Immo Sennewald: Abend

An die­sem Mor­gen durch­drang helle Sie­ges­son­ne die grau­en Wol­ken, die seit einer Woche Paris ver­düs­ter­ten. So er­glänz­te denn auch das »Pa­ra­dies der Damen« seit acht Uhr in den Strah­len die­ses hel­len Son­nen­scheins, in der Glo­rie sei­ner gro­ßen Ver­kaufs­aus­stel­lung von Win­ter­neu­hei­ten.
Émile Zola, Pa­ra­dies der Damen

1.

Ein Sturm treibt die Dinge vor sich her. Män­tel. Ra­sie­rer. Autos. Sup­pen­do­sen. Zi­ga­ret­ten. Pfei­fen. Fla­kons. Fla­schen. Mes­ser. Kurz­fris­tig fin­den die Dinge Halt beim Kon­su­men­ten, bevor sie er­neut er­fasst und fort­ge­trie­ben wer­den, da das Be­geh­ren sich auf an­de­res rich­tet – an­ge­heizt durch eine gi­gan­ti­sche me­dia­le Ma­schi­ne­rie, die sich als Sinn­ge­ber des Kon­sums auf­spielt. Kurz­um: Die Dinge und ihre Ab­bil­der sind om­ni­prä­sent. Doch nie­mand sieht sie mehr.

Nie­mand? Ei­ni­ge Künst­ler haben die Dinge nie aus den Augen ver­lo­ren – selbst in Zei­ten, als der abs­trak­ten Ma­le­rei ein all­mäch­ti­ger Sta­tus zu­ge­spro­chen wurde. Das Künst­ler­paar Bernd und Hilla Be­cher hat sich Jahr­zehn­te um die In­dus­trie­bau­ten die­ser Welt ge­küm­mert, ent­stan­den sind un­zäh­li­ge Schwarz-Weiß-Fo­tos – längst Klas­si­ker des Gen­res der Do­ku­men­tar­fo­to­gra­fie. Seit Jah­ren bringt Ul­rich Mo­ritz seine nu­an­cen­rei­chen Bunt­stift­zeich­nun­gen aufs Pa­pier, bannt mit zar­tem Strich Flech­ten, Moose, Schne­cken, eine Mis­tel­ko­lo­nie, aber auch le­der­ne Hand­schu­he. Sei­ner Home­page hat er das Motto Nach der Natur vor­an­ge­stellt. Aus der ide­el­len Nähe zum Ma­nie­ris­mus und Sur­rea­lis­mus hat der Maler und Schrift­stel­ler Paul Mers­mann nie einen Hehl ge­macht. 1960 war ein sol­ches Be­kennt­nis alles an­de­re als en vogue. Doch in sei­nem groß­for­ma­ti­gen Ge­mäl­de Sa­tur­ni­sche Bi­blio­thek, ent­stan­den in eben jenem Jahr in Rom, ist der Tra­di­ti­ons­raum, in dem Mers­mann sich be­wegt, un­über­seh­bar. Das in dunk­lem, ge­heim­nis­vol­lem Blau ge­hal­te­ne Ar­ran­ge­ment aus Kör­pern und Kör­per­tei­len, dra­piert auf und vor einer Kom­mo­de, ist Beleg für einen kol­le­gia­len Schul­ter­schluss mit den Sym­bo­lis­ten – und er­öff­net zu­gleich eine neue, ei­ge­ne Bild­welt. Wer sich einer Tra­di­ti­ons­li­nie ver­schreibt, bes­ser: sich in sie einschreibt, muss (und darf) nicht zum Ko­pis­ten wer­den. Es gilt, einen ei­ge­nen Stil zu ent­wi­ckeln. Der äs­the­ti­sche Raum will neu aus­ge­schrit­ten, ver­mes­sen – und mit fri­schem In­ven­tar be­stückt wer­den. Zum Bei­spiel mit einer üppig ver­zier­ten Schränk­zan­ge, einer spitz­schnäu­zig zu­lau­fen­den Säge, einer schil­lern­den Alge oder einem schnee­wei­ßen Stück Holz. Das sind ex­em­pla­ri­sche Bau­stei­ne, mit denen Wal­ter Rüth seit Jah­ren seine Kunst-Welt aus­stat­tet und er­wei­tert. Serie um Serie – ver­bun­den durch einen ge­mein­sa­men Titel, der zu­gleich pro­gram­ma­ti­schen Cha­rak­ter hat: gra­b_art.

