Renate Solbach: Brechung

Da ich versuchen möchte, etwas Klärendes zum Problem der Korruption aus soziologischer Sicht beizutragen, empfiehlt es sich, kurz etwas zu dieser Disziplin zu sagen, von der keiner so recht weiß (Fachleute eingeschlossen), was ihr Gegenstand ist. Ich denke, dass sie gar keinen hat und deshalb über alles, also auch Korruption, sprechen kann, von der wiederum jedermann zu wissen glaubt, worum es dabei geht. Auch hier kann die Soziologie Verwirrung stiften. Mehr noch: die Soziologie scheint nicht nur keinen ihr eigenen Gegenstand zu haben; sie spricht auch nicht mit einer Stimme. Mein Standpunkt ist die Wissenssoziologie als eine von der Prämisse der Seinsgebundenheit des Wissens und der Vernunft geprägten Denkungsart, wie sie im Anschluss und in Antwort auf Karl Marx von Max Scheler, Karl Mannheim, Peter L. Berger, Thomas Luckmann u.a. gepflegt wurde und wird.

Sie führt empirisch gewendet die klassische philosophische Frage nach der Wirklichkeit fort. Wissen wird als das menschliche Grundverhältnis zur Welt und Kategorisierung oder Typisierung als Grundoperation der Welterschließung und Weltbearbeitung verstanden. Wir können uns Gesellschaften vorstellen als eine Menge von Menschen, lebende, tote und noch gar nicht geborene, die einen Vorrat an Wissen teilen. So wie wir die Wissenschaften nach Erklärungstypen einteilen und beurteilen, können wir auch Gesellschaften nach der Typik ihrer Wissensverwendung unterscheiden. Den Wissensvorrat, der das Denken und Handeln der Menschen in einer sozialen Situation prägt, nennen wir auch Kultur.

Wenn wir von Kulturen der Korruption sprechen, dann im Plural und im Hinblick darauf, was innerhalb verschiedener Gesellschaften als kriminell gilt und zwar nicht nur im Sinne des Gesetzes als illegal, sondern auch gemäß eines verschwiegenen Einverständnisses oder einer sozialen Norm als illegitim. In diesem Sinne fragen wir nach der Definition von Korruption in den Kulturen verschiedener europäischer Gesellschaften, aber auch in den Kulturen verschiedener sozialer Gruppen und Milieus einer Gesellschaft. Denn nicht nur die Wahrnehmung von Korruption in europäischen Ländern variiert erheblich, sondern auch Polizisten, Richter, Staatsanwälte, Politiker, Unternehmer und Manager, Journalisten sowie Aktivisten aus NGOs aus einer und erst recht aus verschiedenen Gesellschaften haben ganz unterschiedliche Vorstellungen von derselben Sache.

Im Unterschied zum modernen positiven Recht, wo die Gültigkeit von der Gesetzesform, also von einem auf Schriftlichkeit gegründeten Gesetzgebungsverfahren abhängig ist, gelten soziale Definitionen in aller Regel stillschweigend und prägen sich unserer Weltwahrnehmung so ein, dass sie uns natürlich vorkommen, d.h. als selbstverständlich, evident und unhinterfragbar einfach hingenommen werden. Wir sehen also, dass sich die Wissenssoziologie mit Definitionen beschäftigt und zwar mindestens in zweifacher Hinsicht. Und zwar untersucht sie die wissenschaftlichen und die alltäglichen Definitionen von Korruption nicht wie die Philosophie oder Jurisprudenz normativ-dogmatisch bezogen auf eine Leitidee wie z.B. Gerechtigkeit, sondern als empirische Tatsachen.

Beginnen wir mit den wissenschaftlichen Definitionen und zwar zunächst mit der Theologie und Religionswissenschaft. Im Alten Testament bedeutet korrupt soviel wie böse, schlecht, das Verderben der göttlichen Schöpfung durch das Böse, den gefallenen Engel oder Teufel. Im Neuen Testament, für Jesus, ist der Götze Mammon und der materielle Besitztrieb der Inbegriff der Korruption. Ethnologen berichten uns, dass auch im alten China Korruption mehr einen moralischen als materiellen Schaden bezeichnet und Ausdruck schlechter Herrschaft ist. Philologen werden uns darüber aufklären, dass im Lateinischen das Wort ›corruptio‹ oder ›corrumpere‹ ebenfalls einen Sittenverfall anzeigt. Die Wurzel des Wortes ›rumpere‹ bedeutet ›zerbrechen‹ auch in Bezug auf eine Ordnung. Und wenn wir den Historikern Glauben schenken können, dann bleibt die Semantik von Korruption als Sittenverfall der Gesellschaft und des Staates von der Antike bis zur Neuzeit maßgeblich. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft der Moderne werden Handlungen als korrupt bezeichnet. Das ist nun insofern eine bedeutsame Feststellung, als sich in dieser Zeit die Soziologie als Handlungswissenschaft etabliert. Die Soziologie thematisiert das menschliche Leben nicht als Teil des natürlichen Kosmos, wie in der griechischen Philosophie, sondern als gesellschaftliche Konstruktion, als Verwirklichung des Menschen im sozialen Handeln. Die Gesetze des Handelns werden auch nicht mehr aus der Natur des Menschen abgeleitet. Die Soziologie operiert mit wertfreien, empirischen Begriffen. Korruption erklärt sich dann nicht mehr aus der Intervention des Teufels oder aus dem Verkennen der ewigen Ideen des Wahren, Schönen und Guten, sondern aus dem Selbstverständnis der Handelnden in einer konkreten sozio-historischen Situation. Es geht nicht um universelle, sondern empirische Geltung.

