Renate Solbach: Brechung

Geschrieben von Ulrich Schödlbauer

1.

Warum bin ich Demokrat? Eine Sache der Geburt? Eher nicht. Von Geburt ist jeder Mensch Autokrat. Er will beherrscht werden oder herrschen. Gleichbehandlung? Ein Muss, solange er davon profitiert. Schon vergessen, sobald die erste Auszeichnung winkt. Der demokratische Affekt, den ich lebhaft empfinde, er wurde mir eingeschrieben. Durch wen? Durch was? Ich weiß es nicht. Erinnerung hilft nicht, sie verwirrt eher. War es diese Person oder jene? Schule, Zeitung, Fernsehen, die erste Demo? Macht einen das zum Demokraten? Ich wage es zu bezweifeln. Was nicht heißt, dass ich mit meinen Ansichten allein stünde – noch nicht. Denn der gemeinsame Affekt, ich vermisse ihn mehr und mehr. Nein, ich will mich nicht mockieren, schon gar nicht auftrumpfen, aber: ich vermisse ihn – wie gesagt, nicht absolut, doch von Woche zu Woche ein wenig mehr.

Ein Demokrat – wer ist das? Ein Anhänger der Demokratie? Was ist das: Demokratie? Eine Regierungsform, gut, eine, in der das Volk herrscht, auch gut: Verarschen kann jeder sich selbst. Wir, das heißt die Deutschen, leben in einer Demokratie: Das wissen wir, das ist gut, das ist bequem, kein Kommandoleben, keine Gesinnungspolizei, offene Grenzen, der Wechselkurs stimmt, die Regale sind voll, die Medien … auf die kommen wir später. Die Demokratie schützt die Menschenrechte, die Freiheit des Individuums, der Religionsausübung, der sexuellen Orientierung, der Partnerwahl, sie schützt die Rede, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Sie stärkt die Schwachen, jedenfalls hin und wieder. Warum? Weil es das Volk so will? Nun ja, mit ein wenig Nachhilfe, ja.

2.

Ein Demokrat, wer ist das? Einer, der zufällig in einer Demokratie lebt? Einer, der in einer Demokratie leben will? Einer, der persönliche Anstrengungen unternimmt, um in einer Demokratie zu leben? Einer, der für Demokratie eintritt? Kämpft? Im eigenen Land? In fremden Ländern? Mit welchen Mitteln? Einer, der die Auffassung vertritt, er sei das Volk und sein Wille müsse geschehen?

Ich habe, solange ich denken kann, in einer Demokratie gelebt. Ich habe gut in ihr und gut mit ihr gelebt. Ich bilde mir ein, ich hätte in einer Demokratie leben wollen, hätte mich das Los in einer Diktatur zur Welt kommen lassen. Eher selten habe ich geglaubt, ich sei das Volk – genau gesagt: nie, weder allein noch mit anderen, wie es so sinnig im katholischen Beichtspiegel heißt. Ich hänge auch nicht dem Glauben an, ich müsse ›das Volk‹ belehren. Ebenso wenig habe ich geglaubt, ich müsste ›in die Politik gehen‹, weil es die Pflicht eines jeden aufrechten Demokraten sei, ein Leben lang für seine Überzeugungen zu kämpfen.

Dagegen bin ich immer gern wählen gegangen. Es hat mich beruhigt, dass es zu wählen gab. Nicht immer war die Auswahl nach meinem Geschmack. Aber wo ist sie das schon? Irgendwann regte sich mein demokratischer Affekt, als jemand in meiner Umgebung sagte: »Das bringt doch nichts.« Um genau zu sein, es war nicht ›jemand‹, ein naher Bekannter, ein Freund, Jugend ist in diesem Punkt großzügig, kein Pinochet-Freund, kein Rassist, kein Militarist, kein Hitler-, kein Stalin-Verehrer, ich hielt ihn für ›links‹, er sich auch, keine große Sache zwischen uns beiden, bis dieser Satz fiel: »Das bringt doch nichts.« Er brachte mich in Rage.

Ich habe ihn oft gehört. Manchmal aus dem Munde von Zynikern, häufiger von Leuten, die sich enttäuscht von der Politik, wie sie meinten, abgewandt hatten, nicht selten aus dem Munde von Aktivisten, die, wenn es hätte sein müssen, ins Gefängnis gegangen wären, um einem Ölkonzern oder einer Chemiefirma in die Giftsuppe zu spucken. Am meisten störte es mich, wenn er aus den Reihen der nachkommenden Generation kam: »Das bringt doch nichts.«

Was soll was bringen?

›Den Urknall wählen‹ – so müsste der Wahlaufruf lauten, der Wahlverächter in die Kabinen triebe: Du wirfst einen Zettel ein und die Welt, vom Zaubergriffel berührt, gestaltet sich neu. Die Bösewichter stolpern vom Acker, Armut und Elend legen sich in den Straßengraben und schlafen ihre Räusche aus, Menschen deines Vertrauens schweben von fernen Planeten ein und organisieren den Abwasch, glänzende Gesichter, wohin das Auge blickt, leise prickelnd ertönt der Alabama-Song und Seeräuber-Jenny legt dem großen Gatsby die Karten. Du kontrollierst deine Kontoauszüge und stellst befriedigt fest: Geht doch! Du entdeckst die Luxuskarosse am Wegrand und probierst den Schlüssel, der wie zufällig in deiner Tasche steckt: Geht doch! Du prüfst die Badetemperatur des Eismeers, das dich schon immer lockte: Geht doch! Du gehst zur Stoßzeit am Ring spazieren und ziehst die frische Gebirgsluft ein: Geht doch! Du schaltest den Fernseher ein und genießt dein erstes Interview: Geht doch! Wer immer gestern oder vorgestern deinen Unmut erregte – da rennen sie wie die Hasen: Geht doch! Du steigst ins Bett und – halt! No sexism, please.

