An diesem Morgen durchdrang helle Siegessonne die grauen Wolken, die seit einer Woche Paris verdüsterten. So erglänzte denn auch das »Paradies der Damen« seit acht Uhr in den Strahlen dieses hellen Sonnenscheins, in der Glorie seiner großen Verkaufsausstellung von Winterneuheiten.
Émile Zola, Paradies der Damen
1.
Ein Sturm treibt die Dinge vor sich her. Mäntel. Rasierer. Autos. Suppendosen. Zigaretten. Pfeifen. Flakons. Flaschen. Messer. Kurzfristig finden die Dinge Halt beim Konsumenten, bevor sie erneut erfasst und fortgetrieben werden, da das Begehren sich auf anderes richtet – angeheizt durch eine gigantische mediale Maschinerie, die sich als Sinngeber des Konsums aufspielt. Kurzum: Die Dinge und ihre Abbilder sind omnipräsent. Doch niemand sieht sie mehr.
Niemand? Einige Künstler haben die Dinge nie aus den Augen verloren – selbst in Zeiten, als der abstrakten Malerei ein allmächtiger Status zugesprochen wurde. Das Künstlerpaar Bernd und Hilla Becher hat sich Jahrzehnte um die Industriebauten dieser Welt gekümmert, entstanden sind unzählige Schwarz-Weiß-Fotos – längst Klassiker des Genres der Dokumentarfotografie. Seit Jahren bringt Ulrich Moritz seine nuancenreichen Buntstiftzeichnungen aufs Papier, bannt mit zartem Strich Flechten, Moose, Schnecken, eine Mistelkolonie, aber auch lederne Handschuhe. Seiner Homepage hat er das Motto Nach der Natur vorangestellt. Aus der ideellen Nähe zum Manierismus und Surrealismus hat der Maler und Schriftsteller Paul Mersmann nie einen Hehl gemacht. 1960 war ein solches Bekenntnis alles andere als en vogue. Doch in seinem großformatigen Gemälde Saturnische Bibliothek, entstanden in eben jenem Jahr in Rom, ist der Traditionsraum, in dem Mersmann sich bewegt, unübersehbar. Das in dunklem, geheimnisvollem Blau gehaltene Arrangement aus Körpern und Körperteilen, drapiert auf und vor einer Kommode, ist Beleg für einen kollegialen Schulterschluss mit den Symbolisten – und eröffnet zugleich eine neue, eigene Bildwelt. Wer sich einer Traditionslinie verschreibt, besser: sich in sie einschreibt, muss (und darf) nicht zum Kopisten werden. Es gilt, einen eigenen Stil zu entwickeln. Der ästhetische Raum will neu ausgeschritten, vermessen – und mit frischem Inventar bestückt werden. Zum Beispiel mit einer üppig verzierten Schränkzange, einer spitzschnäuzig zulaufenden Säge, einer schillernden Alge oder einem schneeweißen Stück Holz. Das sind exemplarische Bausteine, mit denen Walter Rüth seit Jahren seine Kunst-Welt ausstattet und erweitert. Serie um Serie – verbunden durch einen gemeinsamen Titel, der zugleich programmatischen Charakter hat: grab_art.
