Ich weiß nicht, wann mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass es in Europa östlich von Deutschland ein Land namens Polen gab – so wie ein Frankreich, ein Italien und natürlich ein Norwegen, das Land meiner Mutter. Es wird mehr als flüchtig spätestens im schulischen Geographie-Unterricht der fünften und sechsten Klassenstufe gewesen sein, als zuerst die Mark Brandenburg einschließlich der Neumark östlich der Oder, dann die übrigen deutschen Regionen einschließlich Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens behandelt wurden. (Später kam dann auch das ›eigentliche‹ Polen dran.) Dass ein Großteil dieser Gebiete seit 1945 de facto nicht mehr zu Deutschland gehörte, wurde als ein vorläufiger Zustand zwar erwähnt, spielte aber keine große Rolle.
›Deutschland in den Grenzen von 1937‹ war damals die offizielle völkerrechtliche Position der Bundesrepublik, die von allen im Parlament vertretenen Parteien geteilt wurde. Betont wurde durchaus, dass die vollständige oder weitgehende Grenzrevision friedlich geschehen müsse. Jedem halbwegs realistisch Denkenden war indessen klar, dass allenfalls eine Totalkapitulation des von der Sowjetunion geführten östlichen Blocks eine solche Perspektive eröffnen könnte, während die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, die ebenfalls nicht absehbar war, immerhin auch auf dem Weg eines Kompromisses der beiden weltpolitischen Lager denkbar schien.
Die westdeutsche Politik beharrte hinsichtlich der Ostgrenze auch deshalb immobil auf ihren ›Rechtsstandpunkten‹, weil keine der konkurrierenden Kräfte einen kühnen Vorstoß wagen wollte; denn sie befürchteten, ihre Anhängerschaft unter den aus den früheren preußischen Ostprovinzen geflohenen oder zwangsweise Ausgesiedelten zu verlieren und in den Verdacht nationalen Defätismus zu geraten.
Konkreter als im Geographie-Unterricht wurde meine Beschäftigung mit Polen, als ich Anfang 1963 im Alter von vierzehn der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken beitrat (übrigens aus eigenem Entschluss, nicht veranlasst vom Elternhaus). Die Falken standen innerhalb der Berliner Sozialdemokratie auf dem linken Flügel, waren antikapitalistisch, antiimperialistisch und auch antistalinistisch orientiert. Sie befürworteten entschieden die Wiedervereinigung Deutschlands als Zusammenschluss der Bundesrepublik und der DDR, traten gleichzeitig aber schon früh für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein, und das war in den frühen und mittleren 60er Jahren ein politisch riskantes Unterfangen.
Auch innerhalb der SPD war die Grenzanerkennung damals noch eine Minderheitsposition. Der Einfluss der Vertriebenenpolitiker, die außerhalb wie innerhalb der SPD präsent waren, spielte ebenso eine Rolle wie die Furcht vor einer nationalistischen Radikalisierung der Millionen Ostflüchtlinge und Heimatvertriebenen und die Resthoffnung, dass Deutschland im Fall einer späteren friedensvertraglichen Regelung wenigstens einen gewissen Teil der verlorenen Gebiete würde zurückgewinnen könne. Mein Vater, SPD-Vorsitzender seit 1964, der in der Partei zu den Realisten gehörte, argumentierte noch Mitte der 60er Jahre in einem persönlichen Gespräch, es wäre von großer symbolischer Bedeutung, die Oder-Neiße-Linie selbst nur um um einige hundert Quadratkilometer nach Osten zu verschieben.
Kurz danach geriet die sozialdemokratische Haltung zur Ostgrenze Deutschlands in Bewegung: Der Wunsch nach Versöhnung mit Polen wurde dem ›Rechtsstandpunkt‹ nun vorgeordnet, die Entfremdung vom Bund der Vertriebenen und seinen Landsmannschaften, später dann der Bruch mit ihnen in Kauf genommen. Ab 1968 war klar, dass eine SPD-geführte Regierung die ›provisorische‹ Grenzziehung von 1945 zwischen Deutschland und Polen zumindest de facto und im Sinne einer politischen Bindewirkung auch für ein künftiges Gesamtdeutschland anerkennen würde. Auf dem Weg dahin waren Organisationen wie die Falken, die regelmäßige Fahrten nach Polen und in die Tschechoslowakei unternahmen und dabei auch nationalsozialistische Konzentrations- bzw. Vernichtungslager besuchten, vorangegangen, ebenso Teile der liberalen Publizistik und der Kirchen.