Ein Beispiel. Kriminologen sind immer der kriminellen Energie auf der Spur. Hier kann der Soziologe darauf hinweisen, dass ›kriminell‹ eine soziale Definition ist, die im kulturellen Vergleich doch erheblich differiert. Was der eine noch als legitim ansieht, ist für den anderen schon verwerflich. Klientelismus, Patronage, Nepotismus und Simonie (Ämterkauf), für uns moderne Europäer die Inbegriffe von Korruption, waren weit verbreitet im Mittelalter und ohne jegliche Anrüchigkeit. Zum Beispiel war die Bestechung der deutschen Kurfürsten bei der Wahl des Königs eine anerkannte und übliche Praxis. Ebenso war der Ämter- oder Stimmenkauf selbst im liberalen England des 19. Jahrhunderts in der Politik nicht nur gang und gäbe, sondern moralisch gebilligt. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde in England der Ämter- und Stimmenkauf gesetzlich verboten und damit kriminalisiert. Wir sehen also, es gibt keine Kriminalität ohne Gesetzesnorm und ohne eine Instanz, die deren Geltung und Befolgung gewährleistet.

Korruption ist fast so alt wie die Prostitution, die man gern als ältestes Gewerbe ansieht. Beiden Phänomenen ist gemeinsam, dass sie aus einer Praxis hervorgegangen sind, die nicht nur nicht als böse galt, sondern mit der Gesellschaft selbst identifiziert wurde. Tempelprostitution war Teil des religiösen Ritus und das, was wir Korruption nennen, ursprünglich nichts als eine Gabe, ein Geschenk, dessen Tausch Reziprozität und stabile soziale Beziehungen stiftete. Korruption im altgriechischen, römischen oder mittelalterlich-christlichen Sinne ist etwas anderes als das moderne Verständnis. Unsere Vorstellung von Korruption hat etwas mit der modernen Idee von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zu tun. Das erleben wir in den postsozialistischen Transformationsländern ebenso wie in den afrikanischen, asiatischen oder südamerikanischen Entwicklungs- und Schwellenländern, wo sich unsere heiligen Prinzipien noch nicht durchgesetzt haben. Die Soziologie als Theorie der Moderne muss dafür eine Erklärung suchen. Sie muss aber auch eine Antwort formulieren auf die Frage, warum es in den modernen Gesellschaften überhaupt noch Korruption gibt. Dazu gibt es zwei paradigmatische Doktrinen, die sich nicht nur logisch ausschließen, sondern auch unterschiedlichen historischen Epochen angehören, die durch eine epochale Zäsur getrennt wurden.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts herrschte eine positive Ansicht über Korruption vor. Vorreiter dieser modernisierungstheoretischen Erklärung, die unter liberalen Ökonomen, Politologen und Soziologen gleichermaßen Anhänger fand, war Samuel Huntington, der Korruption als ein sich selbst eskamotierendes Übergangsphänomen beschrieb. Korruption wurde verstanden als Reaktion von Wirtschaftsakteuren auf systemische Dysfunktionalitäten eines überregulierten, bürokratischen Staates. In dieser, von Karl Polanyi am Beispiel der frühbürgerlichen Gesellschaft in England als große Transformation beschriebenen Phase, in der, wie Karl Marx sich ausdrückte, die ursprüngliche Akkumulation stattfand, also die gewaltsame Umwandlung einer feudalen Agragesellschaft in eine kapitalistische Marktgesellschaft, die Enteignung der Landbesitzer zugunsten des Industriekapitals, tritt Korruption als gängiges Mittel der bürgerlichen Unternehmerklasse auf, wirtschaftliche und politische Macht zu erringen.

Der Politologe Klaus von Beyme bescheinigt dem Korruptionsparlamentarismus der frühbürgerlichen Demokratien eine durchaus positive Funktion bei der Durchsetzung des Parlamentarismus gegenüber der Dominanz des Königs. Beyme zögert auch nicht, den korrupten Netzwerken im postsozialistischen Russland eine ähnlich positive Ordnungsfunktion zuzusprechen, welche die Dysfunktionalitäten des schwachen Staates in der Transformationsphase kompensiere. Und selbst Miklos Marschall von Transparency International hält ein bisschen Korruption unter bestimmten Umständen, z.B. zu Zeiten der sozialistischen Mangelwirtschaft, durchaus für vertretbar.