Rüths Produktion ist durch eine konsequente Vorgehensweise gekennzeichnet: Er ergreift Gegenstände, fotografiert sie, löst sie aus ihrem gewöhnlichen Kontext, um sie auf einem neutralen Hintergrund, gerne auf Weiß, zu präsentieren. Ulrich Schödlbauer spricht in seinem Aufsatz zu grab_art von einem leeren Raum, den Rüth um seine Objekte lege: Dieser Raum ist, rein technisch gesprochen, eine weiße Fläche, eine Ausstellungsfläche, nichts weiter. Die Verwandlung in einen Raum ist Zutat, Bewusstseinszutat, Verräumlichung. Die Pointe: eine Leere, die als Raum interpretiert wird, weil wir das sehen, was unseren Sehgewohnheiten entspricht. Das Spiel mit den sich geradezu reflexhaft einstellenden Seh-, aber auch Deutungsgewohnheiten, sie zu aktivieren und gleichzeitig zu unterminieren ist Teil des Kalküls des Konzepts dieser künstlerischen Fotografie. Der Effekt, den Rüth (ohne Hascherei) erzielt: Auf diese Weise – ohne praktischen Nutzen, ohne Zweckgebundenheit – in einen Raum gestellt, bekommen die objets trouvés etwas Herausforderndes: Sie scheinen auf eine Form der Wahrnehmung zu beharren, die ihnen nie zuvor entgegengebracht worden ist. Das Paradoxe: gerade die Schärfe, die Detailgenauigkeit, die Präzision, diese Anmutung von Hyperrealismus befördern den Weg in die Abstraktion. Eindeutigkeit beflügelt die Mehrdeutigkeit. Schnell drängen sich Interpretationen auf. Erinnert die Nase der Säge nicht an die eines Tieres? Lässt der geschmeidig wirkende Körper der Alge nicht an einen Tänzer denken? Entsprungen dem venezianischen Karneval, der alemannischen Fastnacht oder einer spanischen Moriskentanzgruppe? Vorsicht ist geboten. Vorschnelle Fixierungen verschließen Rüths Bildwelt. Sein Plädoyer gilt stets der Offenheit. Und vor allem dem absichtslosen Betrachten – das übrigens auch am Beginn jedes neuen Arbeitsprozesses steht. Walter Rüth ist zu allererst Beobachter. Ein ›Seher‹.
Die Mistel – der Vogelleim: eine Art nordische Mimose, Mimose
der Nebel. Eine Wasserpflanze, aus atmosphärischem Wasser.
Feuilles en pales d`hélice et fruits en perles gluantes.
Sago, das im Nebel quillt. Stärkekleister. Krümel.
Végétal amphibie.
Algen, die mit den Nebelschärpen, den Nebelschleppen ziehen,
Strandgut, das an den Zweigen der Bäume hängengeblieben ist,
beim niedrigsten Pegelstand der Dezembernebel.
Francis Ponge, Stücke, Methoden
2.
Am 27. Dezember 1947 räsoniert Francis Ponge über sich und sein Verhältnis zu Ideen und Dingen. Ohne Zögern gibt er ihnen, den Dingen, den Vorrang. Er schätze ihre Gegenwärtigkeit, ihre Evidenz, ihre Dichte, ihre Dreidimensionalität. Er konstatiert, dass die Gegenstände seiner nicht bedürfen. Genau das reizt ihn, beschäftigt ihn, ist ihm zugleich Quell der Inspiration und dichterische Herausforderung. In seinem Aufsatz Der Mensch und die Dinge schreibt Jean-Paul Sartre: (…) lange bevor er [Ponge] sich entschloß, über sie [die Dinge] zu schreiben, durchdrangen sie ihn bereits mit ihren geheimen Bedeutungen. Eine Beobachtung, die Ponges Haltung untermauert: Er ist gewissermaßen auf Augenhöhe mit der Mistel, der Seife, der Muschel oder der Kartoffel – mit den Dingen, die er erfasst, um sie auf seine spezifische Weise, in einer Melange aus Konkretem und Abstraktem, zu beschreiben. Am Ende steht ein Textkörper, dessen semantische Dichte, wie es u.a. Gerd Henniger in seinem Vorwort zu dem Band Lyren ausdrückt, mit der der Dinge korreliert. Ponges Dichtung ist mehr als ein mimetischer Akt. Das Ding ist in den Worten, die Worte sind im Ding aufgehoben: So lässt sich das Prinzip vielleicht fassen. Am Anfang steht jedenfalls, und das ist der in diesem Kontext relevante Aspekt, absichtsloses Schauen. Die Vorgehensweise eines Phänomenologen. In Einführung in den Kieselstein erläutert Francis Ponge: Das Beste, was man tun kann, ist also, alle Dinge als unbekannt anzusehen und spazieren zu gehen oder sich unter Bäumen oder im Gras auszustrecken und alles noch einmal von vorn anzufangen. Oder sehenden Auges über den Strand von St. Thugen zu wandeln, sandige Algen aufzulesen, sie im Licht der Sonne aufleuchten zu sehen, ihren fischigen Geruch zu konstatieren, ihre fleischige Konsistenz, ihre Nässe.
