Die Formulierung des Themas bedeutet nicht, die theologisch-kirchengeschichtliche Dimension auszuklammern – das wäre widersinnig –, sondern den Blick zu erweitern und teilweise zu verändern. Für die Zeit des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind Religion und Gesellschaft, Religion und Politik überhaupt nicht zu trennen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein konnten soziale und politische Bestrebungen gar nicht anders als religiös formuliert werden, ebenso die künstlerischen Ausdrucksformen; und die Alltagskultur war mit der Kirche engstens verbunden, ja dadurch geprägt. Dieses gilt für die nachreformatorische Zeit ebenso wie für die vielen Jahrhunderte der kirchlich-religiösen Einheit des lateinischen, also die orthodoxen Ostkirchen ausschließenden Europa. Für den einzelnen Menschen entscheidend war der Pfarrzwang, die unveränderliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Pfarrei, und die Strukturierung des Lebens durch die sieben Sakramente Taufe, Firmung, Ehe, Abendmahl, Buße, ggf. Priesterweihe und Letzte Ölung.
Das Jenseits, Himmel und Hölle samt vorgelagertem Fegefeuer, war für die Menschen so real wie die Gegenwart. Und da der Tod allgegenwärtig war – statistische Lebenserwartung um die Dreißig, insbesondere wegen der enorm hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit, wetterbedingte Hungersnöte und Epidemien, so die Pest seit dem mittleren 14. Jahrhundert, die rund ein Drittel der Bevölkerung des Kontinents dahingerafft hatte – spielte die Furcht davor, was den Sünder danach erwartete bzw. die Suche nach Heil eine so große Rolle. Dazu kam die weit verbreitete und auch von Martin Luther geteilte apokalyptische Vorstellung, man stünde vor dem Ende der Zeit, genährt auch von dem als mörderische Chaosmacht und Strafe Gottes wahrgenommenen Osmanischen Reich, das seit der Eroberung Konstantinopels 1453 immer weiter Richtung Mitteleuropa vordrang.
Weltliche und kirchliche Obrigkeit waren zwar funktional voneinander getrennt, der Papst das lange unbestrittene Oberhaupt der Christenheit, Chef einer überstaatlichen, universalen, Seelenheil spendenden Institution, doch waren auch die weltlichen Herrscher darauf verpflichtet, Kirche und Religion zu schützen und zu fördern, insbesondere die Kaiser des nicht ohne Grund so genannten »Heiligen Römischen Reichs«, erst seit dem 15. Jahrhundert mit dem Zusatz ›deutscher Nation‹. Der Kaisertitel beinhaltete den universalen Anspruch eines Schutzherrn der gesamten Christenheit, ein Anspruch, der indessen im Lauf der Jahrhunderte immer fragwürdiger wurde.
Anders als Spanien, Frankreich und England, wo sich seit dem Hochmittelalter Ansätze einer zentralstaatlichen Monarchie herausbildeten (und dabei entstand eine relativ eigenständige Stellung gegenüber dem Papst), war das römisch-deutsche oder ›Alte Reich‹ ein kompliziertes lehnsrechtliches Gebilde, wo der Kaiser zugunsten der insbesondere größeren Fürstentümer tendenziell immer weiter an Macht einbüßte. Unmittelbar herrschte er nur über die jeweiligen Gebiete seiner Hausmacht, seit 1438 die dann hauptsächlich durch eine geschickte Heiratspolitik, enorm ausgeweiteten habsburgischen Lande. Sie kennen vielleicht den Karl V. zugeschriebenen Spruch: ›In meinem Reich geht die Sonne nicht unter.‹ In seiner Regierungszeit von 1519 bis 1556 gehörten zum Besitz der Habsburger nicht nur das heutige Österreich, Tschechien, die Slowakei und Slowenien, große Teile Ungarns und Kroatiens sowie Südwestdeutschlands, die Niederlande, Belgien sowie ein breiter Streifen des westlichen Frankreich, sondern auch das Königreich Spanien samt Süditalien mit dem gleichzeitig zur Reformation eroberten Lateinamerika und den Philippinen.
Die 1520er und 30er Jahre wurden machtpolitisch bestimmt durch den immer wieder ausbrechenden militärischen Konflikt zwischen Kaiser Karl V. und dem französischen König Franz I., in dem es hauptsächlich um das burgundische Erbe und um die Vorherrschaft in Oberitalien ging. Der Papst verfügte mit dem Kirchenstaat, damals den größeren Teil Mittelitaliens umfassend, über ein eigenes Territorium, wo er als weltlicher Monarch regierte und sich mit seinen Söldnertruppen nicht selten an den kriegerischen Händeln beteiligte. Die langjährige Abwesenheit Karls V. von Deutschland, während der sein Bruder Ferdinand zum König von Böhmen und Ungarn, dann auch deutschen König und Stellvertreter des Kaisers im Reich avancierte, gehört zu den die zunächst weitgehend ungehinderte Ausbreitung der Reformation begünstigenden Faktoren. Um den wechselvollen Ablauf der Kriege des 16. Jahrhunderts, in denen Seitenwechsel ständig vorkamen, zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass diese schon ganz überwiegend von Landsknechten ausgetragen wurden – sie wurden hauptsächlich in der Schweiz und zunehmend in Deutschland angeworben –, die völlig skrupellos für diese oder jene Seite in den Kampf zogen. Da den Herrschern häufig das Geld fehlte, um den versprochenen Sold zu zahlen, und die Söldner daraufhin streikten, blindlings plünderten, brandschatzten und mordeten (hauptsächlich Zivilisten), konnten militärische Erfolge oftmals nicht nachhaltig befestigt, günstige Situationen nicht voll ausgenutzt werden.
In der Verfassung des Alten Reiches lag die oberste gesetzgebende Gewalt beim Reichstag, den der Kaiser einberief und an dessen Beschlüssen er mitwirkte. Der Reichstag bestand aus der Kurie der sieben Kurfürsten; darunter waren vier Erzbischöfe, die wie die meisten Bischöfe in einem Teil ihrer Diozöse und manche Äbte zugleich weltliche Herrscher waren. Die Kurfürsten wählten nach einem in der Regel längeren Aushandlungsprozess den Kaiser. Daneben gab es die Fürstenkurie aus einer Vielzahl meist kleinerer Fürstentümer und die Kurie der reichsunmittelbaren, also nur den Kaiser über sich habenden Städte; letztere war nur mit konsultativer Stimme beteiligt. Nicht vertreten waren die Tausende reichsunmittelbarer Ritterschaften und Klöster, Bauern und städtische Unterschichten ohnehin nicht. Das Interesse der so bezeichneten Reichsstände – mit Ständeversammlungen, in denen stets der Adel dominierte, mussten sich eine Stufe darunter auch die Landesherren auseinandersetzen –, das Interesse insbesondere der größeren Fürsten des Reichs, bestand darin, das inzwischen errungene Maß an Autonomie ihrer Territorien nicht wieder einzubüßen durch eine starke kaiserliche Reichsgewalt. Darin waren sich die altgläubigen, katholischen, mit den neugläubigen, evangelisch werdenden Herrschern einig. In der ›deutschen Libertät‹ der Fürsten und Reichsstädte lag eine weitere günstige Bedingung für die Ausbreitung der Reformation bzw. ein Hindernis für deren nachhaltige Bekämpfung.