Nein, es bringt wirklich nichts. Es verhindert etwas – keine Wahl zu haben, nicht die geringste, der Willkür von Menschen ausgeliefert zu sein, die wissen, dass niemand sie zur Rechenschaft ziehen kann, abgesehen vielleicht von ihren Paten und Drahtziehern im Hintergrund, die herrschen, ohne für alle sichtbar in Erscheinung zu treten. Wer erst zur Wahl gehen möchte, wenn er sicher sein kann, dass seine Gesinnung auch siegen wird, der lebt bereits unter dem Diktat einer Gesinnung, die keine Abweichung zulässt.

3.

Ich habe ein Faible für Bürgerrechtler. Ich habe sie immer geschätzt, vor allem dann, wenn persönlicher Mut oder ein unbestechliches Urteil sie vor ihren Mitmenschen auszeichneten. Ich habe sie zu ihrer Zeit bewundert, die Havemanns und Havels – auch Biermann. Ich empfinde Respekt vor der Person eines Julian Assange in seinem Londoner Stuben-Exil. Ich glaube die Gründe zu verstehen, aus denen er Regierungen, Bürokraten und Machtbesessene zur Weißglut bringt: dieser Antagonismus ist Teil des Ringens um eine demokratische, offene, friedliche, menschenwürdige Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens auf dem Planeten.

Deutlich weniger Respekt, vorsichtig gesprochen, empfinde ich gegenüber Automaten, an denen jeder, der sich als kritischer Bürger vor sich selbst und seiner nahen Umgebung positionieren möchte, gegen ein überschaubares, d.h. äußerst geringes Entgelt sein Urteil abgeben kann – ›abgeben‹ in des Wortes zweifacher Bedeutung: Ich habe keine Ahnung, was da vorgeht, meine Zeit ist begrenzt, ihr kennt euch da aus, ich vertraue euch, ihr habt mein Wort, ich bin dabei. Dieses Dabeisein vor jedem konkreten Anlass, vor jeder gründlichen Prüfung, vor Erfüllung der Pflicht, sich in öffentlichen Dingen nach bestem Wissen und Gewissen zu informieren, bevor man seine Stimme erhebt – oder abgibt –, ist zum Fluch des digitalen Zeitalters geworden. Es verwandelt Menschen in Mitläufer, in Gesinnungshechler und -heuchler, im schlimmsten Fall in eine Hetzmeute ohne Sinn für Maß, Proportion und Anstand. Gleichzeitig stellt es eine umfassende Einladung zu Manipulation, Korruption und Beutelschneiderei auf Seiten derer dar, die den Protest formulieren und organisieren.

4.

Man kann das Vertrauen in die Führung seines Landes verlieren – das soll vorkommen, es kommt öfter vor als es Gedankenlosigkeit wahrhaben will. Was gerade noch als spannende, eher sportliche Möglichkeit gesehen wurde – eine Regierung abwählen zu können –, lädt sich unversehens oder von langer Hand mit existenziellen Sorgen und Ängsten, mit ethischen Überzeugungen und Reflexionen zur Weltlage oder zum Zustand des Gemeinwesens auf, die eine bestimmte Wahl zwingend erscheinen lassen. Wer in einem solchen Fall keine Wahl hat, dem bleibt nur der bittere Weg in den Widerstand. Dafür bedarf es allerdings einer Voraussetzung: Es müssen gute, triftige, schwerwiegende Gründe sein, die radikalen Vertrauensentzug rechtfertigen. Sich aufs Hörensagen, auf leichtfertig ausgestreute Gerüchte, auf ein allgemeines Lebens- und Zeitgefühl zu verlassen, ohne persönlich der Sache wenigstens ein Stück weit nachgegangen zu sein, ohne eine individuelle Verstehensleistung, welcher Art auch immer, erbracht zu haben, erhöht signifikant die Wahrscheinlichkeit, sich lächerlich zu machen.

Manche Mitbürger sind aus ideologisch unterfütterter Angst vor dem wiedervereinigten Deutschland in andere Länder migriert – was ihr gutes Recht war –, ich denke nicht, dass es angebracht wäre, für ihren dramatischen Entschluss den hehren und heiklen Namen des Exils zu bemühen. In einer Zeit, in der als Flüchtling gilt, wer seinen Pass wegwirft, um in den Ländern des Reichtums ein satteres Leben zu beginnen, genügt es nicht, rechtskonform zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen zu differenzieren. Erhellender wäre es, zwischen Not- und Systemflüchtlingen zu unterscheiden, also zwischen Flüchtlingen, die einer persönlichen Notlage, und solchen, die der Not aller entgehen wollen. Die Zwangslage des klassischen Exilanten entsteht exakt dort, wo die Not aller zur persönlichen Not wird – gleichgültig, ob eigenes politisches Handeln oder der unprovozierte Zugriff der Machthaber und ihrer Büttel auf die markierte Einzelexistenz dafür ursächlich ist oder ein Vernichtungskrieg gegen eigene oder fremde Bevölkerungen die elementarsten Lebensgrundlagen zerstört.