Ich selbst besuchte Polen zum ersten Mal im Sommer 1966, als ich zusammen mit anderen jungen Laienschauspielern im Dreistädteeck Danzig – Gdingen – Zoppot an der Verfilmung der Novelle von Günter Grass' Katz und Maus beteiligt war. Das Projekt fußte auf der Zusammenarbeit einer Westberliner Produktionsfirma und der staatlichen polnischen Filmgesellschaft. Das polnische Filmschaffen genoss ja damals hohes Ansehen im Westen. Die Dreharbeiten dauerten etwa zwei Monate und ermöglichten viele unkontrollierte Kontakte mit Einheimischen. Es war offenkundig, dass es sich bei der Volksrepublik Polen um ein freieres Land handelte als es die DDR war, obwohl die Enttäuschung über den einst mit großen Hoffnungen begrüßten Parteichef Gomulka, der den Sowjets 1956 die Stirn geboten hatte, in Gesprächen spürbar war. Selbst die kleinen Polit-Kommissare, die dem Filmprojekt zugeordnet waren, machten eine freundlichen und wenig verbissenen Eindruck. Dass der Lebensstandard in Polen deutlich niedriger war als in West- und niedriger auch als in Ostdeutschland, war nicht zu übersehen, aber im Hinblick auf die historischen Voraussetzungen und politischen Rahmenbedingungen auch nicht besonders erstaunlich.
Alles in allem verließ ich die drei polnischen Küstenstädte mit neuen Erfahrungen und viel Sympathie für die vielen herzlichen Menschen, die ich im mitteleuropäischen Nachbarvolk kennengelernt hatte. Fasziniert hatte mich zu Recht die vielgelobte städtebauliche Restauration Danzigs (wie anderer Städte) nach den schweren Kriegszerstörungen. Antideutsche Ressentiments waren mir nirgendwo begegnet, was angesichts der zeitlichen Nähe zur Annexions- bzw. Besatzungszeit alles andere als selbstverständlich war, auch gegenüber der jungen unbeteiligten Generation. Zum Teil hatte das sicher auch mit der speziellen Situation eines Filmteams zu tun.
Zu Beginn des mehrwöchigen Aufenthalts in Polen hatte ich übrigens auch Bekanntschaft mit dem dortigen Gesundheitswesen gemacht: Ich war mit einer Leberinfektion angereist, die während der Hinfahrt ausbrach und mich zunächst weitgehend außer Gefecht setzte. Anfangs wurde eine beginnende Gelbsucht vermutet, was sich nicht bewahrheitete, aber ich musste doch etliche Tage im örtlichen Krankenhaus verbringen: in einem mit circa zehn Männern unterschiedlichen Alters belegten Zimmer. Sie hielten mich zunächst für einen jungen Seemann, waren alle sehr nett zu mir, sprachen teilweise auch etwas deutsch. Einer der Ärzte, ein älterer kultivierter Herr mit perfekter Kenntnis der deutschen Sprache, ist mir besonders in positiver Erinnerung. Als ich nach Berlin (West) zurückgekehrt war und mich kontrollierenden Tests unterziehen musste, lobten die dortigen Klinik-Ärzte übrigens die Gründlichkeit und Präzision der von ihren polnischen Kollegen durchgeführten medizinischen Untersuchungen sowie der zusammenfassenden Diagnose.