Die Parallelität zwischen Ponge und Rüth liegt also zunächst in der Haltung, in der Weise des Zugriffs auf die Dinge dieser Welt. Beide billigen den Gegenständen Souveränität zu. Jean-Paul Sartres Formulierung, die auf Francis Ponge gemünzt ist, aber eben auch auf Walter Rüth zutrifft, lautet: Er kümmert sich nicht um Eigenschaften, sondern um das Sein. Und das Sein jedes Dinges erscheint ihm wie ein Entwurf, wie eine Bemühung um Ausdruck, um den bestimmten Ausdruck einer bestimmten Nuance von Dürre, Staunen, Großzügigkeit, Unbeweglichkeit. Sich diese Anstrengung zu eigen zu machen, jenseits des phänomenalen Aspekts des Dinges, ist soviel wie sein Sein erfaßt zu haben. Die Dinge sind also, was sie sind. Eine Alge ist eine Alge ist eine Alge. Doch um diese Aussage treffen zu können, hat die Alge bereits einen neuen Status erreicht: Sie ist nicht nur wahrgenommen, sondern bereits benannt und klassifiziert worden. Die Aktivitäten unseres Sinnesapparates sind nicht von denen des Gehirns zu trennen. Schon kommen die kulturellen Schablonen zum Tragen, die eigentlich ausgeschaltet werden sollen. Vorurteilsfreie Begegnung wäre wünschenswert, auf sie zu setzen naiv. Doch das Bewusstsein dieser prinzipiellen Krux schafft den größtmöglichen Spielraum für einen Künstler, der auf ein Objekt trifft. Objeu: Francis Ponge hat in entre mots et choses diese Wortneuschöpfung für den anstehenden künstlerischen Prozess geprägt. Objeu: Ein Wortbild, in dem sich Objekt und Ich spielerisch (jeu) vereinen. Ein Ausdruck, der den Kern der grab_art-Ästhetik trifft.
Walter Rüths Interesse gilt nicht dem Dokumentarischen, wenngleich seine Fotografien – wie jede Fotografie – zunächst Abbilder sind. Der Sattel ist als Sattel, das Holz als Holz zu identifizieren. Doch die Fotografien erschöpfen sich nicht in diesem Abbild-Charakter. Sie sind mehr. Rüth ist kein Archivar. Er betreibt auch keine Inventur wie Günter Eich: Dies ist meine Mütze, dies ist mein Mantel, hier mein Rasierzeug. Seine künstlerische Intention liegt jenseits des (wie es gerne genannt wird) Authentischen. Rüth inszeniert, wenngleich auf subtile Weise. Er verfremdet, besser: entfremdet, bisweilen kaum merklich. Er arbeitet mit Farbreduktion – vorsichtig, behutsam. Er verschiebt, versetzt, auf dass der Wahrnehmung ein Streich gespielt werde. Das freudige, im ersten Moment der Betrachtung aufflammende Erkennen von etwas Bekanntem wird jäh unterbrochen. Irritation tritt ein. Das Vertraute wird fremd. Der Blick verändert sich. Auch er wird fremd.
Der Verfolger muß nicht körperlich da sein, um zu bedrohen. Als Schatten sitzt er sowieso in den Dingen, er hat das Fürchten hinein getan ins Fahrrad, ins Haarebleichen, ins Parfum, in den Kühlschrank und gewöhnliche, tote Gegenstände zu drohenden gemacht.
Herta Müller, Der Fremde Blick
3.
