= 46,0 Prozent), der Republikaner Harrison 5 186 783 (= 43,0 Prozent), Weaver erzielte mit 1 019 357 Stimmen (= 8,5 Prozent) einen Achtungserfolg. (http://www.presidency.ucsb.edu/showelection.php?year=1892)

Weavers Niederlage im Süden hatte fraglos auch mit seiner Vergangenheit als ›Yankee general‹ im Bürgerkrieg zu tun, gegen den die den Parteiapparat der Demokraten kontrollierenden Bourbons Ressentiments mobilisieren konnten. Zu den üblichen Wahltechniken gehörten überdies die Bestechung und Einschüchterung der noch wahlberechtigten schwarzen Wähler, von Alkohol befeuerte Gewalttaten, Erpressung durch Kreditverweigerung und angedrohte Zwangsvollstreckungen, last but not least schlichte Wahlfälschungen. Inwieweit die People's Party auch der Auftritt von Mary Lease in den Südstaaten 1892 Stimmen kostete, ist unklar. Ohne Frage war das schwache Abschneiden der ›Populists‹ in der Region jedoch auch dem unglücklichen Zufall geschuldet, dass der ursprünglich als aussichtsreicher Kandidat vorgesehene Leonidas L. Polk aus North Carolina, einst – unionistisch gesinnter – Sklavenbesitzer und Bürgerkriegsveteran, seit 1889 Präsident der Southern Farmers' Alliance, drei Wochen vor dem Kongress in Omaha mit 55 Jahren plötzlich gestorben war.

VI. Der Niedergang der People's Party

Bereits knapp zwei Jahre nach ihrem spektakulären Auftritt auf der nationalen Bühne spielte die Populist Party, die als ›dritte Partei‹ die Machtzuteilung der beiden großen Parteien in Frage gestellt hatte, nur noch eine mindere Rolle. Nicht unwesentlich waren Streitigkeiten an der Spitze der Bewegung über das Verhältnis zur Arbeiterbewegung – einen ersten Höhepunkt markierte der im Sommer 1894 blutig niedergeschlagene Pullman-Streik – und zu Exponenten des Sozialismus. Der sozialdemokratisch orientierte Journalist Henry Demarest Lloyd, ehedem Verteidiger der nach dem Chicagoer ›Haymarket Riot‹ von 1886 als ›Rädelsführer‹ angeklagten Anarchisten, setzte als Kandidat der People's Party für den Kongress vergebliche Hoffnungen in ein Bündnis zwischen Populisten und Sozialisten. In Herman Taubeneck aus Illinois, der formell den Vorsitz der People's Party führte, aber auf ein Bündnis mit den Silber-Demokraten zielte, fand er einen jeglichem ›Sozialismus‹ abholden Gegner. (Hofstadter, 105; Goodwyn, 241) Hinzu kamen von Anfang an persönliche Dispute. Unmittelbar nach den enttäuschenden Wahlen von 1892 kam es in der National Farmers' Alliance zu einem Führungsstreit zwischen Macune und dem Zeitungsherausgeber Henry Loucks aus North Dakota. (Buckhout, Part II). Mary Lease trennte sich nach einem Streit mit Lorenzo Lewelling, dem sie ein paar Jahre zuvor ins Gouverneursamt von Kansas verholfen hatte, von den dortigen Populists, ging nach New York und kämpfte 1896 in Joseph Pulitzers (demokratischer) Zeitung New York World gegen ein Bündnis mit dem Demokraten William Jennings Bryan.

Zur frühen Schwächung der stets finanzschwachen Populisten führte – abgesehen von Wahlfälschungen während der Zwischenwahlen 1894 – der Streit über ihr Verhältnis zu den großen Parteien. Im Süden fochten Männer wie Watson, die soeben mit den Demokraten gebrochen hatten, gegen jegliche Art von Fusion, im Westen sah man die politischen Chancen anders. Eng verquickt mit der strittigen Bündnisfrage – wenn nicht der Hauptgrund für die frühen Spaltungstendenzen der ›Populists‹ – war der Umstand, dass in beiden Parteien Anhänger einer Flexibilisierung der Währung zu finden waren.