Für die ersten regierungsamtlichen Schritte einer Neuen Ostpolitik der Bundesrepublik unter der Regierung der ersten großen Koalition (1966-69) und dann deren heroische Durchbruchsphase in der darauf folgenden sozial-liberalen Regierung Brandt/Scheel bin ich kein erstrangiger Zeitzeuge. Ich blieb als mittlerweile Achtzehnjähriger in Berlin, als der Rest der Familie Brandt im Frühjahr 1967 nach Bonn übersiedelte. Obwohl ich ein ziemlich radikaler Linkssozialist war, Trotzkist, um genau zu sein, und ich mich von daher mit den innen- und außenpolitischen Projekten der neuen Regierung nicht einfach identifizierte, hoffte ich doch auf postive Effekte der eingeleiteten Entspannungpolitik: menschliche Erleichterungen, Sicherung des Friedens, nicht zuletzt auch ein Abbau der wechselseitigen Feindbildblockade, die dazu beitrug freiheitlich-sozialistische bzw. demokratische Bestrebungen auf beiden Seiten der Blockgrenze zu marginalisieren.
Die Neue Ostpolitik der Bundesrepublik hatte realpolitische, auch national-deutsche Aspekte, doch sie war zugleich von der Intention gespeist, der weitgehend schon erreichten Aussöhnung mit dem Westen, insbesondere mit dem ›Erbfeind‹ Frankreich, die mit dem Osten, insbesondere mit Polen, folgen zu lassen. Polen sollte nicht mehr, wie lange unter Kanzler Adenauer, als reiner ›Satellit‹ des Kreml missachtet, sondern als Partner eigener Bedeutung gewürdigt werden (auch wenn die Machtverhältnisse es unvermeidlich scheinen ließen, der Devise ›Moskau zuerst‹ zu folgen). In dem historisch so belasteten Verhältnis zwischen Polen und Deutschland musste Letzteres Vorleistungen erbringen: in den Vertragsverhandlungen wie auch symbolisch.
Es gibt keine politische Handlung oder Geste, die so sehr mit der Person Willy Brandts verbunden wird wie der Warschauer Kniefall am 7. Dezember 1970. Wenn man den Film noch einmal anschaut, wird die Anspannung des Akteurs deutlich: ein unbewegtes Gesicht, wie man es aufsetzt, wenn Gefühle im Zaum gehalten und nicht sichtbar werden sollen. Da ich mit meinem Vater niemals über seine diesbezüglichen Motive und Empfindungen gesprochen habe, kann ich dazu nicht mehr sagen, als ich von meiner Mutter weiß. Diese fragte ihn nach seiner Rückkehr aus Polen, ob er den Kniefall (der nebenbei gesagt, auch eine enorme Körperbeherrschung verlangte) vorher geplant hätte. Die nicht untypische Antwort ließ sie so klug zurück, wie sie schon zuvor gewesen war: »Irgendetwas musste man tun.« Mir gegenüber legte er Jahre später Wert darauf, dass er vor dem Ghettodenkmal und nicht vor dem polnischen Nationaldenkmal gekniet hätte, was bekanntlich nicht allen Polen gefiel.
Wenn ich diesen Vorgang zu deuten versuche, scheint mir außerdem wesentlich, dass die zutiefst christliche, genauer: abendländisch-christliche Geste des Kniefalls in diesem Fall nur von jemandem ausgeführt werden konnte, der persönlich frei von Schuld und, darüber hinaus, völlig unbelastet war. Zugleich musste er bereit sein, die Verantwortung für die NS-Vergangenheit als Repräsentant des (west-)deutschen Staates bewusst und freiwillig aufzunehmen. Dieses beruhte auf einer die negativen wie die positiven Aspekte der deutschen Geschichte einschließenden Identifikation mit der Nation der Deutschen – eine Identifikation, die neben Abscheu auch die Scham kannte über die monströsen Verbrechen, die von Deutschen (nicht den Deutschen) im deutschen Namen verübt worden waren, aber auch Stolz über die kulturellen und zivilisatorischen Leistungen des deutschen Volkes, seine humanistischen und freiheitlichen Traditionen und seinen Wiederaufstieg sowie seine demokratische Läuterung nach 1945, verbunden mit begründeten Hoffnungen auf eine im Sinne der sozialdemokratischen Grundwerte gestalteten Zukunft. Und nicht zu vergessen ist, was namentlich dem Ausland Achtung abrang: seine im Hinblick auf die NS-Zeit tadellose Haltung. Sie versetzte Willy Brandt in den Stand, Pauschalvorwürfen gegen die Deutschen glaubwürdig entgegenzutreten.