Auch wenn wir also in Osteuropa äußerlich Ähnliches beobachten, dann scheint mir der Schluss doch etwas gewagt. Wie sagt der bereits zitierte Karl Marx: Die Geschichte wiederholt sich. Einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Gegenüber den puritanischen Frühkapitalisten, die sich gegen den autokratischen Staat formierten, sind die nouveau riches Osteuropas zu einem nicht unerheblichen Anteil nicht nur Mitglieder der ehemaligen, sondern Bundesgenossen auch der neuen Nomenklatura (etwa des Systems Putin), die eine Trennung von Staat und Wirtschaft unter allen Umständen zu verhindern trachtet.

Die Relativierung der Folgen von Korruption im liberalen, modernisierungstheoretischen Paradigma führt zu einer moralischen Gleichgültigkeit gegenüber diesem ubiquitären Phänomen. Zwar hatte schon Gunnar Myrdal frühzeitig, aber folgenlos auf die durch Korruption bewirkte Unterminierung der politischen Ordnung hingewiesen. Aber erst mit der bahnbrechenden Arbeit Corruption: A Study in Political Economy von Susan Rose-Ackerman in den 80er Jahren, die die negativen Folgen der Korruption aufzeigte, kam die alte liberale Doktrin ins Wanken. Der politische Durchbruch und praktische Konsequenzen waren ihr und ihrer Revision der politischen Ökonomie der Korruption aber erst in den 90er Jahren beschieden. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches und dem Ende des kalten Krieges änderte sich die Einstellung zur Korruption schlagartig.

James D. Wolfensohn, der ehemalige Präsident der Weltbank rief geradezu prophetisch zum Kampf gegen das ›Krebsgeschwür Korruption‹ auf. Entscheidend für diese Kehrtwendung waren aber nicht wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern wirtschaftspolitische Erfahrungen. In Zeiten des Kalten Krieges konnten die USA und ihre westlichen Verbündeten ihren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einfluss geltend machen, indem sie insbesondere in den Entwicklungsländern autoritäre Regimes unterstützten, die sie auch durch illegale Operationen einschließlich Korruption von sich abhängig machten. Der Gesinnungsumschlag in den 90er Jahren erfolgte nicht zufällig nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches. Wie Ivan Krastev zeigen konnte, ist der Anti-Korruptions-Diskurs eine Reaktion auf das Scheitern US-amerikanischer Unternehmen, die Märkte in Osteuropa zu erobern, deren Zugänge durch die Netzwerke der alten und neuen Nomenklatura versperrt wurden. Um diese Netzwerke zu desavouieren und zu destabilisieren wurde u.a. auch der Antikorruptions-Diskurs eingesetzt, der wie der Kreuzzug für Demokratie etwa im Irak und in Afghanistan nicht gar so unschuldig ist. Auffällig ist der stark normative Gestus neoliberaler wirtschaftlicher und politischer Lehren.

Aber die Geltung, also sachliche Richtigkeit, des Anti-Korruptions-Diskurses kann und darf nicht auf ihre Genesis reduziert werden. Ob sachlich richtig oder nicht, Ideologiekritik ersetzt nicht die Strukturanalyse. Eine Wissenssoziologie untersucht daher sowohl die Handlungsrationalitäten (also die Motive und Gründe für ein bestimmtes Handeln) als auch die Strukturbedingungen für deren logische und empirische Geltung. Während quantitative Analysen Indikatoren konstruieren, anhand deren das Maß an Korruption und Korrumpiertheit in einer Gesellschaft ermittelt wird, rekonstruieren qualitative Analysen soziale Definitionen von Korruption und konstruieren idealtypische Modelle korrupten Handelns.

Der Antikorruptionsdiskurs seit den 90er Jahren ist dann auch durch den grundlagentheoretischen Wechsel von der akteurszentrierten zur Institutionenökonomie begleitet. Die eine, universelle Erklärung von Korruption als funktional notwendiges Übergangsphänomen im Modernisierungsprozess wurde aufgegeben und ersetzt durch Erklärungsansätze, die sensibler für die institutionellen Rahmenbedingungen korrupten Handelns und seiner Folgen sind.

Ökonomisch betrachtet ist Korruption eine rationale Handlungsoption unter Bedingungen unvollständiger Konkurrenz, also Marktversagen etwa in Übergangsphasen von vormodernen zu modernen, kapitalistischen Volkswirtschaften, aber auch in oligopolistischen oder monopolistischen Märkten spätkapitalistischer Gesellschaften. Betrachtet man nur die bilaterale Beziehung zwischen Korrumpierendem und Korrumpiertem, drohen die negativen Wirkungen von Korruption wie in der Modernisierungstheorie zu verschwinden. Die Beschränkung auf die Beziehung zwischen zwei Parteien verleitet zu einer positiven Bewertung der Korruption und zur Bagatellisierung der Opfer als Kollateralschäden, die im Sinne der behaupteten positiven, weil durch die invisible hand gesteuerten Entwicklung hingenommen werden müssen. Aber wie heißt es doch so schön: in the long run we are all dead!