Durch den Sherman Silver Purchase Act von 1890, der den Ankauf von Silber im Wert von 4,5 Millionen Dollar pro Monat durch die U.S.Treasury und die Ausgabe von Papiergeld vorsah, war es vorübergehend zu einer Minderung des Schuldendrucks gekommen. Indes mündete die durch den Silberankauf ausgelöste inflationäre Tendenz drei Jahre in die Panic of 1893, die eine der bislang größten Wirtschaftskrisen nach sich zog. Als sich die Krise ankündigte, widerrief Präsident Cleveland bei seinem Amtsantritt diese Maßnahme. Erneut erhob sich der Protest aller Anhänger einer weichen Währungspolitik.

In dieser Phase, vor den Wahlen von 1896, schlossen sich die bereits geschwächten Populisten mehrheitlich den Demokraten an. Auf deren Parteikonvent in Chicago kam es zu einem rauschenden Sieg der ›silverites‹, als am 9. Juli 1896 der junge Rechtsanwalt William Jennings Bryan (1860-1925), Kongressabgeordneter aus Nebraska, auftrat. Mit religiöser Inbrunst und Gestik beschloss der fromme Presbyterianer und Teetotaller seine Rede mit den Worten: »Having behind us the producing masses of this nation and the world, supported by the commercial interests, the laboring interests, and the toilers everywhere, we will answer their demand for a gold standard by saying to them: You shall not press down upon the brow of labor this crown of thorns; you shall not crucify mankind upon a cross of gold.« (https://en.wikipedia.org/wiki/Cross_of_Gold_speech) Zum Präsidentschaftskandidaten gekürt, variierte Bryan die Rede in Kurzform auf Hunderten von Stationen seiner im Zug unternommenen Wahlreisen.

Bryans Kampagne litt an einem Geburtsfehler. Zu seinem Mitbewerber für das Amt des Vizepräsidenten hatte er den Bankier Arthur Sewall aus Maine bestimmt. Auf anderen Wahlzetteln stand jedoch neben Bryan der von seinen südstaatlichen Anhängern als Vizepräsident nominierte Tom Watson. Die Populisten waren faktisch gespalten, nur ein Teil, unter ihnen James Weaver sowie Herman Taubeneck, engagierte sich für Bryan. Immerhin wurde dieser auch von Eugene V. Debs – nach außen hin noch Populist, seinen im Gefängnis gereiften Überzeugungen nach bereits Sozialist – unterstützt. Bryan verlor die Wahl – es war seine erste von drei als Präsidentschaftskandidat der Demokraten – gegen den Republikaner William McKinley. Watson, der sich auf seiner Wahlreise für Bryan eingesetzt hatte, gewann nur 217 000 Stimmen, weniger als ein Viertel der populistischen Wähler vier Jahre zuvor.

Henry Demarest Lloyd beschrieb, die Niederlage Bryans vorhersehend, den Zustand der Partei vor den Wahlen: »The People's party is a fortuitous collection of the dissatisfied. If it had been organised around a clearcut principle, of which its practical proposals were merely external expressions, it could never have been seduced into fusion, nor induced even to consider the nomination of a man like Bryan who rejects its bottom doctrine. Such a party will have to be built up by conscious effort or evolved by the sharp pressure of events.« (Zit. in: Russell, 263f.)

Maßgeblich für den raschen Niedergang der ›Populists‹ waren – neben dem Fehlen einer geschlossenen Führung – verschiedene Faktoren. Entscheidend dürfte der wirtschaftliche Aufschwung in den späten 1890er Jahren gewesen sein. Er ließ unterschiedliche Interessen im Westen, wo die Farmer jetzt dank guter Ernten, Bevölkerungswachstum und harter Währung – dank des Goldrauschs in Alaska in wieder reichlicher fließendem Gold – prosperierten, und im Süden hervortreten. Dort hielt die Misere an, doch gelang den Demokraten im Zeichen gesetzlich verfestigter Rassendiskriminierung (berüchtigt als ›Jim Crow‹-Gesetze) sowie des manipulativen Ausschlusses der Afro-Amerikaner von den Wahlen (disfranchisement) die Festigung ihres Partei- und Machtmonopols.