Gegen Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre verschärfte sich der strukturelle Ost-West-Konflikt erneut und drohte in einen neuen Kalten Krieg zu führen. Stichworte sind die beiderseitige Planung bzw. Aufstellung neuer atomarer Präzisionswaffen und ein allgemeines Wettrüsten auf höherem Niveau, die Afghanistan-Invasion der UdSSR, gegen den Einfluss der USA gerichtete Umstürze, Guerillakriege und Befreiungsbewegungen in der südlichen Hemisphäre sowie die polnische Solidarność-Bewegung. Ich war völlig damit einverstanden, dass die westdeutsche Sozialdemokratie – entgegen dem weltpolitischen Trend und namentlich der Reaganschen Hochrüstungspolitik – die Entspannung verteidigte, hätte mir diesbezüglich sogar mehr Eigenständigkeit gegenüber der NATO gewünscht. Doch meinte ich zugleich, die herkömmliche, auf Stabilisierung der Blöcke gerichtete und die doppelte Hegemonie der Supermächte über sie einschließende Détente sei dabei, an ihre Grenzen zu stoßen, und es müssten neue Impulse zur Emanzipation Europas und zur weitergehenden Annäherung seiner beiden Hälften, namentlich auch der beiden Teile Deutschlands, gesetzt werden. Solche gingen – nicht immer gleichgerichtet – u.a. von der PASOK in Griechenland, der Solidarność in Polen, zeitweise von der französischen Linksregierung und von den Friedensbewegungen in West- und Ostdeutschland aus.
Jedenfalls sollte sich die SPD als Partei nicht derselben diplomatischen Logik unterwerfen, die die Beziehungen der Staaten bestimmten. Neben die Kontakte mit den im Osten regierenden Parteien müssten intensivere Kontakte zu den kritischen und oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen treten, insbesondere zu solchen, die ähnliche gesellschaftspolitische Ziele verfolgten wie die Sozialdemokratie bzw. Ausdruck einer autochthonen Arbeiter- und Volksbewegung waren, wie es im Fall der Solidarność zweifelsfrei der Fall war. Insofern ging mir die Distanz der SPD gegenüber Solidarność, jedenfalls auf der Spitzenebene, viel zu weit.
Eine gewisse Distanz war auch bei der Mehrheit innerhalb der Friedensbewegung zu spüren. Neben dem Unbehagen über die enge Verbindung der unabhängigen polnischen Gewerkschaft mit dem katholischen Klerus machte sich Furcht vor möglicherweise friedensgefährdender Wirkung einer Erschütterung des europäischen Status quo geltend, ähnlich wie aufseiten der SPD. Immerhin gab es in der Sozialdemokratie, in den Gewerkschaften und in der unabhängigen Linken eine ganze Reihe von Basisgruppen, die ihre Stimme zugunsten der Solidarność erhoben und praktische Hilfe leisteten. Und jenseits der großen Politik dürfte die Welle von humanitärer Hilfsbereitschaft der Westdeutschen zugunsten Polens im Krisenwinter 1981/82 ihre Völker versöhnende Wirkung nicht verfehlt haben.
Nach der Verhängung des Kriegsrechts durch General Jaruzelski am 13. Dezember 1981 gehörte ich zu denen, die in Berlin an einer linken Protestdemonstration teilnahmen. Eine solche Manifestation war, so meine ich noch heute, selbst unter der Annahme richtig, dass die Einführung des Kriegsrechtsregimes objektiv und/oder subjektiv einer sowjetisch-ostdeutschen Militäraktion zuvorkam. Die erwähnte Demonstration vom Dezember 1981 rief die Erinnerung wach an eine ähnliche Protestaktion knapp vierzehn Jahre davor. Damals ging es um die Unterdrückung von Studenten-Unruhen in Polen und die folgende judenfeindliche Kampagne der ›Partisanen‹-Fraktion der PVAP. Zweien der Protagonisten des Protests von 1968, Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, Verfasser eines trotzkistisch inspirierten, systemkritischen ›Offenen Briefs an die Polnische Arbeiterpartei‹, der in deutscher Übersetzung vorlag, wurde in Sprechchören und Flugblättern gehuldigt. Sie gehörten dann in den 70er Jahren zu den Begründern des Komitees zur Verteidigung der Arbeitet (KOR) und dann zu den intellektuellen Beratern der Solidarność. Wenngleich Kuroń, Modzelewski und andere wie Adam Michnik ihre Position gegenüber den 60er Jahren verändert hatten, gab es doch, so scheint mir, eine Verbindung zwischen der damaligen Oppositionshaltung und der Beteiligung an der Verweigerungsrevolution der 80er Jahre.