Mit dieser euphemistischen Sichtweise der funktionalistischen Modernisierungstheorie hat spätestens Susan Rose-Ackerman mit ihrer politischen Ökonomie der Korruption aufgeräumt. Rose-Ackerman definiert Korruption als Handeln von Agenten in Großorganisationen, die wider das Interesse des Prinzipals handeln. Mit der Erweiterung des Modells vom homo oeconomicus zur Principal-Agent-Theorie und um die Dimension der institutionellen Einbettung wirtschaftlichen und damit auch korrupten Handelns, geraten auch organisationsbezogene Loyalitäten sowie kulturspezifische normative und emotionale Motivationen rational handelnder Wirtschaftssubjekte in den Blick. Institutionen werden dabei als Ausdruck von Verträgen betrachtet. Korrumpierter und Korrumpierender schließen stillschweigend einen Vertrag zur rationalen beiderseitigen Nutzenmaximierung. Dem Agenten und dem Klienten, korrumpierter Beamter und korrumpierender Bürger, erscheint die korrupte Beziehung als ökonomische win-win-Situation in Folge des ›Fühlungsvorteils‹ einer Netzwerkbeziehung zwischen ›Bekannten‹. Dieses scheinbare Nullsummenspiel geht aber auf Kosten eines Dritten, den durch den illegalen Vertrag ausgeschlossenen Prinzipal. Aus der Sicht des Prinzipals, hier des Staates und damit letztlich der Bürger, ist die korrupte Beziehung (und der ihr zugrundeliegende stillschweigende Vertrag) ein Verstoß gegen den Vertrag zwischen Agent und Prinzipal, Beamten und Staat. Aus einer ökonomischen Transaktion wird Korruption im Sinne eines illegalen, ja kriminellen Handelns erst im Hinblick auf den damit vollzogen Vertragsbruch im Verhältnis zu einer dritten Partei, also unter Einbezug einer juristischen Tatsache.

Hier stellt sich also die Frage, wie groß die Reichweite einer ökonomischen Erklärung von Korruption sein kann, wenn, so lehrt uns die Institutionenökonomie, das Wesen der Korruption, der Vertragsbruch, keine ökonomische, sondern eine normativ-rechtliche Kategorie ist. Im Grunde bestimmt die ökonomische Theorie auch in der Variante von Rose-Ackermann allein mögliche Anreizstrukturen für Korruption oder, wie Albert Hirschman in seinem Buch Engagement und Enttäuschung sagt, Korruptionsgelegenheiten, aber nicht die Sache selbst.

Befragen wir also die Juristen. Ihnen ist Korruption (wie Macht) ein viel zu diffuses Phänomen, um justitiabel zu sein. Im deutschen Recht werden daher auch nur abgrenzbare Tatbestände wie Amtsmissbrauch, Bestechung, Betrug, Unterschlagung, Untreue, etc. verfolgt. Allerdings wissen auch Juristen, dass der alltagssprachliche Ausdruck ›Korruption‹ durchaus eine Realität bezeichnet, nämlich die Verbindung der genannten Tatbestände zu einem über die Summe der Teile hinausgehenden Ganzen, das sich, wie gesagt, juristischem Zugriff entzieht. Es ist daher die Konstruktion einer ›Unrechtsvereinbarung‹ ins deutsche Recht eingeführt worden. Wir haben hier ein schwieriges Problem vor Augen, das zum Teil fatale Auswirkungen auf die polizeiliche Ermittlung und die Zusammenarbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern hat.