Als weiteres Moment für das rasche Abflauen der populistischen Revolte gilt der patriotische Aufschwung durch den gegen Spanien inszenierten Krieg von 1898, der andere politische Emotionen absorbierte. Nicht zuletzt war das Aufkommen des Progressive Movement, einer parteiübergreifenden ›modernen‹ Reformbewegung mit hohem moralischen Anspruch im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, verantwortlich für das Verblassen des Populismus. Die Progressives nahmen nicht nur politische Forderungen der Populists nach direkter Demokratie auf, sondern widmeten sich in den urbanen Zentren den sozialen Herausforderungen des Industriezeitalters. Die Wähler im Norden, Nordwesten und in den Präriestaaten kehrten zu ihren alten Parteiloyalitäten zurück. Eine späte Ausnahme bildete die 1924 in Minnesota gegründete Farmer and Labor Party, in der – teilweise sozialistisch akzentuiert – die Interessen von Farmern und Industriearbeitern zu einer eigenständigen – ›linkspopulistischen‹ – Kraft zusammenflossen.

VII. Biographien

Der Zerfall der People's Party ist an den Biographien ihrer Protagonisten abzulesen. Macune, der als Democrat 1892 nur widerwillig die Populisten unterstützt hatte, zog sich von der Bewegung zurück. Er beendete seine Tätigkeit als Zeitungsherausgeber in Washington und ging als Rechtsanwalt und Arzt zurück nach Texas. Den Rest seines Lebens wirkte er als methodistischer Pastor, kurzzeitig als Missionar in Mexiko. Mary Lease betätigte sich als Autorin – 1895 verkündete sie ein politisches Heilsprogramm unter dem Buchtitel The Problem of Civilization Solved – und Pädagogin in New York. Die einstige Katholikin, geschieden, jetzt Anhängerin der Christian Science, focht – seit 1900 wieder als Republikanerin – für Frauenrechte, Geburtenkontrolle, Alkoholverbot und Gerechtigkeit. In den Wahlen von 1912 unterstützte sie – nach dessen Abspaltung der Progressives von den Republikanern – Theodore Roosevelt, der während seiner langen Amtszeiten (1901-1908) alle ihre progressiven Ziele verwirklicht habe. (Hicks, 421; Woestman)

Ignatius Donnelly, anno 1896 Gegner der Allianz mit Demokraten, fungierte 1900, ein Jahr vor seinem Tod, noch als Vizepräsidentschaftskandidat der dahingeschmolzenen Partei gegen die siegreichen Republikaner mit McKinley und die Demokraten mit Bryan an der Spitze. Die Populists gewannen gerade mal 50 000 Stimmen, ein Viertel der Prohibitionisten und deutlich weniger als der Sozialist Eugene V. Debs mit 86 000 Stimmen. Immerhin entsandten sie aus Idaho und Montana noch drei Kongressabgeordnete nach Washington.

Die hoffnungsvollen Anfänge des Populismus spiegeln sich in der Biographie von John B. Rayner (1850-1918), eines Vorkämpfers des Populismus in Texas. (https://www.ncpedia.org/biography/rayner-john-baptis) Rayner war der Sohn eines weißen Plantagenbesitzers in North Carolina und einer schwarzen Sklavin. Dank guter Schulbildung, die ihm sein Vater angedeihen ließ, wirkte er zunächst als Schullehrer, sodann als Mitglied der Republikanischen Partei während der reconstruction in mehreren öffentlichen Ämtern, unter anderem als Sheriff. In den 1890er Jahren gehörte er zum Führungspersonal der People's Party in Texas und war »the most famous black orator in all of Populism«. Für sein Engagement bezahlte er mit Schüssen aus dem Hinterhalt und körperlichen Attacken. Nach dem Zusammenbruch der ›dritten Partei‹ und der Festigung der weißen Vorherrschaft im Süden sah er sich genötigt, innerhalb der Kastenordnung Bildungsarbeit unter der schwarzen Landbevölkerung zu betreiben. In späteren Jahren rekrutierte er mexikanische Arbeitskräfte für einen texanischen Holzmillionär. Vor seinem Lebensende zog er ein bitteres Resümee: »The South loves the Democratic Party more than it does God.« Der Historiker Lawrence Goodwyn fügt den Satz dazu: »However, it was not just the Democratic Party, it was the culture istself.« (Goodwyn, 328f.)