Der Fremde Blick auf die Dinge des Alltags ist im Fall von Herta Müller nicht das Produkt eines ästhetischen Konzepts, sondern einer realen Bedrohung geschuldet. Herta Müller wurde lange Jahre vom rumänischen Geheimdienst beschattet. Sie soll wissen, dass sie unter Beobachtung steht, dass nichts verborgen bleibt, dass der Geheimdienst Zugriff auf sie und ihre Wohnung hat. Plötzlich findet sie beim Nachhausekommen einen Zimmerstuhl in der Küche. Einen Zettel in einer Schale auf dem Kühlschrank. Dinge sind vertauscht, verrückt. Manchmal nur wenige Millimeter. Herta Müller beginnt Kontrollgänge durch die Wohnung, die ihr immer fremder wird. Wie auch die Dinge immer weiter von ihr fort rücken. In diesem Alltag ist der Fremde Blick entstanden, schreibt sie. Er ist Resultat einer Infiltration. Die Bedrohung steckt nun in den Dingen. Sie sind aufgeladen, künden von Überwachung und Verfolgung, haben jede Harmlosigkeit verloren. Als sie 1987 nach Berlin zieht, trägt sie diesen Fremden Blick bereits in sich. Ich habe ihn mitgebracht aus dem Land, wo ich herkomme und alles kannte. Herta Müllers Fremder Blick ist dem Leben in einer Diktatur geschuldet. Das wird von den Feuilletonisten, was sie beklagt, gerne übersehen. Sie sehen den Fremden Blick als Teil ihres literarischen Handwerks. Herta Müller wehrt sich vehement gegen dieses Missverständnis und kommt zu einem pauschalisierenden Schluss: Der Fremde Blick hat mit Literatur nichts zu tun. Doch gegen eine solche – gewiss in ihrer Biografie begründete – Generalisierung lässt sich ein Einwand erheben, ist das Prinzip des fremden Blicks, des bewusst initiierten Fremdwerdens des Vertrauten, doch durchaus in die Sphäre der Kunst übertragbar. Auch hier geht es darum – gottlob in friedlichem Kontext –, Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Blick schärfen, ihn auf neues Terrain lenken, die Irritation auslösen, bisweilen auch Beklemmung. Die Räume für neue Interpretationen eröffnen. Denn eines ist klar: das Stadium des reinen Betrachtens ist ein vergängliches. Symbole wollen entschlüsselt, Formensprachen transferiert, Bedeutung, letztlich Sinn, generiert werden.
Das Paradox: Am Ende des Schaffensprozesses steht ein Kunstwerk, in dem die Dinge eine Magie entwickeln – und zwar von sich aus, von innen. Es scheint, als entblößen sie ihre magischen Qualitäten in dem Moment, in dem sie materiell abwesend sind. Das darf nicht außer Acht gelassen werden: Im Verlauf des ästhetischen Prozesses sind die Dinge abhanden gekommen und durch Repräsentanten ersetzt worden. Ceci n’est pas une pipe: René Magritte hat es auf den Punkt gebracht. Es handelt sich bei der Säge nicht mehr um ein Handwerkszeug. Die Alge kann nicht zu Salat verarbeitet, das Holzstück nicht verbrannt werden. Noch einmal: Erst in diesem Stadium, jenseits der Dinglichkeit der Dinge, jenseits ihrer Verfügbarkeit, scheint genau das magische Potential zur Anschauung zu kommen, das Dinge zum Fetisch werden lässt. Wobei eine Frage im Raum steht: Ist das abgebildete Objekt der Fetisch oder das Kunstwerk, das das Objekt darbietet? Sartre schreibt, Ponges Ideal ist, daß seine Werke, aus Ding-Worten komponiert, die seine Epoche und wahrscheinlich seine Art überleben werden, selber zu Dingen werden. Ein verlockender Gedanke, gebührte doch die Achtung gegenüber manchen, gar die heilige Scheu vor einigen, nicht länger den Dingen selbst, sondern dem zum Ding gewordenen Kunstwerk. Ein Transformationsprozess, in dessen Verlauf das Magische, das eine Fotosequenz wie Tango morisco oder La mascarade erst zur Anschauung bringt, nun vom Ding in die Kunst fließt. Ein gelungener Kunstgriff.
Wir sterben, Dinge nicht.
Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur
4.
Das Thema Magie der Dinge ist ein weites Feld. Hartmut Böhme hat es in seiner Abhandlung Fetischismus und Kultur – Eine andere Theorie der Moderne in aller Differenziertheit bestellt. Er beschreibt den kultischen Charakter der Dinge, ihre Verankerung in von Mythologie bestimmten Denksystemen, er konstatiert, dass Reste des dort entstandenen Fetischismus bis in die Moderne ragen: Modern heißt, mit sich selbst im Widerspruch zu leben, ohne ihn aufheben zu müssen. Moderne Kultur, die diesen Namen verdient, bestünde darin, ebenso Rationalität und Selbstreflexion auszudifferenzieren wie fetischistische Praktiken nicht nur zu dulden, sondern selbst zu entwickeln. Damit meint Hartmut Böhme nicht das absurde Treiben eines (ver-)glühenden Kunstmarktes, der ein Werk zur Ware deklariert und das allein aufgrund des Preises und des mit dem Besitz verbundenen Prestiges zum Pseudo-Fetisch mutiert. Er rekurriert auf Dinge, die ihre Bedeutung aus anderen Quellen beziehen, die zu Reservoiren der Erinnerung geworden sind.