Hier nun wird der Vorschlag des Soziologen Sighard Neckel interessant. Neckel bezeichnet Korruption als unmoralischen Tausch. Der Begriff der Moralität hilft uns aus den Schwierigkeiten, in die sich ökonomische und rechtliche Definitionen von Korruption verwickeln. Neckels Bezugsgröße ist nicht mehr das öffentliche Interesse (common good) oder Recht und Gesetz, sondern sind die Grundregeln menschlichen Sozialverhaltens. Der mikroökonomische Ansatz wird hier also weitergetrieben in Richtung auf eine Analyse der mikrosozialen Grundlagen menschlichen Rollenhandelns. Rollenhandeln ist die typische Form menschlichen Sichverhaltens in der Öffentlichkeit und orientiert an universalistischen Normen, die eingehalten werden müssen, um die öffentliche Ordnung zumal einer pluralen und funktional differenzierten Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Dazu zählen z.B. die Gesetze des Marktes (Angebot und Nachfrage, freie Konkurrenz) oder die Vorschriften der öffentlichen Verwaltung (sine ira et studio). Korruption tritt dann auf, wenn hinter dem Schleier eines an universalistischen Normen orientierten Rollenhandelns in der Öffentlichkeit ein partikularistisches Austauschverhältnis zwischen Privatpersonen eingerichtet wird. Die ambivalente Einstellung zur Korruption als verwerfliches, aber nur allzumenschliches Verhalten gründet im widersprüchlichen Charakter der korrupten Beziehung. Der widersprüchliche Charakter und damit die Möglich der (Selbst-) Täuschung der Akteure rührt daher, dass auch eine korrupte Beziehung nur unter Anwendung elementarer Regeln der Sozialität überhaupt funktionieren kann. Eine korrupte Beziehung beruht wie jede soziale Beziehung auf dem Prinzip der Reziprozität, die besagt, dass eine Gabe erwidert, also für eine Leistung eine Gegenleistung gewährt oder (im Falle des Geldverkehrs) ein Preis gezahlt werden muss. Korruption nun ist aber nur vordergründig ein bloßer Tausch von Objekten. Im Unterschied zum Kauf, bei dem die soziale Beziehung anonym, sachlich und ohne dauerhafte Verpflichtungen abgewickelt wird, verpfändet sich der Korrumpierte als Person. Neckel nennt Korruption deshalb unmoralisch, weil hier etwas ›veräußert‹ wird, was nicht ›käuflich‹ ist, die ›Person‹, der Anstand, die Würde des Menschen. Sie ist nämlich das geheime Unterpfand der korrupten Beziehung. Person, Anstand, Würde sind aber unveräußerlich und nicht käuflich, weil sie das Grundvertrauen garantieren, auf dem überhaupt erst soziale Beziehungen wie ein Tauschverhältnis eingegangen werden. Setzt man also diese als Unterpfand eines Geschäfts ein, zerstört man die Handlungsfähigkeit der sich verpfändenden Person. Dass es dazu kommt, wird nur verständlich in Anbetracht einer verschleierten Vermischung zweier Typen sozialer Beziehung und der ihnen jeweils entsprechenden Typisierung der Handelnden: Geschäft und Freundschaft.

Ein korrupter Beamter handelt unmoralisch, weil er, erstens, eine im Rahmen seiner Amtstätigkeit nach generalisierten Normen geregelte Klientenbeziehung (sine ira et studio) als persönliche Beziehung zu einem ›guten Bekannten‹ oder ›Freund‹ behandelt und sich dabei an partikularistischen Werten orientiert. Klienten müssen alle sachlich und gleich als ›Fälle‹ behandelt werden, Freunde und Verwandte dagegen persönlich und privilegiert. In der korrupten Beziehung kollidieren also diese beiden inkompatiblen Wertbezüge. Der Beamte handelt, zweitens, auch deshalb unmoralisch, weil er vorgibt im Sinne einer Freundschaftsbeziehung zu handeln, aber diese im Rahmen einer Zweckbeziehung als Mittel einsetzt und durch diese instrumentelle Inanspruchnahme den Sinngehalt der Freundschaft aufgibt bzw. sich und dem anderen eine solche nur vortäuscht. Der Korrumpierende wiederum handelt unmoralisch, weil er im Rahmen einer reinen Zweckbekanntschaft illegitimerweise einen Freundschaftsdienst verlangt, der gar nicht in der Freiheit der Freundschaft begründet ist, sondern im Zwang, der aus dem latent drohenden Verrat resultiert, also aus einer illegitimen Abhängigkeits- oder Machtbeziehung. Der Korrumpierende ist ein unmoralischer Verführer, der sich als Freund tarnt. Nicht nur dass sich der Korrumpierte ökonomisch gesehen selbst schädigt, weil der Beamte als Steuerbürger letztlich für den Schaden, den er angerichtet, aufkommen muss. Er macht sich auch rechtlich strafbar, weil er gegen seinen Arbeitsvertrag verstößt. Unmoral ist also, in der Sprache der Philosophen, ein performativer Selbstwiderspruch, im Falle der Korruption durch die Inanspruchnahme einer allgemeinen Regel und die Exklusivität ihrer Anwendung. Unmoral ist schließlich aber auch Selbstbetrug, der im Hinblick auf die Natur der korrupten Beziehung die moralische Identität und Persönlichkeit zerstört und damit das Fundament einer freien Gesellschaft.

Diese Erklärung der Korruption als unmoralischer Tausch gibt Aufschluss über die mikrosoziale Binnenstruktur korrupter Sozialbeziehungen. Sie lässt uns erkennen, dass Korruption die Ausnutzung elementarer Strukturen des Sozialen ist und deshalb als etwas Allzumenschliches erscheint, das nur schwer von Anstand und Moral unterschieden werden kann. Korruption gilt daher als das zweitälteste Gewerbe der Menschheit und als so etwas wie eine anthropologische Konstante, die allerdings in der Moderne eine eigene Bedeutung oder zumindest Bedeutungsnuance angenommen hat. Korruption bedeutet immer Amtsmissbrauch. Allerdings ändert sich geschichtlich das Amtsverständnis und die Auffassung von ›öffentlicher Moral‹ oder ›Gemeinsinn‹. Im Mittelalter waren Ämter käuflich und durften als private ›Pfründe‹ geplündert werden.