Das historische Negativbild des Populismus tritt schließlich hinter der Figur des agrarian rebel – Titel der Biographie von C. Vann Woodward – Tom Watson hervor. Sein populistisches Bekenntnis verkündete er 1894 im Titelkopf seiner Zeitung: »[It] is now and will ever be a fearless advocate of the Jeffersonian Theory of Popular Government, and will oppose to the bitter end the Hamiltonian Doctrines of Class Rule, Moneyed Aristocracy, National Banks, High Tariffs, Standing Armies and formidable Navies — all of which go together as a system of oppressing the people.« (Zit. in: https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_E._Watson) Sohn eines Sklavenbesitzers, als lawyer begabt mit hitzigem Temperament und Redekunst, kämpfte Watson in den Jahren, als die herrschenden Demokraten die Entrechtung der schwarzen Bevölkerung vorantrieben, für schwarzes Wahlrecht, gegen Lynchmorde und offenen Rassenhass. In seinen frühen Kampagnen für die ›People's Party‹ trat er vor gemischtem Publikum zusammen mit schwarzen Kandidaten auf. Er proklamierte, »the accident of color can make no difference in the interests of farmers, croppers, and laborers«. (Zit. in: Woodward I, 221)

Eine Zeitlang zog Watson sich aus der Tagespolitik zurück, um sich der Abfassung popularhistorischer Bücher zu widmen. In seinem zweibändigen Werk The Story of France (1899) – ein Publikumserfolg – trat er als leidenschaftlicher Advokat republikanischer Prinzipien und radikaldemokratischer Verteidiger der Jakobiner hervor. In einer Napoleon-Biographie (1902) überwiegt dann Bewunderung gegenüber seiner früheren Abscheu gegenüber dem Usurpator und Verächter des republikanischen Ideals. (Ibid., 336-342)

Bei den Präsidentschaftswahlen 1904 und 1908 begegnen wir Watson zweimal als aussichtslosem Kandidaten der Populisten, gestützt auf eine schwindende Anhängerschaft selbst im Süden. Seit langem ein vehementer Gegner der Katholiken, polemisierte er jetzt gegen Einwanderung. Mehr noch: Hinsichtlich der Rechte der Schwarzen hatte er seine Position radikal gewechselt. Die Erklärung dieser volte face liegt zum einen darin, dass Watson – wie den meisten seiner weißen Zeitgenossen –die Vorstellung völliger Gleichheit der Rassen stets fern lag, zum anderen in der politischen Landschaft seines Südstaates Georgia. Unterlagen die noch wahlberechtigen Schwarzen im black belt vielfach den von Gewalt begleiteten Manipulationen der demokratischen Parteimaschine, so bildeten die in den Hügelregionen beheimateten Weißen die Basis des Populismus.

Watson trat ab 1904 offen mit rassistischen Parolen als white suprematist hervor und forcierte – in Kampfgemeinschaft mit seinem späteren Rivalen Hoke Smith – den Ausschluss der Schwarzen von den politisch allein entscheidenden primaries der Demokraten. (Ibid., 372-380, 402) Was Watsons Wirken in dieser neuen Rolle betrifft, so bezeichnete ihn rückblickend Ralph McGill, Herausgeber der Atlanta Constitution anno 1959 – am Vorabend der Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre –, als einen der vier gefährlichsten Rassisten in der Geschichte des Südens. (Buckhout, Part III)