Die große Mehrzahl – je nach Region 70 bis 85 Prozent – der um 1500 etwa 16 Millionen Einwohner des Alten Reiches einschließlich Böhmens und der Niederlande (zum Vergleich: England erst 4,5 Mio.) lebte auf dem Lande, ganz überwiegend Ackerbau und Viehzucht betreibend, in relevantem Maß auch Sonderkulturen wie den Weinanbau pflegend. Über die lokalen und überlokalen Märkte waren die Städte insbesondere mit dem umliegenden Land schon recht eng verflochten. Daneben war der Fernhandel längst von mehr als gesamtwirtschaftlich marginalem Gewicht. Wir können von einer Stadtbevölkerung von insgesamt über 20 Prozent ausgehen, wobei deren Masse nicht in den nach damaligem Maßstab auch wirtschaftlich bedeutenden Großstädten wie Köln (über 40.000 Einwohner), Lübeck, Nürnberg und Augsburg lebte, sondern in der großen Zahl mittlerer und kleiner Städte mit manchmal nur einigen hundert Bewohnern. Martin Luthers Wirkungsstätte Wittenberg hatte allenfalls 2500 Einwohner. Anders als die große Mehrzahl auf dem Lande waren Stadtbewohner in der Regel persönlich frei, auch die Schicht der Dienstleute und Tagelöhner, welche aber nicht das Bürgerrecht besaß und somit politisch rechtlos war. In den Städten waren Handel und Gewerbe konzentriert – namentlich eine avancierte Metallurgie und Tuchherstellung. An der Spitze der sozialen Pyramide und vielfach der Regierung in den Städten standen patrizische Familien, Grundbesitzer und Großhändler, die immer wieder von den konkurrierenden Mitbestimmungswünschen der nichtprivilegierten Kaufleute und Zunfthandwerker herausgefordert und nicht selten aus ihren politischen Führungsstellungen vertrieben wurden, gerade in den Jahrzehnten der Reformation und damit in Zusammenhang stehend.
Die in sich stark differenzierte bäuerliche und unterbäuerliche Bevölkerung stand in verschiedenen Abhängigkeiten dinglicher und persönlicher Art, bis hin zur Leibeigenschaft im Süden und Südwesten Deutschlands und der sich gerade herausbildenden Erbuntertänigkeit im ostelbischen Bereich. An einen in der Regel adeligen Grundherrn – es konnte z.B. auch ein Kloster sein – waren nach regionalem, mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht unterschiedlich hohe Abgaben zu entrichten und Dienste zu leisten. Außerdem kamen Steuern für den Landesherrn und der kirchliche und weltliche ›Zehnt‹ in Betracht. Als Gegengewicht zur Grundherrschaft wirkte die bäuerliche Dorfgenossenschaft, deren Befugnisse seit dem 15. Jahrhundert aber von den Grundherren, welche meist auch Gerichtsherren waren, zunehmend infrage gestellt wurden.
Der in vielfacher Hinsicht privilegierte Adel, ein bis zwei Prozent der Bevölkerung, erlebte seit geraumer Zeit einen Funktionswandel. Das Ritterwesen des Mittelalters war über tiefgreifende militärische und militärtechnische Veränderungen, in erster Linie die Entwertung der gepanzerten Kavallerie durch die neuen Landsknechttruppen und die frühen Feuerwaffen, in Auflösung geraten. Gleichzeitig stellte das Vordringen meist juristisch ausgebildeter bürgerlicher Beamter im Zuge der Herausbildung geschlossener Territorialstaaten die politische Führungsrolle des, ökonomisch zunehmend kommerzialisierten, Adels infrage, worauf dieser vermehrt mit Abschließungstendenzen reagierte.
Die Gesellschaft des deutschen Mitteleuropa war im Zuge beschleunigten Bevölkerungswachstums nach dem Ende der verheerenden Epidemien des 14. und 15. Jahrhunderts und einer neuen wirtschaftlichen Dynamik seit 1470 auch sozial in Bewegung geraten. In verschiedenen Abbaugebieten zwischen dem Harz, dem westlichen Erzgebirge und Tirol/Salzburg nahm das Montanwesen einen großen Aufschwung, mit jeweils Tausenden von Arbeitskräften und wurde neben dem Fernhandel und dem Kreditgeschäft zu einem Haupterwerbszweig der frühkapitalistischen Großunternehmer, unter denen die Fugger und Welser in Augsburg an erster Stelle zu nennen sind. Es machte sich auch schon eine Tendenz zur Verlagerung von gewerblicher Produktion insbesondere von Textilien aufs Land geltend, wo sie im Auftrag städtischer Kaufleute, sog. Verleger, meist im Nebenerwerb betrieben wurde. Wir haben es im frühen und mittleren 16. Jahrhundert also keineswegs mit einer statischen Gesellschaft und einer stagnierenden Wirtschaft, sondern mit einem in Teilbereichen geradezu dramatischen, längerfristigen Wandel zu tun, der überdies mit einer sozialen Polarisierung verbunden war. Wenn über das Mittelmeer, die Nord- und die Ostsee auch noch die meisten Fernhandelsverbindungen liefen, begann sich im Zeichen der Entdeckungen (Christopher Columbus Fahrten nach Amerika, Vasco da Gamas Umschiffung Afrikas auf dem Weg nach Indien) und der folgenden europäischen Expansion doch die Verlagerung des Welthandels in den Atlantik (und damit der Aufstieg zuerst Spaniens und Portugals, dann der Niederlande und Englands) bereits abzuzeichnen; und die damit verbundene Erweiterung des Horizonts zumindest eines Großteils der Städter – rund ein Drittel der Einwohner der Reichsstädte war schon alphabetisiert –, wirkte ebenfalls mobilisierend auf die Gesellschaft und erhöhte die Aufnahmebereitschaft für Neues.
Zu den geistigen Voraussetzungen der Reformation gehörte der von der italienischen Renaissance ausgehende gesamteuropäische Humanismus. Die humanistischen Gelehrten richteten ihr Augenmerk im Rahmen eines neuen Interesses für den empfindenden Menschen auf die philosophischen, politischen, literarischen und nicht zuletzt theologischen Originaltexte der Antike – von Aristoteles bis Augustinus – und studierten diese mit philologisch und hermeneutisch geschulten Augen. Das beinhaltete die Aufwertung der an den Universitäten nur zweitrangig gelehrten Humanwissenschaften, insbesondere der alten Sprachen. Das optimistische Menschenbild der Humanisten wurde allerdings von etlichen der Reformatoren, insbesondere von Luther, nicht geteilt.
Schon deutlich vor Luthers frühen Rebellionsakten zeigten speziell die städtischen Behörden das Bestreben, die kirchlichen Einrichtungen stärker einer Aufsicht zu unterziehen und den Klerus zu entmachten. Namentlich dessen (wie des Adels) Steuerfreiheit erregte Unwillen. Der Klerus wies eine große soziale Spannbreite auf zwischen den, durchweg adeligen, oberen Hierarchieebenen und den ärmlich lebenden Dorfpfarrern. Angestrebt wurde in den Städten ein kommunales Kirchenregiment, wie es dann im Zuge der Reformation ab 1520 durchgesetzt wurde. In den wachsenden Städten entwickelte sich seit dem späten 15. Jahrhundert auch am ehesten ein stärker individualisierendes Frömmigkeitsmodell mit Konzentration auf Jesus Christus – in Absetzung von der im Spätmittelalter noch gesteigerten und zunehmend quantitativ bemessenen sog. Werksfrömmigkeit durch Messen, Wallfahrten, Reliquien- und Heiligenkult, also eine stark äußerliche Religiosität. Diese religiösen Praktiken waren vielfach sehr erfolgreich, und die gesteigerte Frömmigkeit des Spätmittelalters wird, wie die theologischen Neuansätze in einigen Orden, heute ebenso sehr zu den Voraussetzungen der Reformation gezählt wie die Empörung über die Missstände und Dekadenzerscheinungen der Papstkirche, an denen sich nicht erst seit Luthers 95 Thesen von 1517 Kritik entzündete. Die finanzielle Aussaugung Deutschlands zugunsten päpstlicher Prachtentfaltung und aufwändiger Repräsentation der höheren kirchlichen Amtsträger, wie sie schon die Gravamina, die Beschwerden, der deutschen Reichsstände des 15. Jahrhunderts anklagten, wogen objektiv wohl nicht so schwer wie vermutet; die höchst weltliche Existenz der Renaissance-Päpste und Kirchenfürsten musste aber anstößig wirken: persönlicher Reichtum und Luxusleben, Nepotismus, Pfründenwirtschaft und Ämterkauf, Missachtung des Zölibats (Innozenz VIII. hinterließ 1492 16 Kinder) und theologische Inkompetenz: Leo X. musste vor der Wahl zum Papst im Jahr 1513 noch zum Priester geweiht werden; 24 Jahre vorher, als Vierzehnjähriger, hatte man ihn schon zum Kardinal gemacht, um nur zwei krasse Beispiele zu nennen.