Rüths Pro­duk­ti­on ist durch eine kon­se­quen­te Vor­ge­hens­wei­se ge­kenn­zeich­net: Er er­greift Ge­gen­stän­de, fo­to­gra­fiert sie, löst sie aus ihrem ge­wöhn­li­chen Kon­text, um sie auf einem neu­tra­len Hin­ter­grund, gerne auf Weiß, zu prä­sen­tie­ren. Ul­rich Schödlbau­er spricht in sei­nem Auf­satz zu gra­b_art von einem lee­ren Raum, den Rüth um seine Ob­jek­te lege: Die­ser Raum ist, rein tech­nisch ge­spro­chen, eine weiße Flä­che, eine Aus­stel­lungs­flä­che, nichts wei­ter. Die Ver­wand­lung in einen Raum ist Zutat, Be­wusst­seins­zu­tat, Ver­räum­li­chung. Die Poin­te: eine Leere, die als Raum in­ter­pre­tiert wird, weil wir das sehen, was un­se­ren Seh­ge­wohn­hei­ten ent­spricht. Das Spiel mit den sich ge­ra­de­zu re­flex­haft ein­stel­len­den Seh-, aber auch Deu­tungs­ge­wohn­hei­ten, sie zu ak­ti­vie­ren und gleich­zei­tig zu un­ter­mi­nie­ren ist Teil des Kal­küls des Kon­zepts die­ser künst­le­ri­schen Fo­to­gra­fie. Der Ef­fekt, den Rüth (ohne Ha­sche­rei) er­zielt: Auf diese Weise – ohne prak­ti­schen Nut­zen, ohne Zweck­ge­bun­den­heit – in einen Raum ge­stellt, be­kom­men die ob­jets trou­vés etwas Her­aus­for­dern­des: Sie schei­nen auf eine Form der Wahr­neh­mung zu be­har­ren, die ihnen nie zuvor ent­ge­gen­ge­bracht wor­den ist. Das Pa­ra­do­xe: ge­ra­de die Schär­fe, die De­tail­ge­nau­ig­keit, die Prä­zi­si­on, diese An­mu­tung von Hy­per­rea­lis­mus be­för­dern den Weg in die Abs­trak­ti­on. Ein­deu­tig­keit be­flü­gelt die Mehr­deu­tig­keit. Schnell drän­gen sich In­ter­pre­ta­tio­nen auf. Er­in­nert die Nase der Säge nicht an die eines Tie­res? Lässt der ge­schmei­dig wir­ken­de Kör­per der Alge nicht an einen Tän­zer den­ken? Ent­sprun­gen dem ve­ne­zia­ni­schen Kar­ne­val, der ale­man­ni­schen Fast­nacht oder einer spa­ni­schen Mo­ris­ken­tanz­grup­pe? Vor­sicht ist ge­bo­ten. Vor­schnel­le Fi­xie­run­gen ver­schlie­ßen Rüths Bild­welt. Sein Plä­doy­er gilt stets der Of­fen­heit. Und vor allem dem ab­sichts­lo­sen Be­trach­ten – das üb­ri­gens auch am Be­ginn jedes neuen Ar­beits­pro­zes­ses steht. Wal­ter Rüth ist zu al­ler­erst Be­ob­ach­ter. Ein ›Seher‹.

 

Die Mis­tel – der Vo­gel­l­eim: eine Art nor­di­sche Mi­mo­se, Mi­mo­se
der Nebel. Eine Was­ser­pflan­ze, aus at­mo­sphä­ri­schem Was­ser.
Feuilles en pales d`hé­li­ce et fruits en per­les glu­an­tes.
Sago, das im Nebel quillt. Stär­ke­kleis­ter. Krü­mel.
Vé­gé­tal am­phi­bie.
Algen, die mit den Ne­bel­schär­pen, den Ne­bel­schlep­pen zie­hen,
Strand­gut, das an den Zwei­gen der Bäume hän­gen­ge­blie­ben ist,
beim nied­rigs­ten Pe­gel­stand der De­zem­ber­ne­bel
.
Fran­cis Ponge, Stü­cke, Me­tho­den

2.