Die Theorie der Korruption als unmoralischer Tausch verknüpft eine universelle Grundregel menschlicher Sozialität (Reziprozität) mit dem historischen, nämlich modernen Konzept einer universalistischen Moral und gilt nur für die moderne Epoche. Ihrem Wesen und Anspruch nach universalistische Normen und Werte gelten nicht per se universell. Vormoderne, sogenannte traditionale Gesellschaften erheben universelle Geltungsansprüche für partikularistische Ansichten und Werte und es ist die Idee von Modernität, auch nur ihrem Wesen nach universalistischen Prinzipien (etwa dem Dekalog und den Menschenrechten) universelle Geltung zuzusprechen und partikularistische Werte (z.B. religiöser Art) als Privatsache anzusehen. Mit anderen Worten: Moralität ist Ausdruck einer Geisteshaltung, einer historischen Weltanschauung und wir müssen daher klären, was die sozio-historischen oder kulturellen Geltungsbedingungen der moralischen Prinzipien sind, die im Modell der Korruption als unmoralischem Tausch in Anspruch genommen werden.

Private Bereicherung und soziales Engagement ergänzten sich selbst für das liberale Bürgertum noch auf angenehme Weise, die in Adam Smiths Metapher von der ›invisible hand‹ ihre ideologische Bestätigung fand. Nach Albert Hirschman hat die moderne Ideologie, strikt zwischen öffentlicher und privater Sphäre zu trennen, zur Folge, dass deren ›schamlose Vermengung‹ als Korruption gilt, die Max Weber noch wertfrei als Patrimonialismus beschrieben hat, der, wie bereits angedeutet, bis ins 19. Jahrhundert vorherrschte. Niklas Luhmann knüpft hier an und erklärt Korruption ebenfalls als Folge der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften. Historisch zwangsläufig entsteht unter diesen Bedingungen ein Konflikt zwischen archaischer Netzwerklogik, die ins Private abgedrängt wird, und moderner Verfahrenslogik, die im öffentlichen Leben verpflichtend wird. Wie in der Theorie der Korruption als moralischer Tausch geht Luhmann von der solidaritätsstiftenden Wirkung der Gabe oder des Geschenks in Beziehungsnetzwerken aus, wie wir sie in traditionalen Gesellschaften finden. Korruption ist nach Luhmann nichts anderes als die moralisch negativ bewertete Fortexistenz solcher persönlicher Netzwerkbeziehungen in modernen funktional differenzierten Gesellschaften, deren formalrationale Systemlogiken mit der an materiellen Ansprüchen orientierten Netzwerklogik unverträglich sind.

Im Rahmen einer Soziologie der funktionalen Differenzierung wird das mikrosoziale Binnengeschehen zwischen Korrumpierendem und Korrumpierten um die Figur des Dritten erweitert. Als Figur des Dritten figuriert bei Luhmann nicht das Opfer, der Prinzipal, weder in Gestalt des Staates noch der Gesellschaft, sondern die Organisation. Die Motivation zum Handeln in korrupter Beziehung und der ihr immanente Wertekonflikt wird, so Luhmann, erst verständlich unter Berücksichtigung des Organisationsaspekts. Das hatte Rose-Ackerman auch schon behauptet und die Frage nach den Organisationsloyalitäten aufgeworfen. Allerdings ist ihr Organisationsbegriff aus soziologischer Sicht zu unspezifisch und verschwimmt mit Staat und Gesellschaft. Das Prinzip der Organisation ist nach Luhmann die typische Form der Lösung des modernen Konflikts zwischen Anrechten und Angeboten, Politik und Wirtschaft, Citoyen und Bourgeois im Sinne Ralf Dahrendorfs.

Organisationen gehören zum einen einer spezifischen Sphäre an, sind z.B. Wirtschaftsorganisationen, politische Organisationen, staatliche Verwaltungsorganisationen, zivilgesellschaftliche Organisationen, etc. Gleichzeitig beziehen sie sich aber auch auf die Gesellschaft und die anderen Bereiche. Daraus ergeben sich zwangsläufig Zielkonflikte und eine Vermischung der Handlungslogiken. Wirtschaftsorganisationen handeln nicht nur ökonomisch, sondern z.B. auch politisch, so wie umgekehrt politische Organisationen, z.B. Parteien, bei ihren Entscheidungen auch ökonomischen Einflüssen unterliegen. Die Einflußnahme ökonomischer Akteure auf die Politik und politischer Akteure auf die Wirtschaft gilt heutzutage als korrupt.