Auch theoretisch unterfütterte Systemkritik ist vor Fehlurteilen nicht gefeit – im Ganzen wie im Einzelnen. Hier liegt eine Grenze des bürgerlichen Heldentums à la Chomsky, also des nicht so seltenen Falls, dass jemand seine im bürgerlichen Beruf gewonnene Reputation öffentlich einsetzt, um einer Weltsicht zu Diensten zu sein, die keineswegs falsch sein muss, aber notwendig Verzerrungen unterliegt, sobald sie ›Bewegung‹ wird.

Das liegt an der Bewegung.

Analytische und politische Urteile beruhen auf unterschiedlichen Voraussetzungen und werden auf unterschiedliche Weise gebildet. Analytische Urteile liegen jeder Entscheidung zugrunde, es sei denn, jemand entscheidet blind – und selbst für einen solchen Entschluss ließen sich Gründe auftreiben, die einer mehr oder weniger fundierten Weltbeschreibung entstammen –, aber sie sind selbst nicht entschieden in dem Sinn, dass sie einer Partei zum Sieg oder zur Durchsetzung ihrer Weltsicht in praktischer Hinsicht verhelfen sollen.

Das Verhältnis zwischen beiden Weisen zu urteilen lässt sich am besten mit Begriffen institutionalisierter Arbeitsteilung beschreiben: Was Abteilung A erarbeitet, dient Abteilung B als auszuwertendes Material – et vice versa. Man muss nicht das Wörtchen ›objektiv‹ bemühen, um die Tätigkeit von A zu beschreiben, es genügt, den Gegner aus dem Puzzle zu eliminieren und unterschiedliche Akteure gelten zu lassen, also zu gestatten, dass stets mehrere Akteure im Ganzen vertreten sind und ihre Ziele verfolgen, ohne einzelnen von ihnen – oder einem allein – die Verantwortung für eine verfehlte Welt aufzubürden. Man braucht auch nicht das Wörtchen ›subjektiv‹ zu bemühen, um Parteinahme zu begründen – Parteien gehören zum Leben, man kann sie weder subjektiv noch objektiv nennen, weder gut noch böse, sie sind, wie nicht anders zu erwarten, teilnehmend, eingreifend, anteilnehmend, vorteilnehmend, vorwegnehmend – parteiisch.

5.

Zu Zeiten Helmut Kohls kursierte in der Bundesrepublik ein geflügeltes Wort: Sich nicht verkohlen lassen, soll heißen, sich nicht durch eine Suada den Blick auf die Welt vernebeln zu lassen, die wie ein Magnet funktioniert: Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich und wird von mir abgestoßen – ein das Physiologische streifender Vorgang, in Gang gesetzt durch eine zweckmäßig deformierte, nur einen autorisierten Sprecher zulassende Sprache, die dem sprachunkundigen, auf Übersetzungen angewiesenen Ausland notwendigerweise verborgen blieb.

Der Sprecher ging, die Peinlichkeit hat sich erhalten. Vieles von dem, was Regierende von sich geben, ist Regierten peinlich, sie bessern heimlich auf eigene Faust nach und werden so zu Verstrickten, die auf offene Kritik mit Wut und Distanzlosigkeit reagieren. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Sie haben die Fähigkeit zur Distanz verloren, weil ihre eigene, fremdgeleitete Scham sie regiert. Sie haben schon keine Wahl mehr – und das, bevor sie ihnen durch das schamlose Paktieren von Parteien entzogen wird, die sich in ihren Pfründen eingenistet haben und Opposition nur noch zur Gesichtswahrung betreiben. Die Abgestoßenen hingegen gehen der Wahl verlustig, weil es für sie kein Wägen mehr gibt – sie sind draußen und müssen, als approbierte Spielverderber, sich gedulden, bis der übermächtige Akteur das Spiel verlässt.

Es gibt, genau besehen, kaum ein heikleres Wort für die Demokratie als jenes »Wir schaffen das!«, in dem Partei und Gesellschaft zu einem Zwittergebilde verschmolzen werden, das keine abweichende Stimme durchdringen lässt und gegen jeden Dissens inner- und außerhalb der Partei die Gemeinschaft der Rechtgläubigen auffährt, der niemand entrinnt. Ausschluss geht über Abstoßung deutlich hinaus, er beschränkt sich nicht darauf, Gesellschaft zu korrumpieren – nichts fällt leichter als das –, er ist auf Zerstörung aus, auf erpresste Versöhnung, um den Ausdruck Theodor W. Adornos zu gebrauchen. Denn eine Gemeinschaft der nicht Ausgeschlossenen, den drohenden Ausschluss täglich vor Augen, wird von Reflexen anderer Art beherrscht als eine Gemeinschaft von Demokraten, die nichts als Gesellschaft sein will – ideenoffen, weltoffen, erfahrungsoffen, veränderungsoffen, widerspruchsoffen, auf jeden Einspruch gefasst und bereit, ihn zu verhandeln.

Wer einmal in vier Jahren wählen geht, muss darauf hoffen dürfen, dass zumindest die von ihm Gewählten für die Dauer der Wahlperiode eine Wahl haben, sofern und sooft es etwas abzustimmen gilt – andernfalls bräuchte er nicht auf ihr Urteil vertrauen. Repräsentative Demokratie, vulgo ›Volksherrschaft‹, ist nicht die Herrschaft des Volkes durch das Volk, sondern vertrauensvolle Delegation des eigenen urteilsgestützten Handelns auf Zeit. Nicht delegieren lässt sich das Urteilsvermögen der Bürger, es bleibt erhalten und überwacht die Kontrolleure der Macht. Gehen sie, durch eigenes oder fremdes Versagen, ihrer Funktion verlustig, so schwindet der demokratische Sinn der Institutionen. Demokratie ohne Wählervertrauen ist ein leeres Spektakel.