Am 27. De­zem­ber 1947 rä­so­niert Fran­cis Ponge über sich und sein Ver­hält­nis zu Ideen und Din­gen. Ohne Zö­gern gibt er ihnen, den Din­gen, den Vor­rang. Er schät­ze ihre Ge­gen­wär­tig­keit, ihre Evi­denz, ihre Dich­te, ihre Drei­di­men­sio­na­li­tät. Er kon­sta­tiert, dass die Ge­gen­stän­de sei­ner nicht be­dür­fen. Genau das reizt ihn, be­schäf­tigt ihn, ist ihm zu­gleich Quell der In­spi­ra­ti­on und dich­te­ri­sche Her­aus­for­de­rung. In sei­nem Auf­satz Der Mensch und die Dinge schreibt Jean-Paul Sart­re: (…) lange bevor er [Ponge] sich ent­schloß, über sie [die Dinge] zu schrei­ben, durch­dran­gen sie ihn be­reits mit ihren ge­hei­men Be­deu­tun­gen. Eine Be­ob­ach­tung, die Pon­ges Hal­tung un­ter­mau­ert: Er ist ge­wis­ser­ma­ßen auf Au­gen­hö­he mit der Mis­tel, der Seife, der Mu­schel oder der Kar­tof­fel – mit den Din­gen, die er er­fasst, um sie auf seine spe­zi­fi­sche Weise, in einer Me­lan­ge aus Kon­kre­tem und Abs­trak­tem, zu be­schrei­ben. Am Ende steht ein Text­kör­per, des­sen se­man­ti­sche Dich­te, wie es u.a. Gerd Hen­ni­ger in sei­nem Vor­wort zu dem Band Lyren aus­drückt, mit der der Dinge kor­re­liert. Pon­ges Dich­tung ist mehr als ein mime­ti­scher Akt. Das Ding ist in den Wor­ten, die Worte sind im Ding auf­ge­ho­ben: So lässt sich das Prin­zip viel­leicht fas­sen. Am An­fang steht je­den­falls, und das ist der in die­sem Kon­text re­le­van­te As­pekt, ab­sichts­lo­ses Schau­en. Die Vor­ge­hens­wei­se eines Phä­no­me­no­lo­gen. In Ein­füh­rung in den Kie­sel­stein er­läu­tert Fran­cis Ponge: Das Beste, was man tun kann, ist also, alle Dinge als un­be­kannt an­zu­se­hen und spa­zie­ren zu gehen oder sich unter Bäu­men oder im Gras aus­zu­stre­cken und alles noch ein­mal von vorn an­zu­fan­gen. Oder se­hen­den Auges über den Strand von St. Thu­gen zu wan­deln, san­di­ge Algen auf­zu­le­sen, sie im Licht der Sonne auf­leuch­ten zu sehen, ihren fischi­gen Ge­ruch zu kon­sta­tie­ren, ihre flei­schi­ge Kon­sis­tenz, ihre Nässe.

Die Par­al­le­li­tät zwi­schen Ponge und Rüth liegt also zu­nächst in der Hal­tung, in der Weise des Zu­griffs auf die Dinge die­ser Welt. Beide bil­li­gen den Ge­gen­stän­den Sou­ve­rä­ni­tät zu. Jean-Paul Sar­tres For­mu­lie­rung, die auf Fran­cis Ponge ge­münzt ist, aber eben auch auf Wal­ter Rüth zu­trifft, lau­tet: Er küm­mert sich nicht um Ei­gen­schaf­ten, son­dern um das Sein. Und das Sein jedes Din­ges er­scheint ihm wie ein Ent­wurf, wie eine Be­mü­hung um Aus­druck, um den be­stimm­ten Aus­druck einer be­stimm­ten Nu­an­ce von Dürre, Stau­nen, Gro­ßzü­gig­keit, Un­be­weg­lich­keit. Sich diese An­stren­gung zu eigen zu ma­chen, jen­seits des phä­no­me­na­len As­pekts des Din­ges, ist so­viel wie sein Sein er­fa­ßt zu haben. Die Dinge sind also, was sie sind. Eine Alge ist eine Alge ist eine Alge. Doch um diese Aus­sa­ge tref­fen zu kön­nen, hat die Alge be­reits einen neuen Sta­tus er­reicht: Sie ist nicht nur wahr­ge­nom­men, son­dern be­reits be­nannt und klas­si­fi­ziert wor­den. Die Ak­ti­vi­tä­ten un­se­res Sin­nes­ap­pa­ra­tes sind nicht von denen des Ge­hirns zu tren­nen. Schon kom­men die kul­tu­rel­len Scha­blo­nen zum Tra­gen, die ei­gent­lich aus­ge­schal­tet wer­den sol­len. Vor­ur­teils­freie Be­geg­nung wäre wün­schens­wert, auf sie zu set­zen naiv. Doch das Be­wusst­sein die­ser prin­zi­pi­el­len Krux schafft den grö­ßt­mög­li­chen Spiel­raum für einen Künst­ler, der auf ein Ob­jekt trifft. Objeu: Fran­cis Ponge hat in entre mots et cho­ses diese Wort­neu­schöp­fung für den an­ste­hen­den künst­le­ri­schen Pro­zess ge­prägt. Objeu: Ein Wort­bild, in dem sich Ob­jekt und Ich spie­le­risch (jeu) ver­ei­nen. Ein Aus­druck, der den Kern der gra­b_art-Äs­the­tik trifft.