Das Geschehen in Rom kannte die Masse der Gläubigen allenfalls andeutungsweise. Was sie aber beobachten konnte, war ein ähnliches Verhalten etlicher Bischöfe und Äbte in ihrem Umfeld sowie das seelsorgerisch zunehmend als unzureichend empfundene Agieren schlecht ausgebildeter Ortspfarrer, die vielfach im Konkubinat lebten und auch sonst nicht unbedingt als moralische Vorbilder erschienen. Der allein dem Papst zustehende, seit dem Spätmittelalter eingeführte Plenarablass, eine pervertierte Form des ursprünglichen Ablasses, sollte nicht nur kirchliche Sündenstrafen tilgen, sondern vorgeblich die Vergebung sämtlicher Sündenschuld, dann sogar Verstorbene einschließend, bewirken. Die Ablassbriefe fanden verständlicherweise reißenden Absatz – der Preis war sozial gestaffelt –, stießen aber auch auf theologische Bedenken und wachsende Skepsis des Publikums.
Das spezifische Geschäftsmodell, das Luther mit den 95 Thesen radikal infrage stellte, hatte sich aus der Wahl Albrechts von Brandenburg, eines Bruders des brandenburgischen Kurfürsten, bereits Erzbischof von Magdeburg und Administrator von Halberstadt, zum Erzbischof von Mainz (und damit zum Kurfürsten, Primus der Kirche und Erzkanzler des Reiches) ergeben. Dafür musste viel Geld an den Papst gezahlt werden, zumal wegen der Ämterhäufung eine päpstliche Genehmigung erforderlich war, die ihrerseits nicht umsonst zu haben war. Also streckte das Handelshaus Fugger die den Mainzern versprochene Summe vor und behielt durch seine Agenten von den Ablassverkäufern gleich die Hälfte für Tilgung und Zinsen ein, bevor der Rest an die diversen Beteiligten, nicht zuletzt, aber keineswegs allein an den Papst in Rom, verteilt wurde. Dafür mussten gigantische Beträge erwirtschaftet werden. Luthers Angriff auf den Ablass traf die Papstkirche also nicht nur an einer theologisch besonders schwachen Stelle, sondern wandte sich auch gegen eine auf mehreren Ebenen höchst einträgliche finanzwirtschaftliche Unternehmung; vermutlich war ihm diese Dimension gar nicht voll bewusst. Luthers Landesvater, der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise, sein späterer Beschützer, der die Reformation in Sachsen auf territorialstaatlicher Ebene einleitete, verbot Werbung und Verkauf des Albrechtschen Ablasses übrigens zunächst vor allem deshalb, weil der seinen eigenen Ablasshandel und seine Reliquiensammlung nicht geschädigt sehen wollte.
Luthers zuerst auf Lateinisch veröffentlichte Thesen erschütterten in einem übertragenen Sinn die mittelalterliche Welt, auch wenn er anfangs keineswegs die Gründung einer eigenen Kirche im Auge hatte. Doch schon ein Jahr nach Veröffentlichung der 95 Thesen postulierte er im Gespräch bzw. in einer Disputation mit prominenten Theologen der Papstkirche die Unterordnung des Papstes unter ein Konzil, bevor er knapp zwei Jahre später die Ansicht vertrat, das nicht nur Päpste, sondern auch Konzile irren könnten. Seit 1520 bezeichnete er den Papst als ›Antichristen‹ qua Amt. Luther konnte, wie bereits angedeutet, theologisch auf manches zurückgreifen, das schon im 14. und 15. Jahrhundert gedacht worden war, so von den großen Mystikern, namentlich Johannes Tauler, und auch innerhalb des Ordens der Augustiner-Eremiten, dem er sich 1506 angeschlossen hatte und dessen Oberem Johann von Staupitz er wichtige Anstöße verdankte. Neu waren die kompromisslose Entschiedenheit, mit der Luther vorging, und die Fähigkeit, aus verschiedenen, gewissermaßen in der Luft liegenden kritischen Ansätzen ein ganz neues, dem Anspruch nach auf den Ursprung der Kirche zurückgehendes theologisches System zu bauen, wobei er sich vor allem auf die Römerbriefe des Paulus und auf den spätantiken Kirchenvater Augustinus stützte. Revolutionär war auch der Schritt aus dem Kreis der Gelehrten in die breite Öffentlichkeit, soweit man damals davon sprechen konnte. Dafür bediente er sich nicht mehr hauptsächlich des Lateinischen, der Sprache der römischen Kirche und der Gebildeten, sondern des Deutschen. Da er nicht nur Doktor und Professor für Theologie an der Wittenberger Universität war und sich eine ungewöhnlich genaue Bibelkenntnis angeeignet hatte, sondern zeitgleich als Prediger jedermann (und jeder Frau) in deutscher Sprache die Heilige Schrift auslegte, wusste er, wie er sich ausdrücken musste, um verstanden zu werden. Mit dem Höhepunkt des Jahres 1520 entwickelte er eine atemberaubende publizistische Aktivität, flankiert von Flugschriften und illustrierten Flugblättern seiner Anhänger, die selbst Analphabeten einen ersten Zugang erschlossen.
Während des zehnmonatigen geheimen Aufenthalts auf der Wartburg 1521/22 übersetzte er das Neue Testament aus dem von Erasmus von Rotterdam 1516 in der altgriechischen Originalsprache herausgegebenen Text und wurde damit auch zum genialen Erneuerer der deutschen Sprache, deren Vereinheitlichung und Veredelung (bei gleichzeitiger Verbesserung der überregionalen Verständlichkeit) wesentlich vorangetrieben wurde. Die Übersetzung des Alten Testaments, peu à peu veröffentlicht, dauerte dann bis 1534, als, ebenso philologisch akribisch, von reformatorischer Seite bereits die Züricher Bibel vorlag. Während die Bibellektüre möglichst aller Gläubigen für Luther und die anderen Reformatoren von zentraler Bedeutung war, versuchte die römische Kurie die Übersetzung und Verbreitung volkssprachlicher Bibelausgaben zu begrenzen. Es waren für sie allein die kirchlichen Amtsträger und letztlich der Papst selbst, die befugt waren, die Bibel verbindlich auszulegen – das übrigens auf der Grundlage einer in vielen Fällen als ungenau und sogar fehlerhaft erkannten lateinischen Übersetzung, der sog. Vulgata.
Luther und andere Reformatoren stellten das gesprochene und geschriebene Wort ins Zentrum. Luther wurde zum meistgelesenen Autor und überdies zu demjenigen, von dem die meisten bildlichen Darstellungen unter die Menschen kamen. (Weitere Kommunikationswege waren Briefkontakte – alle großen Reformatoren führten eine rege, teilweise europaweite Korrespondenz – , über wandernde Bettelmönche, Kaufleute und Studenten.) Ohne die um die Mitte des 15. Jahrhunderts erfundene Drucktechnik mit beweglichen Lettern ist die schnelle Ausbreitung der Reformation nicht vorstellbar. Von Luthers Neuem Testament erschienen bis 1533 85 Auflagen. Der manufakturelle Buchdruck diente nicht nur der Ausbreitung der Reformation, die Reformation erwies sich auch umgekehrt als expansiver und beschleunigender Faktor des Druckwesens, nicht zuletzt in Wittenberg. Luther verfolgte eine durchdachte, taktisch geschickte Publikationsstrategie. Jede seiner Schriften diente einem bestimmten Zweck, richtete sich manchmal an eine bestimmte Leserschaft, z.B. an Kleriker, an die Obrigkeiten oder die Allgemeinheit. Zudem spielte der gemeinsame Gesang – auch das ein Novum; Luther wusste um dessen emotionalisierende und gemeinschaftsstiftende Wirkung und dichtete zahlreiche Kirchenlieder, darunter Ein' feste Burg ist unser Gott, von dem Atheisten Friedrich Engels über drei Jahrhunderte später als »Marseillaise des 16. Jahrhunderts« bezeichnet – eine große und ständig wachsende Rolle, wenn auch der deutsche Choral erst nach und nach an die Stelle lateinischer Polyphonie trat. Und wenn er sich 1520 an den »christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« mit der Aufforderung wandte, die Reform der Kirche in die eigenen Hände zu nehmen, dann konnte sich bei genauer Lektüre jeder Gläubige angesprochen fühlen. Und in der Tat wurde die deutsche Reformation (die Schweizer ohnehin) entgegen einem verbreiteten Urteil nicht von oben von den Fürsten eingeleitet, sondern von unten begonnen – und zwar in den städtischen Gemeinden, wo sie dann vielfach mehrheitsfähig wurde. Die Quasi-Adoption der Kirchenreform durch einen Teil der Fürsten, begünstigt durch Luthers obrigkeitliche Orientierung, fällt in eine etwas spätere Phase, wenngleich sich beide Vorgänge überschnitten.