Im Principal-Agent-Modell wird Korruption auf einen Kontrollverlust des Prinzipals zurückgeführt, der sich aus Desinteresse oder Nichtwissen mitschuldig macht, so dass Korruption letztlich auf menschliche Schwäche zurückgeführt wird. Sighard Neckel zeigt die sozial-moralischen Wurzeln der Korruption auf und Albert Hirschman die sozio-kulturelle Formation einer ›öffentlichen Moral‹ oder eines Gemeinsinns, die Korruption als ideologischen Effekt (heute spricht von vornehm von ›sozialer Konstruktion‹) hervorbringt. Luhmann kombiniert das strukturelle und das moralische Argument im Rahmen einer systemtheoretischen Erklärung.

Wie Hirschman führt er Korruption nicht auf universell-anthropologische, sondern auf soziale Ursachen zurück: nämlich die Modernisierung der Gesellschaft. Korruption ist aber nicht wie in Huntingtons Theorie der Modernisierung Folge eines Strukturdefekts (unvollständige Konkurrenz, Bürokratisierung, defekte Demokratie i.S: Merkels, also Staats- und / oder Marktversagen), sondern geradezu eine notwendige Nebenfolge der funktionalen Differenzierung oder der Komplexität moderner Gesellschaften und, in diesem Rahmen, Folge einer selektiven Selbstbeobachtung oder (Selbstbeschreibungs-) Semantik der Gesellschaftsmitglieder.

Auf dieser Grundlage lässt sich ein weiterer Streitpunkt in der wissenschaftlichen Diskussion über die Definition von Korruption aufklären. Für Luhmann ist Korruption eine normative Kategorie, die sich aber wissenschaftlich wertfrei als Struktureffekt erklären lässt, nämlich als Abwertung von persönlichen Vertrauens- und Solidaritätsbeziehungen, wie sie durch traditionelle (›vormoderne‹) Netzwerke zwischen Verwandten und Bekannten gestiftet wird, zugunsten unpersönlichen Systemvertrauens in formalen Organisationen. Die wissenschaftliche Erklärung (explanans) der Korruption muss selbstverständlich wertfrei sein. Allerdings ist der Gegenstand der Sozialwissenschaften (explanandum) von Natur aus eine moralische Tatsache. Die Frage muss aus soziologischer Sicht daher lauten: Was sind die empirischen sozialen Geltungsbedingungen der modernen Korruptionssemantik? Das Verhältnis zwischen Semantik und Sozialstruktur (oder in einer etwas altehrwürdigen Sprache: Bewusstsein und materiellem Sein) ist Gegenstand unseres Forschungsprojekts.

Eine Typologie der Korruption

Ich hatte davon gesprochen, dass sich die Soziologie mit Definitionen beschäftigt und zwar mit Definitionen von dem, was die Menschen als Realität ansehen. Die Gegenstände, Situationen und Mitmenschen, denen die Menschen im Alltag begegnen, sind immer schon typisierte Gegenstände, Situationen und Mitmenschen, z.B. österreichische Mehlspeisen, eine International Summer School und Polizisten, Juristen und Akademiker usw. Alle diese Definitionen sind Handlungsanweisungen: mit Mehlspeisen beendet man eine Mahlzeit, Summer Schools sollten auch ein interessantes Rahmenprogramm bieten, Polizisten verhaften Verbrecher, Juristen bringen sie hinter Gitter und Akademiker bleiben meist unverstanden.

Ich möchte nun meinen Beitrag abschließen mit einer Typologie der Korruption und erklären, wie diese Definitionen funktionieren.

In der Regel unterscheidet man zwei Grundtypen der Korruption, die man beliebig untergliedern kann: petty corruption und grand corruption. Das klassische Beispiel für die alltägliche Bagatell- oder Gelegenheitskorruption ist das Bakschisch, das man als kleine Gefälligkeit entrichtet, wenn man bei Rot über die Ampel fährt und von den unterbezahlten Kollegen von der Polizei herzlich begrüßt wird, die dann von einer Anzeige absehen. Das kann in Rumänien funktionieren, aber sicherlich nicht in der Schweiz – was nun nicht so sehr mit den Einkommensunterschieden, sondern vielmehr mit der ›öffentlichen Moral‹, also mit dem regionalen Brauchtum zu tun hat.

Das vielleicht berühmteste Beispiel für grand corruption ist die Mafia auf Sizilien. Typisch für diese Form der strukturellen Korruption ist 1. sie ist organisiert, 2. die Bestechung ist nur Teil einer Gesamtheit von kriminellen Tatbeständen wie Betrug, Unterschlagung, Erpressung, Vorteilsnahme, usw. und 3. ist sie mit Gewalt verbunden.

