Robert Hertz (1881-1915) begegnet Durkheim im Jahre 1905 und wird nach dieser Begegnung Mitarbeiter der Zeitschrift L’Année Sociologique, in welcher er 1907 seine bekannteste Arbeit, die Studie zur kollektiven Vorstellung des Todes publizierte. Die Soziologie von Hertz untersucht nach Mauss vor allem die gefährlichen, finsteren Seiten des sozialen Lebens und der menschlichen Mentalitäten, wie zum Beispiel den Tod, die religiöse Polarität von sakral und profan, den Gegensatz von rechter und linker Hand sowie die Sünde und die Vergebung. Aber im Unterschied zu den anderen Vertretern der Durkheim-Schule bevorzugt die Theorie bei Hertz nicht jene Mechanismen, die die soziale Kohäsion stärken und sichern, sondern sie untersucht jene Mechanismen und Fakten, durch welche die Solidarität und die Integration der Mitglieder der Gesellschaft scheitern könnten, wie den Tod, die soziale Desintegration, die Krise einer Gesellschaft oder den Krieg (Robert Hertz ist übrigens vor einem Jahrhundert am 13. April 1915 im ersten Weltkrieg gestorben).
Der Tod wird von Hertz als Übergangsperiode gefasst und zwar zwischen der körperlichen Zerstörung des Individuums, das die Gesellschaft der Lebenden verlassen hat und seiner Aufnahme in die mythische Gesellschaft der Ahnen. Der von Hertz beschriebene, verhältnismäßig langwierige Prozess beginnt mit dem vorübergehenden Begräbnis und endet mit dem endgültigen Begräbnis. Robert Hertz interessieren hier ganz besonders die Zwischenperiode und die damit verbundenen Praktiken sowie Verbote. Dem natürlichen Tod wird also ein Ensemble von Glaubensvorstellungen, Emotionen und Ritualen hinzugefügt, das diesem Phänomen den Charakter eines sozialen Todes verleihen soll. Dadurch unterscheidet sich der menschliche Tod vom natürlichen Tod eines anderen Lebewesens. Robert Hertz' dreijährige Unterschungen zum Todesproblem streben danach, auf der Basis umfangreichen ethnographischen Materials (Indonesien, Australien, Nord- und Südamerika) die Existenz des zweiten Begräbnisses als eine universale religiöse Institution vorzustellen (die Mumifizierung im Alten Ägypten, das zweite Begräbnis in bestimmten katholischen Orden oder die Feuerbestattung bei den Protestanten stellen nach Hertz nur Variationen des untersuchten Brauches dar). Voraussetzung für das Begreifen des Sinns dieser Institution ist nach Hertz die Analyse des vorübergehenden Zustands und der damit verbundenen Vorstellungen und Ritualen. Von den Techniken und Varianten des ersten Begräbnisses abgesehen, interessiert Robert Hertz der Übergang von einem natürlichem zu einem sozialen Tod und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Gemeinschaft. Am Ende des Prozesses findet eine Aufhebung der Gefahr im kollektiven Bewusstsein statt, während der normale Rhythmus einer Gesellschaft nach einer relativ langen Zeit zurückkehrt. Der gefährliche Zustand der Leiche ist durch eine dreiteilige Relation bestimmt: der Zustand des Todes beeinflusst sowohl die Situation der Seele des Verstorbenen sowie die Art und Dauer der Trauerzeit (ein bis zehn Jahre) bei den Verwandten; der Tod, als Verwesungszustand charakterisiert, stellt schließlich selbst für den Verstorbenen eine Gefahr dar, die durch Riten und soziale Verpflichtungen in Grenzen gehalten wird. Die unterschiedlichen Ausdrücke und Metaphern zur Bezeichnung dieses Zustandes, die vom Autor erwähnt und kommentiert werden, stimmen alle in der Vorstellung überein, dass diese Zerstörung des organischen Körpers durch den Tod eine Bedrohung für die jeweilige Gesellschaft darstellt. (Robert Hertz, Étude sur la réprésentation collecitve de la mort, in: Mélanges de sociologie religieuse et folklore Paris 1928, S. 7 f. ) Wichtig ist für den Autor die Feststellung, dass mit dem ersten vorübergehenden Zustand die Vorstellungen eines negativen Einflusses auf alle damit verbundenen Instanzen verknüpft werden. Das ist auch der Grund für das Bestreben, diesen Zustand aufzuheben, beziehungsweise den Prozess zwischen der ersten und der zweiten Phase zu beschleunigen (ein Sonderfall in der Analyse von Hertz bildet der Endokannibalismus: die rituelle Verzehrung der Leiche des Toten durch die Verwandten. Damit wird das Ziel angestrebt, die in der Leiche vorhandenen Energien für die Familie und die Gesellschaft zu retten).