Luthers Werdegang vom Mönchsdasein bis zum deutschland- , ja europaweit bekannten Reformator (und Familienvater) sei von mir nur stichwortartig in Erinnerung gerufen: Aus den Thesen gegen den Ablass ergab sich die Untersuchung in Rom wegen Ketzerei, verzögert aufgrund des Wunsches der Kurie, Luthers die Hand über ihn haltenden Landesvater, Kurfürst Friedrich, anstelle des Habsburgers Karl als Kaiser zu sehen. Das kam nicht zustande, und die römische Untersuchung endete mit der päpstlichen Bannbulle, die eigentlich die Reichsacht und die Auslieferung an den Papst hätte nach sich ziehen müssen. Friedrich der Weise konnte stattdessen erreichen, dass Luther Gelegenheit erhielt, vor Kaiser und Reichstag in Worms 1521 Rede und Antwort zu stehen. Statt des erhofften Austauschs von Argumenten wurde daraus die barsche Aufforderung, seine Schriften zu widerrufen, was der Wittenberger verweigerte. Die Reise nach Worms und die Ankunft dort glichen teilweise einem Triumphzug, und der päpstliche Nuntius schrieb nach Rom: »Ganz Deutschland ist in hellem Aufruhr. Neun Zehntel schreien ›Luther!‹. Die Übrigen, wenn ihnen Luther gleichgültig ist, schreien zumindest ›Tod der römischen Kurie‹.« (zit. nach Schorn-Schütte, Reformation, S. 34). Luther, dem freies Geleit zugesichert worden war, wurde auf dem Rückweg zum Schein entführt und von sächsischen Reitern auf die Wartburg gebracht, um ihn der durch das kaiserliche Wormser Edikt verfügten Verfolgung zu entziehen. Die Flamme des Aufruhrs, die Luther mit dem öffentlichen Verbrennen der päpstlichen Bulle und des Kanonischen, also des kirchlichen Rechts vor den Toren Wittenbergs im buchstäblichen Sinn angezündet hatte, loderte indessen weiter. Und 1523 starben in Brüssel die ersten protestantischen Märtyrer auf dem Scheiterhaufen.
Will man die Theologie Martin Luthers und im Wesentlichen auch der anderen Reformatoren in Formeln fassen, dann bieten sich die vier ›Soli‹ an: 1) Solus Christus = allein Christus spendet das göttliche Heil, weg mit der Heiligenverehrung; 2) sola gratia = nicht durch seine guten Werke, durch sein Handeln, erlangt der Mensch das Seelenheil, sondern allein durch die dem Menschen unbegreifliche Gnade Gottes; 3) sola fide = allein der Glaube, seinerseits eine Gnade Gottes, eröffnet den Weg zum himmlischen Vater; der Mensch führe ein arbeitsames, sittliches, auf Nächstenliebe gerichtetes und gottesfürchtiges Leben, tue dies aber, ohne nach dem Tod eine Belohnung zu erwarten; er verstehe, so weiter Luther, sein ganzes Leben als Buße; 4) sola scriptura = allein die Schrift, sprich: die Bibel enthält die Glaubenswahrheiten des Christentums; keine kirchliche Instanz ist befugt, darüber hinausgehende Lehren verbindlich zu machen. Dieses Bibelverständnis ist deshalb so einschneidend, weil es den Klerus als besonderen ›Lehrstand‹ mit Deutungskompetenz und als Sakramente spendende Heilvermittlungsinstanz ausschaltet und durch eine Art Priesterschaft aller Gläubigen ersetzt. Das gläubige Individuum und die christliche Gemeinde treten ins Zentrum des religiös-kirchlichen Geschehens, die autoritative Rolle des Pfarrers tritt weit zurück; seine wichtigste Funktion ist künftig die des Predigers.
Von den sieben Sakramenten der Katholiken behielten die Reformatoren am Ende nur zwei: Taufe und Abendmahl. Um das Abendmahl entstand von Anfang an eine Kontroverse. Luther lehnte zwar die katholische Lehre von der substantiellen Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi während der Kommunion als philosophische Spekulation ab, bestand aber auf der Realpräsenz Christi wegen des Abendmahls. Für Zwingli und andere war das ein noch halb katholisches Relikt; für die Reformierten handelte es sich um einen rein symbolischen Akt der Erinnerung an den Opfertod Christi. Der Abendmahlsstreit innerhalb des reformatorischen Lagers nahm heftige Formen an, wobei sich namentlich Luther unversöhnlich zeigte. Eine 1529 vom hessischen Landgrafen Philipp nach Marburg einberufene theologische Konferenz führte neben Luther und Zwingli, die sich dort das einzige Mal begegneten, alle bedeutenden Reformatoren zusammen. Eine Kompromissformel fand man nicht und nur mit Mühe eine Art ›agree to disagree‹.
Für die städtische Reformation, die fast alle bedeutenden Städte erfasste, waren die 1520er und noch mehr die 1530er Jahre entscheidend, beginnend in Wittenberg unter den Theologen mit Luther und dem jungen Griechischprofessor Philipp Melanchthon, daneben dem dann ausgegrenzten Andreas Bodenstein von Karlstadt, in Zürich nur wenig später auf Betreiben des Pfarrers Ulrich (Huldrych) Zwingli, der, mit angeregt von Luthers frühen Schriften und die der Humanisten, ebenfalls durch intensives Bibelstudium zu reformatorischen Positionen gekommen war. Sowohl bei Luther als auch bei Zwingli spielten öffentliche theologische Disputationen mit bis zu 900 Teilnehmern eine wichtige Rolle im Vorantreiben der Reformation. Namentlich genannt sei an dieser Stelle außerdem der Straßburger Martin Bucer, der zwischen den beiden eine vermittelnde Position einnahm. Wichtig ist, dass in den einzelnen Städten jeweils eigene Reformatoren – wie Luther und Zwingli übrigens häufig aus Aufsteiger-Familien – in Aktion traten, die meist schnell Unterstützer in Teilen der Bürgerschaft und des regierenden Stadtrats fanden, oft verbunden mit partizipatorischen Bestrebungen, die in personellen Wechseln, Ergänzungen an der Spitze und sogar Verfassungsänderungen resultierten, stets verbunden mit der Beseitigung der kirchlichen Abhängigkeit vom jeweiligen Bistum und der Geltung des Kanonischen. Weitere praktische Schritte waren die Änderung der Gottesdienstordnung – jetzt mit deutschsprachiger Predigt als Kernelement – , die Aufhebung der Klöster und des Zölibats – Hochzeiten früherer Mönche, Nonnen und Priester wurden öffentlich inszeniert –, die Kommunalisierung des umfangreichen kirchlichen Eigentums sowie, dadurch ermöglicht, die Neuordnung des bislang kirchlichen Armenwesens. Politisch konnte die städtische Reformation vielfach an die Welle städtischer Unruhen mit dem Höhepunkt der Jahre 1509 bis 1514 anknüpfen. Die Affinität der Existenzform der Stadt zur Reformation lag nicht zuletzt darin begründet, dass sich die meist ja durchaus überschaubare städtische Gemeinde auch als christliche Gemeinde verstand. Und in dem Maß, wie das Stadtregiment die politische Teilhabe einer relativ großen Zahl von Einwohnern beinhaltete, hatte das gleichzeitig Konsequenzen für die Verfassungsrealität in den Kirchengemeinden.