6.

Ein Demokrat, wer ist das? Demokrat ist, wer die Wahl hat und zu haben wünscht. Einer, der nicht mehr frei ist, seine Wahl zu treffen, sei es, dass er nicht länger sein Recht auf freie Information ausübt, sei es, dass der Hass auf den politischen Gegner ihm den Blick auf das verdunkelt, was vor seinen Augen geschieht, sei es, dass er in die Enge getrieben, seine Stimme erpresst, erzwungen oder einfach gekauft wurde, sei es, dass er ›das System‹ in Bausch und Bogen verachtet und durch Verhältnisse ersetzt zu sehen wünscht, in denen ›die Geschichte‹, die herbeiphantasierte ›freie Assoziation der Gesellschaftsglieder‹, der perennierende Geschlechterkampf, die je eigene Ethnie oder ihr polarer ideologischer Zwilling, die ›Weltgesellschaft‹, wirkliche oder eingebildete Ressourcenknappheit (und die entsprechenden Kämpfe), die Technologie der Zukunft oder irgendein geglaubtes X das mitmenschliche Handeln selbsttätig regelt, mag ein guter, vielleicht sogar ein kluger und persönlich rechtschaffener Mensch sein, aber er ist sicherlich kein Demokrat.

Eine Politik, die den Gedanken zulässt oder tätig befördert, der politische Gegner sei mein persönlicher Feind, gegen den zur Wehr zu setzen mir jedes Mittel der Diffamierung, der materiellen Schädigung, der Exklusion überall dort, wo ich Hausrecht besitze oder beanspruche, der unbestimmten Drohung, der konkreten, aus der Anonymität auftauchenden und in ihr verschwindenden Gewalt recht sein darf – eine solche Politik ist nicht bloß ›menschenverachtend‹, wie man gelegentlich hören kann (eine selbst gewalttätige Vokabel, sobald ihr Gebrauch den gar nicht so engen Bezirk wirklicher Menschenverachtung und entsprechender Gewaltpraxis verlässt), sie zerstört vielmehr die Grundlagen demokratischer Praxis und damit früher oder später die Demokratie selbst.

7.

Um das zu verstehen, muss der Begriff der ›Wahl‹ ein wenig erweitert werden. Demokratische Wahl vollzieht sich idealiter in einer Atmosphäre der Angstfreiheit, der gegebenen und gefühlten Sicherheit vor Denunziation, Verfolgung und Bestrafung, vor Bedrängung und Bedrängnis und auch davor, dass einem nächtens das Auto abgefackelt, die Bürotür mit Parolen beschmiert oder die Facebook-Seite mit Schmäh- und Drohkommentaren überzogen wird. In dieser idealen Atmosphäre ergeben sich die einzigen Folgen, die Wähler zu gewärtigen haben, aus der Wahl selbst, das heißt aus den Programmen, den Charakteren und dem konkreten Regierungshandeln der Gewählten – was nicht bedeuten muss, dass alle Folgen von den Wählern bedacht und von vornherein für gut befunden sein müssen.

Die demokratische Atmosphäre eines Landes ist daher keineswegs ein Glücksarom, ein Anregungspotenzial für sprach- und landeslustige Touristen oder für reisende Journalisten, die nicht wissen, was sie über die politischen Zustände eines fremden Landes berichten sollen. Sie ist überhaupt nichts Atmosphärisches, das mit dem nächsten Windhauch verfliegt und wiederkehrt. Sie ist nichts weiter als das, was auf einer anderen Ebene der Verständigung ›demokratische Kultur‹ heißt. Demokratie und Kultur gehören zusammen, das eine geht aus dem anderen hervor und es bleibt ihm mit allen Fasern verbunden. Das reicht von der Sprache über die Form öffentlicher Ereignisse bis hin zur expliziten Behandlung Andersdenkender – eine heikle Vokabel, wenn man berücksichtigt, dass es unter demokratischen Bedingungen idealiter keine Andersdenkenden geben dürfte, weil jeder Einzelne als anders, nämlich als selbständig Denkender angesehen und respektiert würde.

Idealiter – das sagt sich so hin und es enthält ein Problem. Natürlich weiß jeder politisch Aufgeweckte, dass auch der Demokratie der Feind inhärent ist: als Staatsform, die historisch mehr oder weniger gewaltsam gegen autokratische und diktatorische Regime errungen wurde, erfordert sie die ›Wachsamkeit aller Demokraten‹, wie die Formel lautet, um die Wiederkehr autokratischer Zustände, unter welcher Maskerade auch immer, zuverlässig zu verhindern.

8.

Bei der zuletzt geforderten Wachsamkeit scheint es sich um etwas grundlegend Anderes zu handeln als um das selbständige politische Urteil des Einzelnen, auch wenn ein funktionierendes demokratisches Gemeinwesen beide voraussetzt. Wachsamkeit ist die Intelligenz des Rudels. Man braucht nicht auf die ›Wächter‹ des platonischen Staates zurückzugreifen, um dies festzustellen. Es genügt der einfache Blick auf die alltäglichen Äußerungsformen. Das Lautgeben, so elementar wie unüberhörbar, der Einsatz von Signalwörtern, der Dringlichkeitsappell, das Oszillieren zwischen Droh- und Opferattitüden, die Anmahnung von Widerstand, die nicht Einzelne, sondern die Gemeinschaft der Demokraten in Haftung nimmt – sie alle demonstrieren sinnfällig, dass für das Gemeinwesen Gefahr im Verzug ist und eine begründete Angst nach Maßnahmen ruft. Die Gänse des Kapitols sind in die Geschichtsbücher eingegangen, weil ihr Beispiel demonstriert, dass in wirklicher Gefahr auch die bescheidene Unvernunft zählt – sofern sie Laut gibt.