Meinen ersten akademischen Vortrag in Polen hielt ich im Jahr 2001 an der Breslauer Universität. Es ging um die Neuvereinigung Deutschlands in weiterer historischer Perspektive. In Breslau, einer lebendigen, aufstrebenden Stadt, die viele Polen heute mit dem früheren deutschen Namen bezeichnen, wenn sie mit Deutschsprachigen reden, nahm ich einen erstaunlich unbefangenen Umgang mit der deutschen Vergangenheit der Stadt wahr. Das fand ich bei späteren Besuchen bestätigt, wo ich auch von regelmäßigen, freundschaftlichen Besuchskontakten früherer, nach 1945 vertriebener Bewohner erfuhr und einen diesbezüglich besonders engagierten alten Breslauer traf. Allein in Berlin kenne ich inzwischen drei deutsch-polnische Kreise und das ist mit Sicherheit nur ein Bruchteil. Vieles ist auf unterer Ebende schon weiter als es der wechselnde Wärmegrad der Beziehung zwischen den Regierungen vermuten lässt.
Deutschland und Polen gehören heute zu den wichtigsten Gliedern der Europäischen Union. Sie teilen insofern wesentliche Interessen, und sie sind beide in einer repräsentativ-demokratischen staatlichen Grundordnung verfasst. Das über zwei Jahrhunderte hindurch höchst problematische Verhältnis der Nachbarstaaten ist weiter verbesserungsfähig, aber viel besser als man sich vor 30 Jahren vorstellen konnte. Die Deutschen haben die Oder-Neiße-Grenze nicht nur in mehreren Stufen anerkannt, sondern, bis auf winzige Grüppchen, auch innerlich akzeptiert. Zudem haben sie sich – mit der totalen Niederlage von 1945 als Ausgangspunkt – zunächst zögernd und eher widerstrebend, dann seit den 60er Jahren immer entschiedener mit dem Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen im In- und Ausland beschäftigt. Ihr Rückweg in die Zivilisation hing und hängt davon ab, und nur unter der Voraussetzung einer rückhaltlosen selbstkritischen Auseinandersetzung mit dem Schrecken der Vergangenheit gibt es für sie die Chance eines auch positiven nationalen Selbstverständnisses, dessen sie bedürfen wie andere Völker.
In Polen wird inzwischen kritischer auf die eigene, auch die jüngere Nationalgeschichte geschaut als das lange der Fall war. 1939-1945 und in anderer Weise auch danach war Polen eindeutig Opfer und Deutschland (und in anderer Weise die Sowjetunion) die unterdrückende, menschenmordende Macht. Doch ungeachtet der polnischen Teilungen im langen 19. Jahrhundert und der verinnerlichten Mythen war der polnische Staat nicht immer nur Opfer: Das zunehmend autoritäre Regime der Zwischenkriegszeit diskriminierte die nationalen Minderheiten, nicht zuletzt die jüdische, und zeigte auch nach außen hin eine aggressive und expansive Haltung. Es schloss als erster Staat im Januar 1934 einen Nichtangriffs- und Freundschaftspakt mit Hitler-Deutschland und beteiligte sich noch im Herbst 1938 an der Aufteilung der Tschechoslowakei. Das macht den deutschen Überfall und die folgende Besatzungspolitik um nichts harmloser. Die knappen Hinweise sollen nur andeuten, dass auch auf der polnischen Seite manches aufzuarbeiten ist, nicht nur im internen fachwissenschaftlichen Diskurs und nicht nur im Hinblick auf den eigenen Anteil an der parteikommunistischen Diktatur. Zugleich will ich konzedieren, dass das aus dem Erleben einer siegreichen Selbstbefreiung weniger nahe liegt als unter dem Eindruck, am katastrophalen Endpunkt eines nationalen Irrwegs zu stehen.