Als die Reformation in ganzen Territorialstaaten eingeführt wurde – Vorreiter war neben Sachsen die Landgrafschaft Hessen – , kamen neue Kirchenordnungen zur Geltung, die über sog. Visitationen nach und nach flächendeckend von jetzt durchweg universitär ausgebildeten Pfarrern durchgesetzt wurden. Die Landesfürsten, von Luther als ›Notbischöfe‹ legitimiert, in deren Hand das Kirchen- und Klöstergut fiel – u. U. ein gewichtiges Motiv für einen Konfessionswechsel –, übernahmen jetzt auch Funktionen, die früher von den kirchlichen Instanzen wahrgenommen worden waren. Es entstand das für Deutschland charakteristische landesherrliche Kirchenregiment.
Unter allgemeinhistorischen Gesichtspunkten war wichtiger noch als die Differenz in der Abendmahlsfrage die unterschiedliche Auffassung des Verhältnisses von kirchlicher und politisch-sozialer Sphäre. Anders als Luther, der beides, genauer: die Kriterien, die für beiderlei ›Reiche‹ galten, streng unterschieden dachte, sah Zwingli (wie später Calvin) göttliche und irdische Gerechtigkeit miteinander verbunden. Er meinte, dass der Mensch aufgerufen sei, auch das staatliche und gesellschaftliche Leben mit christlichem Geist zu durchdringen und forderte Gesetze im Bezugssystem des Evangeliums, eine vom Glauben getragene Regierung, der theologische Ratgeber zur Seite stehen sollten. Das bedeutete in den von den Reformierten beeinflussten Gemeinwesen die Einführung einer strengen Sittenzucht, so in Zürich 1530 mit obligatorischem Kirchgang und Predigtbesuch, Ehegerichtsbarkeit, Feiertagsheiligung, Entfernung der Bilder aus den Kirchen (noch heute sind reformierte Gotteshäuser deutlich schlichter gestaltet als lutherische), auch detaillierten Bestimmungen über Wirtshausbesuch, Alkoholtrinken, Schuldenmachen, Kartenspielen, Müßiggang u.a.m. Gleichzeitig war im Reformiertentum über die innere Struktur der Kirche eine auch außerkirchlich wirksame, gegenüber dem Luthertum stärker ausgeprägte partizipatorische Tendenz angelegt.
Von den reformatorischen Hauptrichtungen – um Luther und um Zwingli – spalteten sich schon früh durchaus heterogene Strömungen ab, die in der Forschung als ›radikaler‹ oder ›linker‹ Flügel der Reformation bezeichnet werden. Deren Vertreter warfen den Autoritäten in Wittenberg bzw. Zürich Inkonsequenz, Anpassung und letztlich Verrat vor. Gemeinsam war ihnen eine grundsätzlich institutionen- und obrigkeitskritische Haltung und die Vorstellung, die urchristliche Gemeinde wieder herstellen zu sollen, einschließlich der Gütergemeinschaft: die Sammlung nur der wirklich Gläubigen und sittlich einwandfrei Lebenden. Gegenüber der als einseitig empfundenen Orientierung der etablierteren Reformatoren an der Schriftform der Bibel sprach man auch spirituellen Eingebungen eine große Bedeutung zu. Die Bewegung der Täufer, ›Wiedertäufer‹ in den Augen ihrer Gegner, verbreitet vor allem unter Bauern und Kleinbürgern, lehnte die Kindstaufe mit biblischen Argumenten zugunsten der Erwachsenentaufe ab, verweigerte meist den Eid, den Militärdienst und bürgerliche Ämter. Ein gewaltbereiter Zweig errichtete 1534/35 in Münster ein theokratisches Regime; die Eroberung der Stadt durch die Truppen des bischöflichen Stadtherrn und seiner Verbündeten wurde zum Blutbad. Täufer wurden seit 1527 in evangelischen wie katholischen Städten bzw. Fürstentümern allein aufgrund ihres Glaubens verfolgt, ausgewiesen, ertränkt oder verbrannt.
Geschichtsmächtig wurden auch die Radikalen im Umfeld Martin Luthers. Während seines Aufenthalts auf der Wartburg 1521/22 kam es in Wittenberg zu Massenaktionen wie den auch andernorts immer wieder zu registrierenden Bilderstürmen und zu kompletten Umgestaltungen der kirchlichen Liturgie. Weihnachten 1521 feierten 2000 Männer und Frauen mit dem erwähnten Karlstadt, der Zivilkleidung trug, den ersten reformatorischen Gottesdienst überhaupt; Männer und Frauen nahmen ohne vorherige Beichte mit dem Doppelkelch, also anders, als bei den Katholiken, mit Brot und Wein, das Abendmahl ein. Die kurfürstliche Regierung und der Stadtrat befürchteten, das Geschehen könnte außer Kontrolle geraten; Luther kehrte von der Wartburg zurück und vermochte aufgrund seiner schon damals großen Autorität in einer Reihe täglicher Predigten die Lage zu beruhigen: Er stimme mit der Tendenz der Neuerungen überein, doch solle man Rücksicht nehmen auf die ›Schwachen‹, die dem Tempo nicht folgen könnten. Ein, zwei Jahre später wurden Luther und Melanchthon stark beunruhigt durch die Popularität, die ihr früherer Anhänger und inzwischen scharfer Kritiker, der Pfarrer Thomas Müntzer, an den Stätten seines Wirkens genoss. Müntzers letzte Station war das thüringische Mühlhausen. Er hielt es für die Aufgabe der Gläubigen, vor dem nahenden Ende der Zeit mit Waffengewalt gegen den römisch-katholischen Klerus, gegen die Mächtigen und Reichen zu kämpfen und eine schon auf Erden gerechte Ordnung zu errichten. Jesus Christus sei in einem Viehstall geboren und hätte seine Botschaft an die Armen und Unterdrückten, die Erniedrigten und Beleidigten gerichtet.
Luthers Stellung zum Bauernkrieg von 1524/25, der Revolution des ›Gemeinen Mannes‹, der größten deutschen Volkserhebung bis 1848/49, war offenbar mit veranlasst durch den Einfluss, den Müntzer auf die Erhebung in Thüringen auszuüben vermochte. Nachdem Luther zunächst beide Seiten zur Mäßigung aufgerufen, Fürsten und Adel zu Konzessionen, die Bauern zur Gewaltlosigkeit gemahnt hatte, veröffentlichte er im Frühjahr 1525 ein Traktat »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, in dem er die Obrigkeiten dazu aufrief, die Aufständischen regelrecht abzuschlachten: »... man soll sie zerschmeißen, würgen, stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man seinen tollen Hund erschlagen muss.« Und weiter: Ein Fürst könne den Himmel »mit Blutvergießen besser verdienen als andere mit Beten.« Diese Aufforderung benötigten die Bezwinger der Bauern nicht, doch trug die genannte Schrift maßgeblich dazu bei, Luthers Prestige unter den reformatorisch gesinnten Laien zu beeinträchtigen. Auch Zwingli hielt nichts von Bauernaufständen, erhob seine Stimme aber hauptsächlich zugunsten von Erleichterungen für die Landbevölkerung. Der Abscheu gegen Gewalt, wenn sie sich gegen oben richtete, hatte Luther schon die Erhebung eines Teils der Reichsritter von 1522/23 ablehnen lassen, die sich unter Führung Franz von Sickingens und des Humanisten Ulrich von Hutten als ›brüderliche Vereinigung‹ mit religiösen Zügen zur Reformation bekannt hatten. Sie strebten zusammen mit einer Erneuerung ihrer Standesprivilegien die Loslösung Deutschlands von Rom und die Stärkung der kaiserlichen Macht gegenüber den Fürsten an.