Die Mafia in Sizilien, die Camorra in Neapel, die Ndrangheta in Kalabrien, die Yakuza in Japan, die chinesischen Triaden etc, sind traditionale Netzwerke – sie nennen sich selbst Familie, Bruderschaft – mit einem eigenen Moralkodex, der nach den Regeln der direkten Reziprozität funktioniert: Auge um Auge, Zahn um Zahn … Dieses illegale Netzwerk beruht auf einer Patron-Klienten Beziehung mit wechselseitigen, unkündbaren Vertrauens-und Verpflichtungsbeziehungen. Wir haben es hier also mit der Weiterexistenz vormoderner Sozialbeziehungen zu tun, die Max Weber Patrimonialismus nannte und die eine Art politische Haushaltswirtschaft darstellt, die im großen Stil im Realsozialismus gepflegt wurde und mit deren Hinterlassenschaft wir in den postsozialistischen Transformationsgesellschaften zu kämpfen haben. Zentrales Merkmal dieser Form strukturierter Korruption ist die Einheit von politischer und wirtschaftlicher Macht. So konnten wir in den letzten Jahren beobachten, wie in Osteuropa die Mitglieder der alten und neuen Nomenklatura, zu der auch die Securitate gehörte bzw. gehört, ihr soziales Kapital in ökonomisches Kapital konvertierte wie z.B. in Russland unter Putin.

Auch in modernen ›westlichen‹ Ländern wie Italien bedrohen mafiaähnliche Organisationen die Grundlagen der gesellschaftlichen Ordnung durch eine Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft. Allerdings gibt es einen gravierenden Unterschied: In Italien etwa können sich Wirtschaftsmagnaten wie Berlusconi ein politisches Amt kaufen, was als weniger anrüchig gilt als der umgekehrte Fall in Osteuropa.

Der italienische Fall ist eine Mischung aus der traditionalen Form struktureller Korruption (kritisches Merkmal: Gewalt) mit einer modernen Form struktureller Korruption, wie wir sie in Deutschland, etwa im Fall Siemens, vor uns haben. Hier gibt es keine Gewalt, kein organisiertes Verbrechen und nur Ehrenmänner. Typisch für diese Form der Korruption ist der Beratervertrag. Beratung ist immer da von Nöten, wo ein Nichtwissen existiert – und das wird hier bewusst inszeniert. Das Risiko wird durch outsourcing minimiert. Während der Patron (Pate oder Oyabun, japanisch für Vater) alles weiß und wie Roberto Saviano in seinem Buch über die Commorra schreibt, auch in der Gewißheit lebt, irgendwann bezahlen und wie ein Westernheld im Kugelhagel sterben zu müssen, wissen Helmut Kohl und Herr von Pierer gar nichts und leben in Frieden bis ans Ende ihrer Tage. Die Täter, die man dann auch erwischt, sind zum einen die Berater und zum anderen die mittleren Chargen, das operative Management, das sich die Finger schmutzig machen muss, damit die Hemden der Vorstände sauber bleiben können.

Wie Britta Bannenberg zeigen konnte, ist der typische Korrupte heute der Aufsteiger – auch die Mafia oder Yakuze waren ja politische Organisationen der sozial Benachteiligten, die zu illegalen Wirtschaftsunternehmen wurden. Aufsteiger sind risikobewusst und zeigen notwendigerweise wenig soziales Verantwortungsbewusstsein. Ich erinnere mich noch, als ich Anfang der 90er Jahre, also kurz nach der ›Wende‹, im Rahmen einer Studie über Neue Unternehmer in Ostdeutschland an einem Existenzgründerlehrgang teilnahm, in dem der Dozent aus Westdeutschland den angehenden Kapitalisten vor allem eine sozialistische Erbschaft auszutreiben versuchte, die ihrem Erfolg im Wege stehen würde, soziale Verantwortung. Diese Form der strukturellen Korruption funktioniert nach der Regel der extended reciprocity. Gezahlt wird nicht unmittelbar in Geld, sondern mit sozialem Kapital, d.h. Chancen sozialen Aufstiegs, der dann später mit höherem Einkommen verbunden ist.

Hier herrscht keine Patron-Klienten-Beziehung, sondern ein rationaler Arbeitsvertrag zwischen Boss und Mitarbeiter. Allerdings wird dieses Arbeitsverhältnis moralisch abgesichert durch eine eher militärische Form der Kameraderie. Bei Siemens sprach man von ›Siemens-Soldaten‹, die nur ihre Pflicht erfüllen und die im Gegenzug von der Organisation im Falle polizeilicher und gerichtlicher Verfolgung juristischen Beistand und Lohnfortzahlung auch im Falle der Arbeitslosigkeit wegen Gefängnisaufenthalt erwarten können. Was mit den sogenannten Beratern geschieht, interessiert die Organisation nicht, weil die Berater als freelancer auf eigenes Risiko arbeiten, für deren Arbeitsweise die Organisation nicht verantwortlich ist. Außerdem erfahren Organisationen wie Siemens auch im Falle eines Korruptionsskandals politische Rückendeckung. Die Bayrische Staatskanzlei drängte die Staatsanwaltschaft, das Verfahren einzustellen, um nicht ein deutsches Vorzeigeunternehmen und das Ansehen Bayerns als Wirtschaftsstandort zu beschädigen. Und im Übrigen: Warum soll Herr von Pierer anders behandelt werden als Helmuth Kohl. Das wäre nicht gerecht.