Die Intelligenz des Rudels und die Intelligenz des Einzelnen blicken auf eine lange gemeinsame und spannungsreiche Geschichte zurück. Kulturtheoretiker mögen dem ›Individuum‹ nur eine kurze historische Lebensspanne attestieren – diese Geschichte ist älter und umfassender als die Geschichte demokratischer Bewegungen und Regierungsformen. Es bleibt anzunehmen, dass sie in diversen Funktionen des menschlichen Gehirns zuverlässig verankert ist und deshalb auch künftigen Generationen das eine oder andere Rätsel aufgeben wird.

Die europäische Kultur nennt zwei Kreuzungspunkte ihr eigen, an denen das Opfer des Einzelnen den Überlebensinstinkt des Rudels, auf kommende Generationen gesehen, überwindet: den Prozess des Sokrates und die Kreuzigungsgeschichte der Evangelien. Athen und Jerusalem – hier vollzieht sich, verbindlich bis in die heutigen westlichen Institutionen des Zusammenlebens hinein, die Depotenzierung der Selbsterhaltungslogik der Gruppe, der Ethnie, der kollektiven Lebensgemeinschaft zugunsten eines balancierten Gemeinwesens, in dem das Urteil des Einzelnen gehört werden muss, auch und gerade dann, wenn es den Kollektivvorstellungen der Gruppe, die selbstverständlich auch in ihm wirksam und mächtig sind, widerspricht – vor allem, wenn es gut begründet vorgetragen wird. Doch das bleibt, wie jeder weiß, der einige Zeit auf diesem Planeten zugebracht hat, eine heikle Angelegenheit, vor allem deshalb, weil auch in den scheinbar besten Gründen die kollektive Verblendung nisten kann.

›Wachsamkeit‹, so betrachtet, misstraut der Wachheit des Intellekts, sie misstraut ihr in dem Maße, in dem sie den Einzelnen vom Urteil der Masse, der Gesamtheit der ›Einschlägigen‹ oder auch nur der berufsmäßigen Staatsschützer entfernt. Verhindern lässt sich das nicht – es wäre auch nicht viel damit gewonnen, weil es dem selbstverantworteten Handeln des Einzelnen jede Brisanz nähme –, es lässt sich nur ausbalancieren durch eine zweite Wachsamkeit, die dafür sorgt, dass die Spielräume der dissidenten Einzelnen erhalten bleiben, auch wenn damit ein gewisses Zukunftsrisiko in die Gemeinschaft Einzug hält. Selbstverständlich kann auch diese zweite, reflektierte Wachsamkeit in Kontrollwahn abgleiten – so wie jede Spielregel durch mechanische Exekution jenseits ihres legitimen Anwendungsbereichs das gesellschaftliche Spiel zum Erliegen zu bringen droht. Das menschliche Zusammenleben steckt voller Aporien, die vom Einzelnen wie von der Gruppe weggesteckt werden müssen, wenn, wie der saloppe Ausdruck lautet, das Leben weitergehen soll. So ruft die ›sexuelle Befreiung‹ früher oder später den Wunsch auf den Plan, sich sexueller Avancen aus der im ›anderen Geschlecht‹ konzentrierten Umwelt mit einem weiteren Befreiungsschlag zu erwehren – eine Herausforderung an den Gesetzgeber, aber natürlich auch an den ins spannungsreiche Abseits trudelnden Einzelnen, der seiner Beziehungsprobleme nicht mehr Herr wird.

Ungemütlich wird es dort, wo der Konflikt aus den einschlägigen Befreiungsmilieus in die Sprache der ›großen‹ Politik hinüberwechselt und das öffentliche Personal sich wechselseitig mit Hilfe einschlägiger Enthüllungen und Verbalzuweisungen aus der ideologischen Hexenküche demontiert – nicht ungefährlich für das politische System, weil der Ekel angesichts solcher Schaupiele die latente Vertrauenskrise großer Entitäten anheizt.

Die Wachsamkeit der Demokraten ist daher zwangsläufig ein Zwitter: Sie vereint die Robustheit des Überlebenswillens mit der kritischen Aufmerksamkeit auf mögliche Regelverletzungen, die in seinen Bekundungen lauern. Das liegt daran, dass in diesem speziellen Fall weder das biologische Überleben noch die Selbsterhaltung des Systems den Takt vorgibt, sondern der Schutz einer institutionellen Ordnung, deren Zweck und Inhalt in der umfassenden selbstbestimmten Partizipation der einzelnen Bürger am Gemeinwesen zu finden ist, also letztlich in einer gelebten Gewissheit. Geht dieser eigentliche Inhalt verloren, etwa durch Gesinnungsterror oder ›Gleichschaltung‹, so diffundiert der Zweck, wird hingegen der Zweck gestrichen… – wie heißt die einschlägige Vokabel? ›Demokratiemüdigkeit‹, ganz recht –, nun, so fällt die Forderung nach staatsbürgerlicher Mündigkeit zurück an den emanzipatorischen Kampf, an dem bekanntlich selten Mangel herrscht.