Was war es, das den mutigen Bekenner von 1521, der auch vor Kaiser und Fürsten nicht widerrufen hatte, zu seinen Hassausbrüchen gegen die Bauern trieb? Der allgemeinen Auffassung der Zeit entsprechend hielt Luther die geburtsständische Ordnung mit dem Adel an der Spitze für gottgewollt und eine obrigkeitliche Herrschaft für unverzichtbar, um zwischen der Vielzahl von Sündern Ruhe und Frieden zu bewahren. Nun beriefen sich die Bauern, die im Übrigen auch auf den Kaiser hofften, auf Luther und die anderen Reformatoren. Zweifellos missverstanden sie Luthers religiös gemeinten Freiheitsbegriff. Von katholischer Seite wurde ihm ohnehin eine geistige Urheberschaft unterstellt. Die Assoziation mit dem Aufruhr barg aus der Perspektive des Wittenbergers die Gefahr der Entfremdung von den seiner Lehre aufgeschlossenen Fürsten, die gemäß Luthers Konzeption die Kirchenreform durchführen sollten. Bauernaufstände kamen seit dem späteren 15. Jahrhundert vermehrt vor. Sie waren offenbar eine Reaktion auf den Druck der Grundherren und Fürsten, die sich anschickten, das ungeschriebene ›Alte Recht‹ unter Ausnutzung der Gerichtsherrschaft zu ihren Gunsten umzuinterpretieren oder zu ignorieren. Es ging um vermehrte Lasten unterschiedlicher Art und die Unterminierung der Rechte der Dorfgenossenschaft, wovon nicht nur die armen Bauern betroffen waren. Es waren denn auch eher die relativ Wohlhabenderen bis hin zu Dorfschulzen, die die Erhebung anführten. Bis zu 300.000 Bauern sollen aktiv am Aufstand beteiligt gewesen sein, dem sich auch etliche Handwerker, Lohnarbeiter, Bergknappen und vereinzelte Adelige anschlossen. Eine ganze Reihe Städte, großenteils aufgrund von innerem oder äußerem Druck, verbündeten sich mit den Bauern. Diese operierten in mehreren ›Haufen‹ in einem Raum, der Thüringen, Süd- und Südwestdeutschland, Teile des Rheinlands, Österreichs und der Schweiz sowie das Elsass umfasste. Nach zeitweilig spektakulären Erfolgen wurden die verschiedenen regionalen Bauernheere im Frühjahr 1525 von den gut trainierten und bewaffneten Söldnertruppen der Fürsten vernichtend geschlagen. Dabei wirkten katholische und evangelische Fürsten einträchtig zusammen. Das Strafgericht war fürchterlich, nachdem die zum Kampf angetretenen, vielfach nur mit Sensen und Dreschflegeln ausgerüsteten Bauern schon überwiegend auf dem Schlachtfeld umgekommen waren. Vor dem elsässischen Zabern wurden z.B. nach ihrer Kapitulation 3000 Bauern niedergemacht. Mit dem Tod bestraft wurden auch die Hunderte evangelischer Pfarrer, die sich auf die Seite der Bauern gestellt oder in ihrem Sinn gewirkt hatten, Thomas Müntzer nach schweren Folterungen. Zur besonderen Erbitterung der Herren (wie auch ihrer Lobredner, so Luthers) hatte beigetragen, dass es im Verlauf des Aufstands außer zahlreichen Plünderungen bzw. Brandschatzungen von Klöstern und Ritterburgen auch zu Ausschreitungen gegen Gefangene gekommen war, so im württembergischen Weinsberg, wo man den verhassten Grafen Ludwig von Helfenstein samt der adeligen Besatzung hatte Spießruten laufen lassen.
Was den Bauern vorschwebte, war im oberschwäbischen, reformationsfreundlichen Memmingen in einem Zwölf-Punkte-Programm zu Papier gebracht worden, das sich in Windeseile in 28 Auflagen überregional verbreitete, sowie in einer Bundesordnung niedergelegt. Jeder der bäuerlichen Haufen wählte vier Räte und einen Obersten. Als Aufgabe der Pfarrer wurde gemäß reformatorischer Doktrin die Verkündung des ›reinen Evangeliums‹ bestimmt. Die zwölf Artikel verlangten u.a. Einführung der Pfarrer durch die Gemeinde, Aufhebung der Leibeigenschaft, Freigabe von Jagd und Fischerei (die die Grundherren als ihr Privileg ansahen), Erweiterung der Gemeinderechte und eine Erleichterung (keine Abschaffung) der Abgaben. Im Lauf der Erhebung hatten die Aufständischen einige Wochen bis Monate lang in Teilen des südlichen Deutschland und der Alpenländer faktisch die Macht inne und konnten hier und dort Verträge mit den früheren Obrigkeiten durchsetzen, die nach der militärischen Niederlage teilweise, aber nicht überall wieder kassiert wurden. In der Aufschwungphase schlug sich die Radikalisierung der Bewegung in einem ganz neuen Rechtsverständnis nieder: An die Stelle des guten Alten Rechts, das wieder praktiziert werden sollte, trat das ›Göttliche Recht‹, das sich an der Bibel orientierte und Theologen als Richter vorsah. In dem viel später gedichteten, aber auf Originalzitate rekurrierenden Lied über Florian Geyers ›schwarze‹ Haufen, heißt es in zwei der Strophen: »Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« (Der Vers geht zurück auf die vorreformatorische Ketzerbewegung der britischen Lollarden unter der Führung von John Wyclif im 14. Jahrhundert.) Und: »Jetzt gilt es Schloss, Abtei und Stift, uns gilt nichts als die Heil'ge Schrift.« Das war die Berufung auf das Göttliche Recht. Die Jahre von 1526 bis 1555 waren erfüllt vom Ringen um die Anerkennung des reformatorischen Bekenntnisses auf Reichsebene. Die sich seit Mitte der 1520er Jahre formierenden Lager der katholischen Reichsstände und des Kaisers einerseits, der neugläubigen Fürsten und Städte andererseits stießen zunächst friedlich aufeinander, als auf dem zweiten Speyerer Reichstag 1529 der drei Jahre früher vereinbarte Kompromiss gegenseitiger vorläufiger Duldung von der katholischen Mehrheit aufgekündigt wurde. Dagegen legten die evangelischen Stände formellen Protest ein (daher der Ausdruck ›Protestanten‹), und ein Jahr später reichten sie auf dem folgenden Reichstag ihr in Ton und im Ansatz versöhnlich formuliertes Augsburger Bekenntnis ein, das jedoch eine schroffe Zurückweisung erfuhr. Jede, selbst friedliche protestantische Bestrebung wurde zum Landfriedensbruch erklärt, eine offene Kampfansage. Nur die Türkengefahr – Belagerung Wiens 1529 – vertagte die militärische Konfrontation.
Als der Kaiser sich in den 1540er Jahren wieder den deutschen Dingen zuwenden konnte, kam es zum Krieg gegen den evangelischen Schmalkaldischen Bund; doch konnte Karl V. seinen militärischen Erfolg nicht ausnutzen, weil auch die katholischen Fürsten einer stärkeren Vereinheitlichung des Reichs widerstrebten. Im Folgekrieg von 1552 musste der Kaiser sogar eine Niederlage hinnehmen. Verhandlungen führten unter Ausschluss der Zwinglianer und Calvinisten zum Augsburger Religionsfrieden nach dem Prinzip cuius regio eius religio: Wer über das Land herrscht, bestimmt über die Religionszugehörigkeit aller Untertanen. Die Fürsten fassten ihre diesbezügliche Entscheidung übrigens durchweg im Einvernehmen mit ihren Landständen. Andersgläubigen blieb allein die Auswanderung. Geistliche Fürsten durften nur zum Protestantismus übertreten bei Verzicht auf alle geistlichen und weltlichen Herrschaftsrechte. Lediglich in einigen konfessionell gespaltenen Reichsstädten, darunter mit Augsburg eine der bedeutendsten, blieb eine jeweils penibel austarierte Bikonfessionalität bestehen.