Der Profanisierungsprozess der Dinge spiegelt sich in der Etymologie des Wortes, das einschneidende Bedeutungsverschiebungen erfahren hat. Das Ding geht zurück auf das Altfriesische thing, womit (noch) kein Gegenstand, keine Sache gemeint war, sondern ein Versammlungsort. Auf dem Thing wurde beraten und verhandelt. Dann ein Sprung: Folgt man dem Verb dingen, lässt sich nachweisen, dass aus der Orts- eine Sachbezeichnung wurde: ein Thing abhalten hieß u.a zu prozessieren, Verträge abzuschließen. Man verdingte sich. Die Bedeutung des Dings wurde schwächer. Der Loslösung aus dem rituellen Kontext folgte die Einbindung in einen gesellschaftlich relevanten Zusammenhang und letztlich die Degradierung zur Ware. Als solche werden die Dinge in den Konsumtempeln dar- und feilgeboten. Die Künstler setzen den Gegenakzent. Pathetisch ausgedrückt: Sie retten die Dinge vor dem Absturz in die Banalität. Sie bannen die Dinge, auf dass sie ihrerseits ihren Bann entfalten. Zum Beispiel als Memorialobjekte, wie Harmut Böhme ausführt: Was Dinge kulturell sind, wird ihnen übergeworfen wie ein Kleid, das den Dingen allmählich gleichsam anwächst. Dieses Historisch- und Biografisch-Werden der Dinge macht sie zu Archiven des Gedächtnisses, an denen Personen wie Kollektive ihren Halt gewinnen.
Derart aufgeladene, zu Bedeutungsträgern avancierte Dinge sind Zwitterwesen: materiell und immateriell zugleich. Auf der Schnittstelle zwischen Profanität und Heiligkeit. Sie sind Stein oder Pflanze oder Werkzeug – zugleich Symbol. Chiffre. Mal zu interpretieren als Verweis in animistische Weltsysteme – oder auch zu begreifen als Tor in die metaphorische Kunst-Welt desjenigen, der die Dinge auf seine je spezifische Weise herauszugreifen und auszustellen weiß. Objekte und Kunst-Objekte teilen sich eine zentrale Eigenschaft: in ihnen werden Ideen sinnlich zur Anschauung gebracht. Die sukzessive Bedeutungs-Anreicherung der Kunstobjekte festigt – Böhmes Gedanken weitergedacht – ihren Fetischcharakter. Die Werke sind Träger kultureller Importe aus vergangener Zeit, vermischt mit Zeichen und Hinweisen aus unser aller Leben (und dem des Künstlers): eine schillernde Melange, in der sich die Bedeutungsebenen des Abgebildeten und Abbilds vermischen. Sie lässt sich nicht gänzlich auflösen und enträtseln. Das gilt selbstredend auch für Rüths grab_art-Konzeption.
Alle Dinge sind dazu da, damit sie uns Bilder werden in irgendeinem Sinn.
Rainer Maria Rilke an Frieda von Bülow, 27. Mai [7. Juni] 1899
5.
2009 startete an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel unter Leitung von Martin Tröndle das Forschungsprojekt eMotion. Ziel war es, die vielschichtige Beziehung zwischen Museumsbesuchern und ausgestellten Exponaten zu beschreiben, zu ergründen, wann und auf welche Weise ein Kunstwerk eine Reaktion hervorruft – und wie nachhaltig diese ist. Die Besucher wurden nicht nur befragt, sondern ihre Herzfrequenzen gemessen, der Hautleitwert, ihre Gehwege durchs Museum grafisch nachgestellt, kurzum: eine aufwändige Versuchsanordnung eingerichtet, um die psychogeografische Wirkung des Museums und seiner Objekte auf das Erleben der Museumsbesucher zu ergründen, der Wechselwirkung von Kunst und Rezipienten nachzuspüren. Die Erhebung ist längst abgeschlossen, einige Ergebnisse sind publiziert, Martin Tröndle zum begehrten Interviewpartner geworden, nicht zuletzt, weil die Forschungsergebnisse so gar nicht mit den heute favorisierten Ausstellungskonzepten kompatibel sind. Salopp formuliert: Was der Mensch zum Kunstgenuss benötigt, ist kein Event. Sondern: Zeit, Raum und Ruhe. Einkehr heißt das Stichwort – so altbacken es klingen mag. Um Wirkung zu erzielen, bedarf es einer stillen, stummen Auseinandersetzung.