9.

So wie kriegerische Religiosität die Religion veräußerlicht und den Krieg in die Mitte religiös fundierter, inzwischen auch a-religiöser Gesellschaften trägt, so veräußerlicht das opulente Angebot an zivilgesellschaftlichen Kampfbünden, darunter NGOs mit patentierten Ansprüchen auf die Verbreitung, Bewahrung und Vertiefung von Demokratie und Menschenrechten, auf die Erhaltung und Bewahrung von Lebensgütern, auf eine Art Gottesdienst am Planeten, mit ihren mehr oder weniger gut verdeckten Beteiligungen an dubiosen Interessenspielen bis hin zu kriegerischen Konflikten und der zweckdienlichen Gestaltung des von ihnen erzeugten Elends das kulturelle Muster gelebter Demokratie.

Was in der steifen Sprache der Nachkriegszeit einmal ›gesellschaftliches Engagement‹ hieß, idealistisch überwölbt und amateurhaft inszeniert, von leidenschaftlichem Affekt für das Ganze oder ein sträflich vernachlässigtes Element getragen, nötigt, professionell organisiert, seine Gesinnungs-Mitläufer in einen Dauerkampf hinein, in dem es zwar Etappensiege, aber keine erkennbare Zielvorstellung mitzuteilen gibt außer der Niederringung des Gegners in einem unabsehbaren Kampf um Dominanz unter der Leerformel der Herstellung humaner Verhältnisse – nicht hier und jetzt, sondern global und irgendwann. Dabei spielt es im Grunde keine Rolle, ob ihr ökonomisches Modell auf private oder staatliche Sponsoren setzt oder seine Profite am Markt generiert – vertraut man Wikileaks, dann verschwimmen irgendwo in Grenzbereichen auch diese Unterschiede. Eine ›Kampagnenmaschine‹ wie Campact, stark geworden im Kampf gegen CETA und TTIP, mag irgendwo die Staaten in Bedrängnis bringen, ihr erstes mutmaßliches Opfer ist das wägende Urteil des Einzelnen und damit die Erstinstanz gelebter Demokratie.

Politischen Naturen, die ohnehin im Dauer-Kampfmodus leben, und ihrem mehr oder weniger frenetischen Anhang mag das entgegenkommen. Das bellizistische Vokabular verrät viel über Machtbesessenheit und ihre Klüngel. Mag sein, gelebte Demokratie und Kampf sind aus der Sicht dieser Personengruppe ein und dasselbe – so wie gewisse ideologisch bewegte Zeitgenossen den bewaffneten Kampf als natürliche Bewegungsform des von den Irrtümern der Zeit oder eine bestimmten Gesellschaftsordnung ›befreiten‹ Menschen adaptiert haben. Das Problem dabei: solche Leute mögen sich als Avantgarde oder Elite begreifen – das Volk, der Demos sind sie jedenfalls nicht. Wenn Demokratie bedeutet, dass die Eliten ein wenig zurücktreten, um der Stimme von Menschen Gehör zu verschaffen, die vor allem leben wollen, dann darf das Ziel jener Kampfnaturen, die keinen Augenblick zögern, den öffentlichen Raum als Kampfzone zu monopolisieren, bereits im Ansatz als verfehlt betrachtet werden. Es ist nur eine Frage des Radikalisierungs- und Verstrickungsgrades, ab wann auch sie das Etikett ›Feinde der Demokratie‹ verdienen – nicht aus Gesinnungs-, sondern aus Eifergründen, aus notorischer Übererfüllung der Staats-Norm, aus Gesinnungsdrückerei, um einen Ausdruck aus der politischen Mottenkiste der Aufbaujahre an dieser Stelle aufzupolieren.

Müßige Rede? Vielleicht. Liegt nicht die Raison d’être des Staates, des alten Leviathan, darin, seinen Bürgern Sicherheit zu gewähren, indem er die Waffen potenzieller Konfliktparteien einsammelt und ein Gewaltmonopol errichtet? Welche Waffen das Gewaltmonopol umfasst, ist eine nie ganz zu klärende Frage. Wie steht es um die Waffen des Arguments, des freien Wortes, der Utopie? Demokratie benötigt Spielräume, künstlich geschaffene Areale mit juristisch fixierten Grenzen, in denen sich die ›freie Meinungsbildung‹ vollzieht. Die ›Akzeptanz‹ dieser Grenzziehungen ist hoch, solange Gefährdung und Sicherheit erfahrbare Größen sind – also in Zeiten der Angst und der ideologischen Konfrontation. Sie sinkt, sobald im Bewusstsein größerer Bevölkerungsgruppen der Staat selbst als ›Gefährder‹ auf den Plan tritt und damit zivilen Ungehorsam provoziert. Die Liste solcher Gefährdungen ist lang. Sie reicht von der Bedrohung naturaler und sozialer Biotope über Großtechnologien an der Grenze der Beherrschbarkeit bis hin zu einer riskanten Fiskal-, Wirtschafts- und Außenpolitik.