Nach der Rekatholisierung mancher Gebiete, vor allem in Bayern und in den habsburgischen Ländereien, dominierte das Luthertum gegen Endes des 16. Jahrhunderts weiterhin in Nord- und Ostdeutschland, in Hessen, Ansbach-Bayreuth, Kursachsen und Württemberg, während die Stützpunkte des Reformiertentums eher in der Nähe der westlichen Reichsgrenze lagen, etwa in der Kurpfalz. Erst mit der Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 1648 wurden die Reformierten in den Augsburger Religionsfrieden einbezogen. Damit war dem Prozess der obrigkeitlichen Konfessionalisierung des staatlichen Lebens und der Alltagskultur eine Struktur von langer Dauer gegeben, die bis in die Gegenwart fortwirkt. Eine einflussreiche Forschungsrichtung hat die frühneuzeitliche Konfessionalisierung in den deutschen Territorialstaaten im späten 16. und im 17. Jahrhundert gegenüber der relativ kurzen Phase der frühen Reformation als den nachhaltigeren Vorgang eingeschätzt: Die Durchsetzung des offiziellen Bekenntnisses habe in lutherischen, reformierten und katholischen Territorien vergleichbare Strukturen und Instrumente der Erziehung, der sozialen Disziplinierung und der religiösen Sinnorientierung hervorgebracht. Dabei wirkte die jeweilige, wenngleich nicht totale theologische Vereinheitlichung der Konfessionen unterstützend: bei den Katholiken durch die Beschlüsse des Trienter Konzils, bei den Reformierten durch die Einigung von Zwinglianern und Calvinisten, bei den Lutheranern genauer gesagt: der Mehrzahl von ihnen, durch die Beendigung der teilweise heftigen Auseinandersetzungen um das geistige Erbe Luthers mittels des Konkordienbuchs von 1580, einer verbindlichen Interpretation der Confessio Augustana von 1530. Die Unterschiede zwischen Lutheranern und Reformierten traten manchmal stärker hervor als die zwischen Lutheranern und Katholiken. Im Übrigen lebten im Luthertum wie bei Luther persönlich stärker magische Vorstellungen fort wie insbesondere der Teufels- und Hexenglauben. Letzterer fehlte auch im Reformiertentum nicht ganz.
Nicht erst im frühen 19. Jahrhundert, schon zu Lebzeiten des Protagonisten brachte man Luther in Verbindung mit spezifisch national-deutschen Zielen und Eigenschaften. Für viele war er ein ›Prophet der Deutschen‹. Zeitgenossen hielten ihn für einen Nationalheiligen, einen zweiten Arminius, der gekommen sei, um sie wie einst der Cheruskerfürst vom römischen Joch zu befreien. Ohne diese Wahrnehmung ist sein Aufstieg zum Volkshelden nach 1517 kaum zu begreifen. Luther selbst wünschte ein einiges und starkes Kaiserreich, änderte angesichts der Bedrohung durch die Osmanen auch seine Haltung zu den Türkenkriegen zugunsten einer Unterstützung der habsburgischen Verteidigungsanstrengungen. Dass er mit seiner auf die landesherrlichen Obrigkeiten setzenden Reformationskonzeption gerade die desintegrierenden Kräfte im Reich stärkte, entsprach gewiss nicht seinen Intentionen.
Ungeachtet der Fixierung der Deutschen auf Luther als einen der Ihren war das Christentum auch für ihn eine universelle Religion. Und doch gilt es festzuhalten, dass keiner der reformatorischen Prozesse von Skandinavien bis Südfrankreich und von Schottland bis Siebenbürgen unabhängig von den Vorgängen im römisch-deutschen Reich und namentlich von der Person Luther ablief. (Schriften aus seiner Feder wurden in elf Sprachen herausgegeben.) Allerdings setzte sich die lutherische Reformation außerhalb des deutschen Sprach- und Kulturraums letztlich nur in Nordeuropa durch, dort als Staatskirchentum von oben, am ausgeprägtesten in Schweden, wo sie schon 1527 zwecks Sanierung der Staatsfinanzen mit der Unterstellung der Kirche unter die Krone begann, aber inhaltlich noch Jahrzehnte auf unsicheren Füßen stand. Im östlichen Mitteleuropa und in Dänemark traten, wie auch sonst, die Städte als Avantgarde der Reformation hervor. In Polen und Siebenbürgen, in geringerem Maß in Ungarn bestand einige Jahrzehnte eine bemerkenswerte Pluralität verschiedener christlicher Bekenntnisse in einer komplexen ständischen Ordnung, wo die protestantischen Konfessionen auch Eigenständigkeitsbestrebungen des Adels gegenüber der Krone ausdrückten. Das Wiedererstarken der ostmitteleuropäischen Monarchen seit dem späten 16. Jahrhundert geschah im Zeichen der Rekatholisierung.
In Absetzung vom Luthertum hat man von der ›calvinistischen Internationale‹ mit dem Zentrum in Genf gesprochen. In der Tat wurde Johannes Calvin nach dem Schulterschluss mit Heinrich Bullinger, gewissermaßen Zwinglis Nachfolger in Zürich, im Jahr 1549 zur zentralen Figur des Reformiertentums, das hauptsächlich in Frankreich, den Niederlanden, Schottland und England, (über Glaubensflüchtlinge dann auch in Nordamerika) Fuß fasste. Stärker als in der deutschsprachigen Reformation, wo der Anstoß meist von Klerikern ausging, kam in den genannten Fällen das Laienelement zum Tragen. In Frankreich, woher Calvin stammte, setzte sich der neue Glaube schon in den 1530er Jahren fest. Eine Plakataktion in mehreren großen Städten, in der die katholische Messe scharf angegriffen wurde, provozierte eine antireformatorische Wende der französischen Krone. Die Hugenotten (eine französische Verballhornung von ›Eidgenossen‹) bauten eine breit organisierte presbyterialsynodale Untergrundkirche auf, der in den 1560er Jahren etwa ein Zehntel der Bevölkerung angehörte. Die Verfolgung der Hugenotten – mit den Massakern um die Bartholomäusnacht im August 1572 als Höhepunkt – und die jahrzehntelangen Hugenottenkriege waren verknüpft mit dem Kampf zweier Adelsparteien um die Vorherrschaft im Land. Das Toleranzedikt Heinrichs IV., der zum Katholizismus konvertiert war, um König zu werden, eröffnete 1598 eine etliche Jahrzehnte andauernde Periode religiöser Koexistenz, bis Ludwig XIV. das Toleranzedikt von Nantes 1685 schließlich formell zurücknahm. Zehntausende von französischen Glaubensflüchtlingen kamen – wie schon im 16. Jahrhundert – nach Mitteleuropa, wo sie als kenntnisreiche und tüchtige Handwerker und Kaufleute die wirtschaftlichen Entwicklung befeuerten.
Johannes Calvin selbst, der der auf Luther und Zwingli folgenden Generation der Reformatoren angehörte, war als Theologe im Pariser Gelehrtenmilieu schon 1533/34 zur »wahren, reinen Lehre des Evangeliums« gekommen, musste dann aber Frankreich verlassen. Über verschiedene Stationen gelangte er 1536 nach Genf, das gerade die Reformation einführte, wo er zwischenzeitlich ausgewiesen, 1541 zurückgerufen und mit der Neuordnung des Kirchenwesens beauftragt wurde. Die von ihm inspirierte, besonders strenge, anders als in Zürich rein kirchliche Sittenzucht installierte eine unduldsame Tugendrepublik. Ohne ein städtisches Amt war Calvin doch der einflussreichste Mann Genfs. Seine zentrale Schrift Institutio Christianae Religionis ist die systematischste Darlegung der reformierten Theologie. In den Niederlanden wurde der Calvinismus zur Ideologie der Befreiung von der terroristischen Landesherrschaft der katholischen spanischen Könige. Auch nachdem sich die nördlichen Niederlande 1579 von Spanien losgesagt hatten, ging der Kampf weiter; er endete endgültig erst mit dem Westfälischen Frieden 1648. Obwohl das Reformiertentum als Konfession privilegiert wurde, duldeten die Niederlande auch andere Bekenntnisse und selbst das Täufertum. Sie waren im 17. Jahrhundert neben England das wirtschaftlich fortgeschrittenste und freiheitlichste Gemeinwesen Europas.
In England löste Heinrich VIII. Mitte der 1530er Jahre wegen Meinungsverschiedenheiten in einer Scheidungsangelegenheit die Bande mit dem Papst, löste die Klöster auf und eignete sich das Kirchengut an, begann aber nur ganz allmählich mit der Reformierung der religiösen Praktiken. Nach Rekatholisierungsversuchen unter Maria Tudor in den 1550er Jahren nahm die anglikanische Kirche ihren bis heute spezifischen Charakter an, indem sie die episkopale Organisation und viele katholische Formen beibehielt, während die Theologie hauptsächlich calvinistisch ausgerichtet wurde. Die oppositionellen Calvinisten, die sog. Puritaner, verkörperten im 17. Jahrhundert zugleich die politische Opposition des House of Commons gegen die absolutistischen Bestrebungen der Krone. Den englischen Bürgerkrieg der 1640er Jahre, in dessen Verlauf erstmals ein König im Auftrag der Volksvertreter geköpft wurde, bezeichnet man auch als ›Puritanische Revolution‹. Die Legitimation für ihren Kampf gegen die Königspartei bezogen die Puritaner aus dem besonders von Calvin postulierten Recht auf Widerstand gegen eine rechtsverletzende Obrigkeit.