Voraussetzung für einen solchen Dialog zwischen Werk und Betrachter ist, so ein Untersuchungsergebnis, nicht das Wissen. Das Zufüttern von Informationen, üppige Erklärungen, eine Fülle an Deutungsangeboten unterminieren eher das, was in guter Tradition ästhetische Erfahrung genannt wird und genau jenen, den Geist, die Seele und den Körper einschließenden Erlebnistypus umschließt, auf den die Studie als Zielempfehlung rekurriert. So darf eine Werkschau nicht zum schnellen Defilee verkommen, sondern verlangt ruhiges Abschreiten – und Innehalten. Verweilen. Erst der Zustand der Kontemplation gestattet den Augen, die fein ziselierte Form einer Schränkzange aus Rüths Werkgruppe Helden der Arbeit oder die haarig anmutenden Verflechtungen einer Algenwurzel der Serie Tango morisco nachzuzeichnen. Die Veränderung bei wechselndem Lichteinfall zu beobachten. In den farbreduzierten Holz-Ausschnitten der Sequenz La mascarade die Kerben und Äste der Hölzer in ihrer Feinheit wahrzunehmen – um dann endlich, auch das, gewiss: den inneren Bildern und Assoziationen Raum zu geben, das Gehirn einzuschalten, auf die synaptischen Funksignale zu warten – und nunmehr die breitflächige, vielfarbig changierende Säge als Helm eines Kriegers zu identifizieren. Oder zu beobachten, wie sich allmählich ein Gesicht aus dem Holz zu schälen beginnt. Oder eine Totenmaske.
Zu der Entstehung seiner Frottagen hat Max Ernst die Entstehungsgeschichte gleich mitgeliefert. Am zehnten August 1925 sei es gewesen, in einem Gasthaus an der See. Am Abend, zwischen Wachen und Schlafen, in der Zeit, die Proust Quelle der Inspiration, die für die Surrealisten als Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Bewusstseinszuständen interessant war, fiel, ganz profan, Max Ernsts Blick auf den zerkratzten Dielenfußboden des Hotelzimmers. In diesem Licht, bei genauer Betrachtung, nahmen die Bohlen buchstäblich Gestalt an: Ich beschloß, dem symbolischen Gehalt dieser Heimsuchung nachzugehen und um meine meditativen und halluzinatorischen Fähigkeiten zu unterstützen, machte ich von den Fußbodendielen eine Serie von Zeichnungen, indem ich auf sie ganz zufällig Papierblätter legte und diese mit einem schwarzen Blei rieb. Ein Ergebnis dieser Geburtsstunde der Frottagen ist die Serie Histoire Naturelle. Die Holzmaserung gibt Anorganisches wie Organisches preis: Berge, Täler, Gestirne, Bäume, Tiere, immer wieder Augen – und im letzten, vierunddreißigsten Blatt, unter dem Titel Eva, die einzige, die uns bleibt (Eve, le seul qui nous reste) den auf schlankem Hals emporgereckten Hinterkopf einer Frau. Ihr Haar: ein hölzernes Gewächs, von Max Ernst durch gezielte Bildkomposition trefflich in Szene gerückt. Das gilt für die komplette Serie: Das Figurative will dem Holz entlockt werden. Es bedarf der Hand des Künstlers, aber wohl dosiert. Das Original muss identifizierbar bleiben, zugleich das in ihm Verborgene durch kalkuliertes Eingreifen sichtbar gemacht werden. Aus diesem Spannungsverhältnis ergibt sich der Reiz der Arbeiten. Eva entspringt einem schnöden Dielenbrett. So wie das Ursprungsmaterial der Rüthschen Serie La mascarade das von Wind und salziger Meeresluft angegriffene Bohlenbrett eines Tisches ist. Es ist eigentlich nur ein Stück Holz.
Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.
Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus, Sonett XXII, letzter Vers
6.