Wal­ter Rüths In­ter­es­se gilt nicht dem Do­ku­men­ta­ri­schen, wenn­gleich seine Fo­to­gra­fi­en – wie jede Fo­to­gra­fie – zu­nächst Ab­bil­der sind. Der Sat­tel ist als Sat­tel, das Holz als Holz zu iden­ti­fi­zie­ren. Doch die Fo­to­gra­fi­en er­schöp­fen sich nicht in die­sem Ab­bild-Cha­rak­ter. Sie sind mehr. Rüth ist kein Ar­chi­var. Er be­treibt auch keine In­ven­tur wie Gün­ter Eich: Dies ist meine Mütze, dies ist mein Man­tel, hier mein Ra­sier­zeug. Seine künst­le­ri­sche In­ten­ti­on liegt jen­seits des (wie es gerne ge­nannt wird) Au­then­ti­schen. Rüth in­sze­niert, wenn­gleich auf sub­ti­le Weise. Er ver­frem­det, bes­ser: ent­frem­det, bis­wei­len kaum merk­lich. Er ar­bei­tet mit Farbre­duk­ti­on – vor­sich­tig, be­hut­sam. Er ver­schiebt, ver­setzt, auf dass der Wahr­neh­mung ein Streich ge­spielt werde. Das freu­di­ge, im ers­ten Mo­ment der Be­trach­tung auf­flam­men­de Er­ken­nen von etwas Be­kann­tem wird jäh un­ter­bro­chen. Ir­ri­ta­ti­on tritt ein. Das Ver­trau­te wird fremd. Der Blick ver­än­dert sich. Auch er wird fremd.

 

Der Ver­fol­ger muß nicht kör­per­lich da sein, um zu be­dro­hen. Als Schat­ten sitzt er so­wie­so in den Din­gen, er hat das Fürch­ten hin­ein getan ins Fahr­rad, ins Haa­reblei­chen, ins Par­fum, in den Kühl­schrank und ge­wöhn­li­che, tote Ge­gen­stän­de zu dro­hen­den ge­macht.
Herta Mül­ler, Der Frem­de Blick

3.