Zu den indirekten Folgewirkungen der Reformation gehört der Erneuerungsprozess der Papstkirche durch das in drei Phasen zwischen 1546 und 1563 in Trient abgehaltene katholische Konzil. Das Ergebnis der sowohl als Katholische Reform wie auch als Gegenreformation (sprich: Rekatholisierung) zu verstehenden Neuformierung des Katholizismus war zunächst die Beseitigung der schlimmsten und anstößigsten Missbräuche, die dem Protestantismus so viel Zustimmung verschafft hatten, so im Ablasswesen, im Hinblick auf die Pfründenakkumulation und bei der Verbesserung der Priesterausbildung. Parallel dazu wurde indessen die theologische Uniformität der Kirche stärker profiliert als im Mittelalter, so durch die Ausgrenzung bisher geduldeter, etwa vom Humanismus geprägter Lehrmeinungen, einen verbindlichen Katechismus und ein Gesangbuch nach reformatorischem Vorbild. Die kuriale Leitungsebene blieb ebenso unangetastet wie die Deutungshoheit der Kirche über die Bibel, deren volkssprachlicher Gebrauch weiterhin nicht akzeptiert wurde. Alte Orden wurden wiederbelebt und neue gegründet. Die wichtigste Neuerung, auch als Verbindung von Reform und militanter, auf unbedingten Gehorsam dem Papst gegenüber festgelegte Gegenreformation, war die Gründung der Societas Jesu durch den baskischen Adligen Ignatius von Loyola 1537, deren bis heute starkes Engagement im Bildungswesen und auf dem Feld des Sozialen bzw. Karikativen sowie bei der sog. Heidenmission bekannt sein dürfte.
Wenn wir abschließend versuchen, die historischen Wirkungen dessen, was wir ›Reformation‹ nennen, zusammenfassend festzuhalten, dann können wir zunächst einige Punkte nennen, die kaum umstritten sind: Wissenschaft, Recht (jetzt abgekoppelt vom Kanonischen Recht) und Literatur, auch die Bildende Kunst, konnten sich im protestantischen Teil Europas über die Jahrhunderte freier entfalten als im katholischen. Offenkundig ist die Bildungsdynamik durch Förderung der Universitäten, des höheren und niederen Schulwesens, die dann nachholende Bemühungen auf katholischer Seite veranlasste. In manchen protestantischen Regionen Deutschlands konnte um 1700 – und das war in der Zeit außerordentlich – die deutliche Mehrheit der Männer lesen und die Mehrzahl schreiben. Auch die Aufwertung der Rolle der Frau durch die Reformation ist nicht zu übersehen. Deren soziale Rolle wurde zwar auf den privaten Bereich begrenzt, aber vom Evangelium her wurde ihr die volle Gleichheit mit dem Mann zugesprochen.
Die durch den Protestantismus angestoßene Konfessionalisierung diente der Verdichtung des Staatsbildungsprozesses im modernen Sinn und stabilisierte zugleich in der Regel die jeweils bestehende politische und soziale Ordnung. Die Aufwertung der Volkssprachen förderte die für Europa charakteristische Herausbildung kultureller Nationen, teils auch der Nationalstaaten, so im Fall der Schweiz, der Niederlande und Schwedens. Unbestreitbar ist die partizipatorische Tendenz im Protestantismus und die Stärkung des Laienelements, vor allem, aber nicht allein im Reformiertentum. Nicht zuletzt entstand im evangelischen Pfarrhaus eine ganz neue Keimzelle bürgerlicher Kultur und höherer Bildung, mit Ausstrahlung auf weitere Kreise. Die konfessionelle Heterogenität und Konkurrenz, die bis zu langen und blutigen Religionskriegen (oder als solche deklarierte) eskalieren konnte, bereiteten, auch wenn das nirgendwo intendiert war, die spätere Säkularisierung mit vor. Philosophische und politische Positionen, die nicht oder nicht vorwiegend religiös begründet waren, konnten sich im 18. Jahrhundert bereits recht frei entfalten. Nicht von der Hand zu weisen ist ferner ein gewisser Zusammenhang mit frühen Formulierungen der Menschenrechte in England im 17. und in Nordamerika im 18. Jahrhundert. Seit über hundert Jahren in der Forschung umstritten ist die These des Soziologen Max Weber und des Theologen Ernst Troeltsch, derzufolge ein Zusammenhang zwischen dem Ethos, insbesondere dem Arbeitsethos des Calvinismus (weniger des Luthertums) und der Entfaltung des Industriekapitalismus besteht: Die asketische und religiös überhöhte Auffassung von Arbeitsfleiß, unterstützt durch die (bei Calvin selbst übrigens nicht besonders prominente) Prädestinationslehre, wonach die Unterscheidung zwischen Auserwählten und Verdammten schon vor Beginn der Zeit von Gott getroffen worden ist, sich aber in christlicher Lebensführung und beruflichem Erfolg der Betroffenen zeigen könne, habe die frühen Kaufleute und gewerblichen Unternehmer veranlasst, ihre Gewinne zu reinvestieren statt sie im Luxuskonsum unproduktiv zu verprassen, wie es im Mittelalter und in anderen Kulturkreisen normal gewesen sei. Die Angelegenheit ist sehr kompliziert: Jeder empirische Beleg für die Webersche These konnte relativiert oder mit Gegenbeispielen konterkariert werden. Zumindest wird man sagen dürfen, dass die positive Einstellung zur Arbeit im gesamten Protestantismus der wirtschaftlichen Entwicklung zuträglich gewesen sein muss, ebenso die Abschaffung der Fastenzeit, die radikale Reduzierung der Feiertage und die Aufhebung der Orden, insbesondere der Bettelorden. Luther stand aufgrund seiner gesellschaftspolitisch eher traditionalistischen Grundhaltung dem Frühkapitalismus sehr kritisch gegenüber, Calvin weniger, aber auch er hatte Vorbehalte gegen Wucherzinsen und überhaupt gegen ungebremste Preistreiberei. Allerdings bewertete der spätere Calvinismus durch Gewinn erwirtschafteten Reichtum tatsächlich positiv.
Zu den dunklen Seiten insbesondere Martin Luthers gehört zweifellos dessen Einstellung zu den Juden. Nachdem er zunächst für einen freundlichen Umgang mit ihnen eingetreten war, wandte er sich in den letzten Lebensjahren in mehreren aggressiven Schriften pauschal gegen sie und schlug u.a. ihre Vertreibung (analog dem Vorgehen des katholischen Spanien) vor. Darin äußerte sich offenbar nicht zuletzt die Enttäuschung über die geringe Bereitschaft der Juden zur Konversion. Außergewöhnlich war nicht Luthers Auffassung des Judentums als einer dem Christentum feindlichen Religion, sondern die Unerbittlichkeit und Unbedenklichkeit, mit der er gegen sie hetzte.
Abschließend noch ein Wort zur Periodisierung: Als Ausgangsdatum der Reformation im engeren Sinn kann die Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen gegen den Ablass am 31. Oktober 1517 bestätigt werden. Als Enddatum bietet sich für das Alte Reich der Augsburger Religionsfriede von 1555 an. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Reformation auch in den anderen Ländern, in denen sie sich letztlich behauptete, konsolidiert oder war auf dem Wege dahin. Doch muss man die Reformation im engeren Sinn als Beschleunigungs- und Durchbruchsphase in einen längeren, etwa von 1450 bis 1650 andauernden soziokulturellen Wandlungsprozess einordnen.
(Vortrag in der Reihe »Kirche und Gesellschaft« der Kreuzkirchengemeinde, Berlin-Schmargendorf, am 9. Januar 2018)
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