Wer sprachlich fassen will, was die Wirkung von Kunst ausmacht, greift gerne zu Metaphern: Es hat gefunkt, heißt es. Jemand lässt sich vereinnahmen oder wird gar von etwas ergriffen – als handle es sich um einen Akt des Über- und Zugreifens, der keine Gegenwehr duldet. Zugleich spiegeln die Metaphern den körperlichen Aspekt ästhetischen Erlebens. Die ästhetische Erfahrung ist Totalitätserfahrung, Erfahrung ›einer Welt‹, wie der Terminus in der Poetik herkömmlicherweise lautet, resümiert Ulrich Schödlbauer in Entwurf der Lyrik. Ästhetische Erfahrungen sind nicht diskutierbar. Sie haben den Status der Evidenz für denjenigen, der sie erlebt – etwa beim Lesen eines Verses oder beim Betrachten eines Bildes. Es ergreift einen eben, wie man gerne sagt, ohne genau zu wissen, was man damit eigentlich sagt. Der Grund liegt in der Komplexität des Geschehens, an dem Künstler, Kunstwerk und Rezipient gleichermaßen beteiligt sind, ohne dass es sich quantifizieren ließe. Auch wenn laut Studie der Tröndle-Gruppe die menschliche Reaktion auf Kunst objektiv messbar ist, so erfassen die Werte doch lediglich die Symptome des eigenen Erlebens, aber nicht das Erlebte selbst. Ästhetische Erfahrung bleibt ein intrinsischer Akt. Changierend, sich verändernd. Kunsterfahrung ist ein sich aus sich selbst speisender Prozess. In ihm wirbelt Erlebtes wie Erlesenes, Privates wie kulturell Geprägtes, Ungedeutetes wie Gedeutetes – auf Rezeptionsseite. Nicht anders ist es auf Seiten des Produzenten. Das hat Konsequenzen. Der gern beschworene Dialog zwischen Künstler und Rezipient via Kunstwerk unterliegt erheblichen Störungen. Die Sprache etwa, die ein Dichter nutzt, die a priori nicht dem Austausch dient, nicht der Vermittlung, sondern vielmehr Medium einer Selbstaussage ist, stößt zwangsläufig und gewollt an Verstehensgrenzen: Die Gründe, auf die der Lyriker zurückgeht, sind die Abgründe seiner Sprache, das, worauf er im Dialog mit sich unabweislich zurückkommt. Diese Abgründe aber sind nicht rein ermittelbar, weil die Sprache des Individuums, ihrer vermittelnden Funktion zwischen den Subjekten beraubt und ganz darauf fokussiert, ein Bild des subjektiven Sprachraums zu geben, in ebenso anonyme wie amorphe Bestandteile zerfällt, wie Ulrich Schödlbauer diagnostiziert. Das Resultat: ein lyrischer Abgrund klafft zwischen Dichter und Leser. Eine kräftige Metapher, auf die Schödlbauer setzt. Sie fängt das Schaurige wie das Schöne, das Anziehende wie Abstoßende, die Angst und das Begehren ein, das einen erfasst, wenn man sich – mit gebotener Vorsicht – einem Abgrund nähert, um den Blick in eine Welt zu riskieren, die sonst verborgen bleibt.
Zwischen den lyrischen Sprachwelten, deren Zugang (bzw. Verschlossenheit) Ulrich Schödlbauer erkundet, und der Bildwelt Walter Rüths gibt es Parallelen. Den Worten eines Dichters, nur bis zu einem gewissen Grad zugänglich, entspricht eine Bildsprache, die sich ebenfalls nur bis zu einem gewissen Grad verstehen und übersetzen lässt. Ein ästhetischer Abgrund markiert auch hier die Grenze. Sich ihm sehenden Auges zu nähern, erhöht die Chance auf eine ästhetische Erfahrung.
Diese verderblichen Arrangements auf der Schwelle von Leben und Tod, auch Nature morte genannt, die Verfall und Triumph über die Zeit gleichermaßen symbolisieren, sind am geheimnisvollsten, wenn sie in Meerestiefen abtauchen und das Diebesgut aus dem flüssigen Element in schimmernden Farben auf Tellern servieren.
Andrea Köhler, Pasta mit Lobster
7.