Der Frem­de Blick auf die Dinge des All­tags ist im Fall von Herta Mül­ler nicht das Pro­dukt eines äs­the­ti­schen Kon­zepts, son­dern einer rea­len Be­dro­hung ge­schul­det. Herta Mül­ler wurde lange Jahre vom ru­mä­ni­schen Ge­heim­dienst be­schat­tet. Sie soll wis­sen, dass sie unter Be­ob­ach­tung steht, dass nichts ver­bor­gen bleibt, dass der Ge­heim­dienst Zu­griff auf sie und ihre Woh­nung hat. Plötz­lich fin­det sie beim Nach­hau­se­kom­men einen Zim­mer­stuhl in der Küche. Einen Zet­tel in einer Scha­le auf dem Kühl­schrank. Dinge sind ver­tauscht, ver­rückt. Manch­mal nur we­ni­ge Mil­li­me­ter. Herta Mül­ler be­ginnt Kon­troll­gän­ge durch die Woh­nung, die ihr immer frem­der wird. Wie auch die Dinge immer wei­ter von ihr fort rü­cken. In die­sem All­tag ist der Frem­de Blick ent­stan­den, schreibt sie. Er ist Re­sul­tat einer In­fil­tra­ti­on. Die Be­dro­hung steckt nun in den Din­gen. Sie sind auf­ge­la­den, kün­den von Über­wa­chung und Ver­fol­gung, haben jede Harm­lo­sig­keit ver­lo­ren. Als sie 1987 nach Ber­lin zieht, trägt sie die­sen Frem­den Blick be­reits in sich. Ich habe ihn mit­ge­bracht aus dem Land, wo ich her­kom­me und alles kann­te. Herta Mül­lers Frem­der Blick ist dem Leben in einer Dik­ta­tur ge­schul­det. Das wird von den Feuille­to­nis­ten, was sie be­klagt, gerne über­se­hen. Sie sehen den Frem­den Blick als Teil ihres li­te­ra­ri­schen Hand­werks. Herta Mül­ler wehrt sich ve­he­ment gegen die­ses Miss­ver­ständ­nis und kommt zu einem pau­scha­li­sie­ren­den Schluss: Der Frem­de Blick hat mit Li­te­ra­tur nichts zu tun. Doch gegen eine sol­che – ge­wiss in ihrer Bio­gra­fie be­grün­de­te – Ge­ne­ra­li­sie­rung lässt sich ein Ein­wand er­he­ben, ist das Prin­zip des frem­den Blicks, des be­wusst in­iti­ier­ten Fremd­wer­dens des Ver­trau­ten, doch durch­aus in die Sphä­re der Kunst über­trag­bar. Auch hier geht es darum – gott­lob in fried­li­chem Kon­text –, Rah­men­be­din­gun­gen zu schaf­fen, die den Blick schär­fen, ihn auf neues Ter­rain len­ken, die Ir­ri­ta­ti­on aus­lö­sen, bis­wei­len auch Be­klem­mung. Die Räume für neue In­ter­pre­ta­tio­nen er­öff­nen. Denn eines ist klar: das Sta­di­um des rei­nen Be­trach­tens ist ein ver­gäng­li­ches. Sym­bo­le wol­len ent­schlüs­selt, For­men­spra­chen trans­fe­riert, Be­deu­tung, letzt­lich Sinn, ge­ne­riert wer­den.

Das Pa­ra­dox: Am Ende des Schaf­fens­pro­zes­ses steht ein Kunst­werk, in dem die Dinge eine Magie ent­wi­ckeln – und zwar von sich aus, von innen. Es scheint, als ent­blö­ßen sie ihre ma­gi­schen Qua­li­tä­ten in dem Mo­ment, in dem sie ma­te­ri­ell ab­we­send sind. Das darf nicht außer Acht ge­las­sen wer­den: Im Ver­lauf des äs­the­ti­schen Pro­zes­ses sind die Dinge ab­han­den ge­kom­men und durch Re­prä­sen­tan­ten er­setzt wor­den. Ceci n’est pas une pipe: René Mag­rit­te hat es auf den Punkt ge­bracht. Es han­delt sich bei der Säge nicht mehr um ein Hand­werks­zeug. Die Alge kann nicht zu Salat ver­ar­bei­tet, das Holz­stück nicht ver­brannt wer­den. Noch ein­mal: Erst in die­sem Sta­di­um, jen­seits der Ding­lich­keit der Dinge, jen­seits ihrer Ver­füg­bar­keit, scheint genau das ma­gi­sche Po­ten­ti­al zur An­schau­ung zu kom­men, das Dinge zum Fe­tisch wer­den lässt. Wobei eine Frage im Raum steht: Ist das ab­ge­bil­de­te Ob­jekt der Fe­tisch oder das Kunst­werk, das das Ob­jekt dar­bie­tet? Sart­re schreibt, Pon­ges Ideal ist, daß seine Werke, aus Ding-Wor­ten kom­po­niert, die seine Epo­che und wahr­schein­lich seine Art über­le­ben wer­den, sel­ber zu Din­gen wer­den. Ein ver­lo­cken­der Ge­dan­ke, ge­bühr­te doch die Ach­tung ge­gen­über man­chen, gar die hei­li­ge Scheu vor ei­ni­gen, nicht län­ger den Din­gen selbst, son­dern dem zum Ding ge­wor­de­nen Kunst­werk. Ein Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess, in des­sen Ver­lauf das Ma­gi­sche, das eine Fo­to­se­quenz wie Tango mo­ris­co oder La mas­ca­ra­de erst zur An­schau­ung bringt, nun vom Ding in die Kunst flie­ßt. Ein ge­lun­ge­ner Kunst­griff.