Den moralischen Tiefpunkt seiner Karriere erreichte Watson, inzwischen Protagonist südstaatlicher ›Traditionen‹ einschließlich des lynching, 1913/14 in der Affäre um den Lynchmord an Leo Frank. Der jüdische Fabrikantensohn war der Vergewaltigung und Ermordung eines vierzehnjährigen Arbeitermädchens bezichtigt und – gemäß weit verbreiteter antisemitischer Sentiments – von der Jury schuldig für befunden, zum Tode verurteilt worden. Das Urteil stieß allgemein auf Empörung. Als der in jenen Jahren zu seinem Intimfeind erkorene Hoke Smith, zuvor zweimal Gouverneur von Georgia, jetzt Senator in Washington, einen neuen Prozess forderte, tat sich Watson, bis dato noch nicht als Antisemit bekannt, in seiner Zeitschrift Jeffersonian mit wüster Polemik hervor. Seine Tiraden gegen den Kapitalisten Frank und die ›reichen Juden‹ im Norden inspirierten einen Mob, der in das Gefängnis eindrang und Leo Frank ermordete. Watson verteidigte den Lynchmord als »the trimph of law in Georgia. Womanhood is made safer, everywhere.« (Zit. in: Woodward I, 445)

Nach Ausbruch des I. Weltkriegs trat Watson – er hatte anders als viele seiner einstigen Mitstreiter den Krieg der USA gegen Spanien 1898 abgelehnt – als Gegner eines Eintritts der USA in den Krieg der ›Imperialisten‹ hervor. Nach Kriegsende setzte er sich – nach eigenen Worten ›durch und durch ein Staatssozialist‹, hinsichtlich seiner Ablehnung der Rechte von Frauen und Schwarzen indes alles andere als ein Sozialist – für den wegen seiner offensiv pazifistischen Haltung als ›Aufwiegler‹ verurteilten Debs ein. (Ibid., 407f., 463). 1920 noch einmal – als Demokrat – in den amerikanischen Senat gewählt, opponierte er gegen den Versailler Vertrag, gegen den Völkerbund und gegen die amerikanische Intervention in Sowjetrussland. Mit seinen höchst eigenen historischen Kenntnissen der Französischen Revolution wies er einen Kollegen zurück, der den terroristischen Extremismus der Bolschewiki beklagt hatte. (Ibid., 464, 477f.)

Ärztlichen Rat missachtend starb Watson – er hatte sich noch zuletzt im Kongress für streikende Bergarbeiter in Pennsylvania eingesetzt – mit 66 Jahren am 26. September 1922. In seinem Kondolenzbrief an die Witwe schrieb Eugen V. Debs: »He was a great man, a heroic soul who fought the power of evil his whole life long in the interest of the common people, and they loved and honored him.« (Zit. ibid., 486)

VIII. Rezeption und geschichtliches Erscheinungsbild

Nach dem Verschwinden der populistischen Partei von der politischen Bühne Amerikas entfaltete der Populismus als Doppelbegriff – als Bezeichnung für ein historisch singuläres Phänomen und als Begriff für politisch fortwirkende Tendenzen – politisch-semantische Wirksamkeit. Seine Widersprüchlichkeit spiegelt sich bis heute in der Geschichtsschreibung.

Bis in die 1940er Jahre hinein überwog unter amerikanischen Historikern eine insgesamt positive Wahrnehmung der Bewegung. Man zog eine Linie von Thomas Jeffersons Ideal der Demokratie über Andrew Jackson, den mit den Manieren der frontier regierenden siebten Präsidenten (1829-1837) zu den Populisten, von diesen über die Progressives bis zu den Reformen des New Deal unter Franklin D. Roosevelt. Mit großem Wohlwollen behandelte 1931, zu Beginn der Großen Depression der an der Staatsuniversität von Nebraska lehrende John D. Hicks die populistische Revolte. Die kommunistische Autorin Anne Rochester setzte anno 1943 die aus ihrer Sicht noch der Vollendung im Sozialismus bedürftigen demokratischen Impulse des Populismus – als dessen hervorragenden Erben bezeichnete sie Henry A. Wallace, 1933-1940 Roosevelts Secretary of Agriculture, jetzt sein Vizepräsident – in Parallele zu den in der Sowjetunion bereits verwirklichten sozialistischen Idealen. (Rochester, 120-124)