Während die Deutschen fortfahren sich die Massenverbrechen an den Juden und an den slawischen Völkern, darunter nicht zuletzt den Polen, zu vergegenwärtigen – für ein dementsprechendes Denkmalprojekt in der deutschen Hauptstadt wird gerade geworben – sollten die Polen noch mutiger als bislang die millionenfache Flucht und Vertreibung aus den früheren deutschen Ostgebieten mit teilweise grauenhaften Begleiterscheinungen und mit zahlreichen Todesopfern öffentlich thematisieren. Natürlich ist dieses Geschehen ohne die NS-deutsche unmittelbare Vorgeschichte nicht zu verstehen, aber es ergab sich auch nicht zwingend daraus, sondern war machtpolitisch induziert. Betroffen waren ganz überwiegend Menschen ohne persönliche Schuld; auch sie waren Opfer im »Zeitalter der Extreme« (E. Hobsbawm) – die sogar unter heutigen Deutschen gern gepflegte Vorstellung einer fast durchgehend und durchgängig nazifizierten ›Volksgemeinschaft‹ ist von der Wirklichkeit so weit entfernt wie die in der frühen Bundesrepublik verbreitete Vorstellung einer von einer kleinen Clique von Gangstern und Rassenideologen okkupierten, ansonsten intakt gebliebenen bürgerlichen Gesellschaft.
Erst wenn wir die dunkle Seite der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Weltanschauungsdiktaturen, Genozide, imperialistischen Exzesse, brutalen Ausbäutungsverhältnisse, statt sie ausschließlich zu externalisieren, übergreifend erinnern und bearbeiten, ohne Unterschiede zu verwischen, kann daraus auch Gemeinsamkeit erwachsen. Für kaum zwei benachbarte Nationen gilt das in demselben Maß wie für die deutsche und die polnische.
Und ebenso benötigen wir den Willen und die Fähigkeit, die Dinge mit den Augen der jeweils anderen wahrzunehmen, nicht um die Sicht kritiklos zu übernehmen, sondern um das Gegenüber in seinem Denken und Handeln zu verstehen. Gewiss handelt es sich bei Polen wie bei Deutschland heute um pluralistische Gesellschaften mit einem breiten Meinungsspektrum. Und doch sind gewisse Perzeptionsmuster auszumachen, die ›typisch polnisch‹ oder ›typisch deutsch‹ genannt werden dürfen, etwa in der unterschiedlichen Einstellung und Haltung zu Russland. Es wäre viel geholfen, wenn man sich beiderseits bemühte, die in der jüngsten, manchmal auch etwas älteren Vergangenheit liegenden Gründe dieser oder jener Präferenzen zu verstehen, statt den Dialog durch wechselseitige Unterstellungen zu erschweren. Dass Polen auf alle Anzeichen einer neuen russischen Großmachtpolitik empfindlicher reagiert als Deutschland, ist ebenso nachvollziehbar wie Deutschlands Abneigung gegen einen neuen Kalten Krieg mit Russland, das im Zweiten Weltkrieg ebenso zum Objekt eines NS-deutschen Angriffskriegs sowie folgender Vernichtungs- und Versklavungspolitik geworden ist wie Polen. Und ohne die Entscheidung Michail Gorbatschows und seiner Anhänger in der Fühurng der KPdSU, die Warschauer-Pakt-Staaten aus der Kuratel zu entlassen, gäbe es heute vermutlich weder eine freies, souveränes Polen noch ein vereintes Deutschland.
(Auch in: Tomasz G. Pszczółkowski / Karol Czejarek (Hgg.), unter Mitwirkung von Axel Schmidt: So war’s! Deutsch-polnische Biographien, Teil II, Interfakultäres Zentrum für Deutschlandstudien, Humanistische Akademie »Aleksander Gieysztor«, ost-west-forum Gut Gödelitz e.V.)