 

Wir ster­ben, Dinge nicht.
Hart­mut Böhme, Fe­ti­schis­mus und Kul­tur

4.

Das Thema Magie der Dinge ist ein wei­tes Feld. Hart­mut Böhme hat es in sei­ner Ab­hand­lung Fe­ti­schis­mus und Kul­tur – Eine an­de­re Theo­rie der Mo­der­ne in aller Dif­fe­ren­ziert­heit be­stellt. Er be­schreibt den kul­ti­schen Cha­rak­ter der Dinge, ihre Ver­an­ke­rung in von My­tho­lo­gie be­stimm­ten Denk­sys­te­men, er kon­sta­tiert, dass Reste des dort ent­stan­de­nen Fe­ti­schis­mus bis in die Mo­der­ne ragen: Mo­dern heißt, mit sich selbst im Wi­der­spruch zu leben, ohne ihn auf­he­ben zu müs­sen. Mo­der­ne Kul­tur, die die­sen Namen ver­dient, be­stün­de darin, eben­so Ra­tio­na­li­tät und Selbst­re­fle­xi­on aus­zu­dif­fe­ren­zie­ren wie fe­ti­schis­ti­sche Prak­ti­ken nicht nur zu dul­den, son­dern selbst zu ent­wi­ckeln. Damit meint Hart­mut Böhme nicht das ab­sur­de Trei­ben eines (ver-)glü­hen­den Kunst­mark­tes, der ein Werk zur Ware de­kla­riert und das al­lein auf­grund des Prei­ses und des mit dem Be­sitz ver­bun­de­nen Pres­ti­ges zum Pseu­do-Fe­tisch mu­tiert. Er re­kur­riert auf Dinge, die ihre Be­deu­tung aus an­de­ren Quel­len be­zie­hen, die zu Re­ser­voiren der Er­in­ne­rung ge­wor­den sind.

Der Pro­fa­ni­sie­rungs­pro­zess der Dinge spie­gelt sich in der Ety­mo­lo­gie des Wor­tes, das ein­schnei­den­de Be­deu­tungs­ver­schie­bun­gen er­fah­ren hat. Das Ding geht zu­rück auf das Alt­frie­si­sche thing, womit (noch) kein Ge­gen­stand, keine Sache ge­meint war, son­dern ein Ver­samm­lungsort. Auf dem Thing wurde be­ra­ten und ver­han­delt. Dann ein Sprung: Folgt man dem Verb din­gen, lässt sich nach­wei­sen, dass aus der Orts- eine Sach­be­zeich­nung wurde: ein Thing ab­hal­ten hieß u.a zu pro­zes­sie­ren, Ver­trä­ge ab­zu­schlie­ßen. Man ver­ding­te sich. Die Be­deu­tung des Dings wurde schwä­cher. Der Los­lö­sung aus dem ri­tu­el­len Kon­text folg­te die Ein­bin­dung in einen ge­sell­schaft­lich re­le­van­ten Zu­sam­men­hang und letzt­lich die De­gra­die­rung zur Ware. Als sol­che wer­den die Dinge in den Kon­sum­tem­peln dar- und feil­ge­bo­ten. Die Künst­ler set­zen den Ge­gen­ak­zent. Pa­the­tisch aus­ge­drückt: Sie ret­ten die Dinge vor dem Ab­sturz in die Ba­na­li­tät. Sie ban­nen die Dinge, auf dass sie ih­rer­seits ihren Bann ent­fal­ten. Zum Bei­spiel als Me­mo­rial­ob­jek­te, wie Har­mut Böhme aus­führt: Was Dinge kul­tu­rell sind, wird ihnen über­ge­wor­fen wie ein Kleid, das den Din­gen all­mäh­lich gleich­sam an­wächst. Die­ses His­to­risch- und Bio­gra­fisch-Wer­den der Dinge macht sie zu Ar­chi­ven des Ge­dächt­nis­ses, an denen Per­so­nen wie Kol­lek­ti­ve ihren Halt ge­win­nen.