Nicht ohne Grund tritt der zivilgesellschaftliche Aktionismus traditionell auf diesen Feldern in Erscheinung. Der Staat als Garant des inneren Friedens und als Hüter der Regeln gerät hier an seine Ränder. Er muss, soll dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Genüge getan werden, die von ihm selbst ausgehende Gefahr abschätzen und bewerten – eine Aufgabe, die nicht bloß mutige Juristen erfordert, sondern auch intakte Institutionen, also fortgesetzte Liberalität nach innen. Er muss aber auch – und hier wird es heikel – seine Glaubwürdigkeit gegenüber den eigenen Bürgern mit spezifischen Mitteln zu erhöhen trachten. Welche Mittel das immer sein mögen, letztlich läuft ihr Einsatz auf die – positive oder negative – Korrumpierung der zivilgesellschaftlichen Kampfbünde hinaus: durch offene oder verdeckte Partizipationsangebote auf der einen, durch Dämonisierung und Stigmatisierung auf der anderen Seite. Es mag lustig klingen, wenn der Refrain »Wir sind die Guten« die Öffentlichkeit beschallt und es Keile gegen die Bösen von der anderen Feldpostnummer setzt – Trauer darüber steht all denen gut zu Gesicht, die darin die Aushebelung des unabhängig gefällten, vom einzelnen Staatsbürger und Zeitgenossen zu verantwortenden Urteils am Werke sehen.

10.

Umfragen sind Stimmungsbarometer. Sie helfen den Regierenden, rechtzeitig Kurskorrekturen zum Zweck des Machterhalts vorzunehmen. Wahlen hingegen messen nicht Stimmungen, sondern ermitteln Mehrheiten. Landtagswahlen sind hierzulande nicht selten Trendwahlen, sie zeigen, wie das Volk im Großen und Ganzen denkt. So zu regieren, dass die eigene Partei, sprich: die unmittelbare Machtbasis, auf historische Tiefststände gedrückt wird, heißt gegen das Volk regieren. Damit ist nichts darüber gesagt, ob eine solche Regierung problemadäquat handelt – das Problem sind in diesem Fall die Wähler, das Problem sind die Nichtwähler, das Problem ist das Wahlvolk, das Problem ist die Einstellung, die eine Regierung, die in einer solchen Situation durchregiert, dem Wahlvolk und damit der Demokratie gegenüber an den Tag legt, also die Regierung selbst. Das Problem ist eine Regierung, die es ablehnt, sich das erodierte Mandat neu zu holen, aber nicht sie allein.

Die klassische Frage, was es in einer Demokratie bedeutet, das eigene Urteil zu delegieren, zielt erst in zweiter Linie auf die Verantwortung der Regierung vor dem Volk. In erster Linie zielt sie auf seine Vertreter in den Parlamenten, deren Urteil unabhängig sein soll, um so den Willen des Volkes zu erfüllen. Sie sind es, die das Vertrauen der Regierten rechtfertigen müssen. Sie sind Personen öffentlichen Vertrauens, denen der Comment untersagt, ihr Urteil und damit das Vertrauen der Wähler an ihre Regierung zu delegieren und sich in der Rolle von Machtassistenten ohne Kontrollfunktion einzurichten.

Kein Wähler wird urteilslos, weil er sein Urteil per Wahl delegiert hat. Der Vorstellung vom Demos als einem Wahlautomaten eignet etwas Empörendes, sie widerspricht dem Geist der Demokratie. Volksvertreter, die ihrem Verfassungsauftrag gerecht werden, stehen zwischen dem Handeln ihrer Regierung und dem fortgesetzten Urteilsbekundungen des Wahlvolks. Sie haben, auch als Vertreter einer Regierungspartei, die parlamentarische Pflicht, die Ratio des einen wie des anderen zu erkunden, zu prüfen und zu bewerten. Hohe Zustimmungsquoten lassen diese Aufgabe leicht erscheinen. Erst bei sinkender Zustimmung oder signifikantem Abfall der Regierten von der Regierungslinie zeigt sie sich in ihrer ganzen Schwere. Fraktionen, deren Mitglieder den eigenen Hauptauftrag in der Akklamation sehen, leiden, um es nüchtern auszusprechen, an personeller Fehlbesetzung.

Zu den klassischen Aufgaben der Medien, der vierten Säule der Demokratie, gehört die Kontrolle des demokratischen Spiels. Fehlentwicklungen im demokratischen System wiegen schwerer als inhaltliche Sympathien. Gesinnungspräferenzen haben dort zurückzutreten, wo der demokratischen Kultur Schaden droht. Wenn Bürgerprotest sich auf die leidenschaftliche Formel »Wir sind das Volk« verengt, dann wirkt es billig, wenn Medien die darin liegende Okkupation eines imaginierten Volkswillens anprangern, ohne das schwindende Mandat einer Regierung, deren Handeln den Protest ausgelöst hat, auch nur einer Silbe zu würdigen. We the people, die Eingangsformel der Verfassungspräambel der Vereinigten Staaten von Amerika, bleibt die Grundformel aller gelebten Demokratie, die ideelle Grundlage aller Repräsentation und damit aller Macht im Staat. Wer sich auf sie beruft, muss angehört werden – es ist ein Ordnungsruf, der anzeigt, dass etwas Wichtiges verlorenzugehen droht, falls ihm nicht stattgegeben wird. Man kann der Auffassung anhängen, dass dann und wann die falschen Leute zur falschen Zeit ihn sich zu eigen machen – das mag stimmen, das mag nicht stimmen, aber es bleibt zweitrangig angesichts der Tatsache der Intervention, der Rechnung getragen werden muss.

11.