Die Seele des Verstorbenen, die ihre enge Bindung an den Körper nicht endgültig aufheben kann, soll ebenfalls durch das zweite Begräbnis befreit werden. In der Studie aus dem Jahre 1907 ist für uns eine Ethik des Sterbens lesbar: Solange der Prozess des Todes nach bestimmten Prinzipien und Praktiken nicht abgeschlossen ist, solange wird der Verstorbene als ein Mitglied der Gruppe behandelt. Er bekommt sein Essen, Verwandte und Freunde leisten ihm Gesellschaft, sie unterhalten sich mit dem Toten. (Ebenda, S. 34) Was die Verwandten des Verstorbenen angeht, so werden sie in der ersten Periode durch verpflichtende Maßnahmen und Verbote als unreine Wesen von der Gemeinschaft fern gehalten. Es ist also verständlich, dass das zweite und endgültige Begräbnis von allen daran beteiligten Personen und Instanzen als eine Normalisierung des sozialen Lebens wahrgenommen wird. Das abschließende Fest wird von Hertz als eine befreiende Verschwendung vorgestellt: Das Fest vollzieht das endgültige Begräbnis des Verstorbenen, es sichert die Ruhe seiner Seele im Land der Toten und Ahnen und befreit die Verwandten und Überlebenden von den Verpflichtungen der Trauerzeit. Mit dem zweiten Begräbnis findet schließlich nach der Interpretation des Mythographen Hertz eine Transformation des Sakralen statt, denn der Tod ändert seinen Charakter und sein Zeichen. Es ist nicht mehr das Element von Abstoßung und Aversion, das ab jetzt hier vorherrscht, sondern eher das Gefühl von Vertrauen und Respekt. Ein wohltuender Einfluss macht sich bemerkbar, der das Dorf vor dem Unglück beschützt. Ebensowenig wie der Tod nur ein Naturphänomen darstellt, so ist nach Hertz die Vorherrschaft der rechten Hand keine in der Natur oder der Biologie begründete Tatsache; vielmehr handelt es sich dabei um eine soziale Institution, die als solche zu den Forschungsobjekten der Soziologie gehört. Der Gegensatz sakral/profan, der die religiöse Welt in den Gesellschaften beherrscht, setzt nach Hertz eine Klassifikation von natürlichen und sozialen Fakten voraus. Es liegt im Interesse des jeweiligen religiösen Systems die Grenzen zwischen den beiden Klassen zu sichern, was die große Zahl von Verboten und Tabus erklärt. Die religiöse Polarität erfasst im Konzept von Hertz materielle und übernatürliche Tatbestände, die Mythologie selbst sei nach diesem Prinzip organisiert: einerseits die positiven, andererseits die negativen Mächten; die ersten entsprechen der Natur der Dinge, während die zweite Klasse dieser Mächte die Weltordnung in Frage stellt. In den Abhandlungen von Hertz wird die Notwendigkeit des Gegensatzes für den Fortbestand eines sozialen oder religiösen Systems behauptet; diese Notwendigkeit hängt letztendlich mit dem eigenen Rhythmus einer gegebenen Gesellschaft und ihrer Kultur zusammen. Das ist auch der Sinn des Begriffs ›jahreszeitliche Variationen‹ bei Marcel Mauss: Die Geschichte einer gegebenen Gesellschaft besteht aus ›schwarzen und weißen, aus kalten und aus warmen Perioden‹. Für die neuere Rezeption des Werkes steht fest, dass Hertz mit seinen Studien über den Tod seinen späteren Herausgeber Marcel Mauss entscheidend beeinflusst habe: Mit seiner Interpretation des zweiten Begräbnisses und des damit zusammenhängenden Festes habe Hertz einen Beitrag zur Theorie der Gabe bei Mauss und zur Theorie der Verausgabung bei Bataille geleistet.