Zwei Jahrzehnte später rückten der Historiker Richard Hofstadter und der Politikwissenschaftler Seymour Lipset den Populismus sowie die auch in den USA lange nachwirkende Verklärung der agrarischen Welt in ein weniger freundliches Licht. Sie verwiesen auf die dunklen Flecken der Bewegung – die Rückwärtsgewandtheit, die Neigung zu Verschwörungstheorien, den Nationalismus, nicht zuletzt antisemitische Tendenzen. (Hofstadter, 60-93; Lipset, 169-173).) Tom Watson stand jetzt in einer Reihe mit den als Erben des Populismus auftretenden Southern demagogues wie Eugene Talmadge in Georgia, Theodore Bilbo in Mississippi, oder – der auf Rassenhetze immerhin verzichtende – Huey Long in Louisiana. (Key, 106, 112-118, 229-253, 156-164; Williams)

Vor dem Hintergrund der Massengesellschaft kam anno 1976 der Bürgerrechtler und Historiker Lawrence Goodwyn wieder zu einem von Sympathie getragenen Urteil über »the largest democratic mass movement in American history«. (Goodwyn, viii). Im Populismus des 19. Jahrhunderts sei für einen Augenblick ›das demokratische Versprechen‹ zum Vorschein gekommen. »It was a spirit of egalitarian hope, expressed in the actions of two millon beings – not in the prose of a platform, however creative, and not...even in the third party, but in a self-generated culture of collective dignity and individual longing.« Und weiter: »At root, American Populism was a demonstration of what authentic political life can be in a functioning democracy.« (Ibid., 295, 295)

Von der McCarthy-Ära bis zur Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren war das Bild des Populismus geprägt von Figuren wie dem Senator Joseph McCarthy aus Wisconsin oder dem Gouverneur George Wallace in Alabama. Auch der rabiate, verschwörungstheoretisch angereicherte Antikommunismus der rechtsradikalen John Birch Society wurde in die Tradition des Populismus eingereiht. Knapp drei Jahrzehnte später bezeichnete man die Ansichten des Texasmilliardärs Ross Perot – er brachte anno 1992 als Kandidat einer Independent Party mit 18,9 Prozent der abgegebenen Stimmen Präsident George H. Bush Sr. um die Wiederwahl und Bill Clinton ins Weiße Haus – als eine Mischung aus »East Texas populism with high-tech wizardry« ( zit. in: https://en.wikipedia.org/wiki/Ross_Perot_presidential_campaign,_1992, Aufruf 29.09.2017). Seit jenen Jahren wird allgemein die ›Religious Right‹ und insbesondere die das Parteiestablishment der Republikaner von rechts herausfordernde Tea Party Bewegung als ›populistisch‹ deklariert (Kazin, Brewer). Als vulgärer Populist gilt schließlich Donald Trump, dem es gelang, durch Mobilisierung der von Hillary Clinton als deplorables apostrophierten ›Massen‹ sich gegen die Parteistrategen der Republikaner und gegen Hillary Clinton – sie entstammt ursprünglich einer wohlhabenden, republikanisch-konservativen Familie in Chicago – als Exponentin der tonangebenden liberals bei den Demokraten durchzusetzen. Von den Anhängern Hillary Clintons wurde umgekehrt deren Konkurrent Bernie Sanders, dem Selbstverständnis nach ein ›democratic socialist‹, als linker Populist abqualifiziert.

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›Populismus‹, populism, gilt selbst in den USA, dem Geburtsort des populist movement, im politischen Lexikon als ›dirty word‹. Im Hinblick auf die Sakrosanz des Begriffs ›Demokratie‹ erscheint indes hinter der – historisch teilweise verständlichen – Abwertung des ›Populismus‹ die Antithese im Begriff selbst: der Widerspruch von legitimer, anerkannter – der demokratischen Theorie nach ›von unten‹ übertragener – Herrschaft einerseits, der Gefahr des Legitimationsverlusts etablierter Herrschaft seitens des ›souveränen Volkes‹ andererseits. Die Ironie des Begriffs – und der populistischen Bewegung – liegt in dem Faktum, dass die Verfassung der in einem revolutionären Akt begründeten USA, beschlossen in Philadelphia von einem Konvent aus 55 Delegierten, in der Präambel mit den Worten ›We, the people‹ anhebt.

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