Es ist erstaunlich, dass die Menschen den offenkundigen, überall mit Händen zu greifenden Betrug in ihrer Mehrzahl zulassen, gleichsam passieren lassen für das, was er selbst zu sein behauptet, ohne zu opponieren, oft mit einer Art von Wut, die sich gegen jeden richtet, der zu opponieren wagt oder des Kaisers neue Kleider zur Anzeige bringt. Das der öffentlichen Bühne zugewandte Bewusstsein der Vergesellschafteten bevorzugt einen binären Code: Geht durch / Geht nicht durch – wobei das, was nicht durchgeht, oft genug der eigene Primärgedanke war, der sich, nahezu automatisch, an der öffentlichen Rede korrigiert. Aus dem eigenen Sprechen wird dadurch ein Übersprechen, lauter, schroffer, schriller, als es dem einfachen Sprechen entspräche – ein Sich-Einsprechen in die allgemeine Suada, den ›herrschenden Diskurs‹, die zustimmungsfähige oder -sichere Rede. Da der Primärgedanke nicht völlig aus dem Bewusstsein verschwindet, da es seine verborgene Kontur ist, die der übersprechenden Rede Festigkeit und Überzeugungskraft verleiht, liegt es nahe, dass er in exteriorisierter Fassung wiederkehrt: als Feind.

Feindbilder, so sagt es ein Gemeinplatz der Psychologie, sind zum überwiegenden Teil Projektionen. Wenige Züge des wirklichen oder eingebildeten Gegners genügen, um ihn mit phantastischen Attributen auszustaffieren, die dem eigenen Assoziationsfluss entstammen. Politische Propaganda-Arbeit zielt darauf, Assoziations-Cluster zu erzeugen, mehr oder minder stabile Ideenverbindungen, die zwanghaft abgerufen werden, sobald ein Wort, ein Name, eine Parole oder ein Bild durch das Bewusstsein flackert. Je länger die Cluster, umso stabiler die Abwehr, umso verzerrter die Weltwahrnehmung, umso einseitiger der Diskurs. Ein Theatertext des Jahres 2016, in dem die soziale Umwelt des Protagonisten, also alles, was nicht der Jugendblase, in der er sich bewegt, mitsamt ihrer Idolwelt zugehört, als glibbrige braune Scheiße, die alles überzieht, verschmiert, besudelt deklariert wird, erweckt nicht bloß unter Theweleit-Kennern Aufmerksamkeit. Sollte er eine existierende Geisteshaltung schildern, so hilft er auch, sie zu verbreiten und damit jenes kritische Unterscheidungsvermögen außer Kraft zu setzen, auf das er sich beruft.

Kommunikations-Inkompetenz ist das Merkmal einer Gesellschaft, in der sich die Leitfigur des Demokraten mangels eines angemessenen Gegenübers auf dem Rückzug befindet. Man darf sie nicht mit Kommunikationsmangel oder sogar Kommunikationslosigkeit verwechseln – jener ›Sprachlosigkeit‹, die in Gesinnungsdiktaturen herrscht und den Einzelnen, der das Glück personaler Gemeinsamkeit erfährt, zum Flüsterer degradiert. In der durchprofessionalisierten Zivilgesellschaft, die nichts dem Zufall überlässt, wird kommuniziert bis zur Agora-Logorrhoe, bis zum Erbrechen, bis zum Gesprächsabriss aus Überdruss am Kommunizieren, ehe der nächste mediale Ruf ergeht und die Welt der Kommunikation wieder offen und zugänglich erscheint. Ihre Handlanger halten alle Begriffe besetzt, die eine Grundlagenreflexion in Gang setzen könnten: ›Dialogbereitschaft‹, ›Dialogfähigkeit‹, ›rationaler Diskurs‹, selbst das banale ›Zuhörenkönnen‹ – sie liegen in den Händen von Diskursgestaltern, die ihre Aufgabe kennen und sie im Ernstfall wider Vernunft und Augenschein durchzusetzen wissen. Warum? Weil gemäß der simplen Logik ihrer sozialen Existenz der herrschende Diskurs sie trägt oder vernichtet.

12.

Ein Satz des Soziologen Rainer Paris bezeichnet recht genau den Punkt, an dem die meisten von ihnen kuschen:

»Will man die Arroganz, die Borniertheit und Selbstgefälligkeit der Macht untersuchen, so muss man sich an die Machthaber halten; um aber die Raffinesse, die Chuzpe und Hinterfotzigkeit der Macht zu erforschen, ist es sinnvoll, die Abhängigen und Unterlegenen, also die Mittel- und Mindermächtigen, zu studieren.«
(Paris 2008, S. 47)

Nicht immer geht es ums Studieren, vor allem nicht ums Studieren allein. Wer sich angesichts von Verhältnissen, in denen die Mächtigen, die Mittel- und Mindermächtigen in den Sog immenser Konfrontationen geraten sind, die aufzulösen ihnen das Instrumentarium und wohl auch der notwendige Bildungshintergrund fehlt, seiner genuinen Handlungsoptionen beraubt sieht, dem bleibt als letzte Möglichkeit, Zeugnis abzulegen. Er kann es tun, er kann es lassen, er kann sich unterwerfen, er kann die Unterwerfungsgeste verweigern. Demokrat ist, wer für sich und seinesgleichen das Recht in Anspruch nimmt, Verhältnissen die Zustimmung vorzuenthalten, die seinem Urteil das angemessene – nicht ungemessene – Gehör vorenthalten. Damit steht einer dann, bei aller Vernetztheit, eher allein: Ich gestehe, einer von denen zu sein, die das Holz knacken hören, tief drinnen, und sich ihren Teil dabei denken.

 

Literatur

RAINER PARIS: Ein Ball. Kleine Schriften zur Soziologie, Heidelberg 2016

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