Für den Band Tafelrunde haben die Herausgeber Angelika Overath, Man-fred Koch und Silvia Overath Schriftstellerkolleginnen und -kollegen um Lieblingsrezepte gebeten. Da es sich nicht um ein herkömmliches Kochbuch handelte, war deren Abdruck an eine Bedingung geknüpft: kein Rezept ohne Geschichte. Von diesen literarischen Zugaben lebt Tafelrunde.
Andrea Köhler, die in New York lebende Kulturkorrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung, hat sich für Pasta mit Lobster entschieden – und für einen Besuch des Metropolitan Museum. Auf dem Gemälde Still Life With Lobster and Fruit des Holländers Abraham van Beyeren begegnet sie ihrem Hummer erneut: Hier muß jemand ein bißchen gewütet haben, schreibt sie über van Beyerens leicht derangierte Tischszene, in deren Mittelpunkt der Hummer thront: Man spürt noch die Meeresbrise in diesem Stilleben, man riecht den Duft der rosabehauchten Pfirsiche. Ein üppiges Mal scheint im Gang, Genuss versprechend und zugleich an die Vergänglichkeit aller Sinnenlust (und wohl auch allen Lebens) erinnernd. Das Vanitas-Motiv: tief eingelassen in die Tradition der Nature morte, wird es in der Sequenz Tango morisco wiederbelebt. Rüth kontrastiert den prallen, glitzernden, im Frühjahr gefundenen Pflanzenleib mit der am Ende des Sommers zum knöchernen Gerüst vertrockneten Alge. Ein kleiner, weißer Knochenstab, der das Symbol der Vergänglichkeit in dieses Arrangement trägt. Beiläufig – und vor allem nicht ausschließlich, denn grab_art verlangt die Auseinandersetzung mit ikonografischen Festschreibungen wie der der Stillleben – um sie zu sprengen. Allgemeiner formuliert: Die Spuren der Verortungen in einem System aus Referenzen werden sichtbar gemacht – um sie zu verwischen. Letztlich dient das komplette Programm dieser Ästhetik des Konkreten dem Befeuern der Imagination.
Literatur und andere Quellen:
BISCHOFF, ULRICH: Max Ernst. 1891 – 1976. Jenseits der Malerei Köln 2005, Max Ernst Museum Brühl, www.maxernstmuseum.lvr.de
BÖHME, HARTMUT: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek bei Hamburg 2006
EMOTION mapping museum experience – Forschungsprojekt des Instituts für Design- und Kunstforschung der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel: http://www.mapping-museum-experience.com/de
KÖHLER, ANDREA: Pasta mit Lobster In: Overath/Koch (Hgg.): Tafelrunde – Schriftsteller kochen für ihre Freunde, München 2012
MERSMANN, PAUL: http://www.iablis.de/grabbeau/raum/rme.html
MORITZ, ULRICH: http://www.ulrichmoritz.de
MÜLLER, HERTA: Der Fremde Blick oder Das Leben ist ein Furz in der Laterne, Göttingen 1999
PONGE, FRANCIS: Stücke, Methoden, übersetzt von Gerd Henniger, in: Ausgewählte Werke, Frankfurt a.M. 1968
PONGE, FRANCIS: Lyren, übersetzt von Gerd Henniger, in: Ausgewählte Werke, Frankfurt a.M. 1965
RILKE, RAINER MARIA: Duineser Elegien. Die Sonette an Orpheus, Frankfurt a. M. 1974
RILKE, RAINER MARIA: Gesammelte Briefe in sechs Bänden, Bd. 1, Briefe aus den Jahren 1892 bis 1904, Leipzig 1939
SARTRE, JEAN-PAUL: Der Mensch und die Dinge. Aufsätze zur Literatur 1938-1946, hrsg. von Lothar Baier, übersetzt u.a. von Lothar Baier, Werner Bökenkamp, Reinbek bei Hamburg 1978
SCHÖDLBAUER, ULRICH: Entwurf der Lyrik, Berlin 1994
SCHÖDLBAUER, ULRICH: Walter Rüth, grab_art (2009)
SCHÖDLBAUER, ULRICH: Walter Rüth, grab_art (2012) http://www.iablis.de/grabbeau/raum/rru.html
ZOLA, ÉMILE: Paradies der Damen, in: Die Rougon-Macquart – Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich, übersetzt von Hilda Westphal, München 1976