Der­art auf­ge­la­de­ne, zu Be­deu­tungs­trä­gern avan­cier­te Dinge sind Zwit­ter­we­sen: ma­te­ri­ell und im­ma­te­ri­ell zu­gleich. Auf der Schnitt­stel­le zwi­schen Pro­fa­ni­tät und Hei­lig­keit. Sie sind Stein oder Pflan­ze oder Werk­zeug – zu­gleich Sym­bol. Chif­fre. Mal zu in­ter­pre­tie­ren als Ver­weis in ani­mis­ti­sche Welt­sys­te­me – oder auch zu be­grei­fen als Tor in die me­ta­pho­ri­sche Kunst-Welt des­je­ni­gen, der die Dinge auf seine je spe­zi­fi­sche Weise her­aus­zu­grei­fen und aus­zu­stel­len weiß. Ob­jek­te und Kunst-Ob­jek­te tei­len sich eine zen­tra­le Ei­gen­schaft: in ihnen wer­den Ideen sinn­lich zur An­schau­ung ge­bracht. Die suk­zes­si­ve Be­deu­tungs-An­rei­che­rung der Kunst­ob­jek­te fes­tigt – Böh­mes Ge­dan­ken wei­ter­ge­dacht – ihren Fe­tisch­cha­rak­ter. Die Werke sind Trä­ger kul­tu­rel­ler Im­por­te aus ver­gan­ge­ner Zeit, ver­mischt mit Zei­chen und Hin­wei­sen aus unser aller Leben (und dem des Künst­lers): eine schil­lern­de Me­lan­ge, in der sich die Be­deu­tungs­ebe­nen des Ab­ge­bil­de­ten und Ab­bilds ver­mi­schen. Sie lässt sich nicht gänz­lich auf­lö­sen und ent­rät­seln. Das gilt selbst­re­dend auch für Rüths gra­b_art-Kon­zep­ti­on.

 

Alle Dinge sind dazu da, damit sie uns Bil­der wer­den in ir­gend­ei­nem Sinn.
Rai­ner Maria Rilke an Frie­da von Bülow, 27. Mai [7. Juni] 1899

5.

2009 star­te­te an der Hoch­schu­le für Ge­stal­tung und Kunst in Basel unter Lei­tung von Mar­tin Trönd­le das For­schungs­pro­jekt eMo­ti­on. Ziel war es, die viel­schich­ti­ge Be­zie­hung zwi­schen Mu­se­ums­be­su­chern und aus­ge­stell­ten Ex­po­na­ten zu be­schrei­ben, zu er­grün­den, wann und auf wel­che Weise ein Kunst­werk eine Re­ak­ti­on her­vor­ruft – und wie nach­hal­tig diese ist. Die Be­su­cher wur­den nicht nur be­fragt, son­dern ihre Herz­fre­quen­zen ge­mes­sen, der Haut­leit­wert, ihre Geh­we­ge durchs Mu­se­um gra­fisch nach­ge­stellt, kurz­um: eine auf­wän­di­ge Ver­suchs­an­ord­nung ein­ge­rich­tet, um die psy­cho­geo­gra­fi­sche Wir­kung des Mu­se­ums und sei­ner Ob­jek­te auf das Er­le­ben der Mu­se­ums­be­su­cher zu er­grün­den, der Wech­sel­wir­kung von Kunst und Re­zi­pi­en­ten nach­zu­spü­ren. Die Er­he­bung ist längst ab­ge­schlos­sen, ei­ni­ge Er­geb­nis­se sind pu­bli­ziert, Mar­tin Trönd­le zum be­gehr­ten In­ter­view­part­ner ge­wor­den, nicht zu­letzt, weil die For­schungs­er­geb­nis­se so gar nicht mit den heute fa­vo­ri­sier­ten Aus­stel­lungs­kon­zep­ten kom­pa­ti­bel sind. Sa­lopp for­mu­liert: Was der Mensch zum Kunst­ge­nuss be­nö­tigt, ist kein Event. Son­dern: Zeit, Raum und Ruhe. Ein­kehr heißt das Stich­wort – so alt­ba­cken es klin­gen mag. Um Wir­kung zu er­zie­len, be­darf es einer stil­len, stum­men Aus­ein­an­der­set­zung.

Vor­aus­set­zung für einen sol­chen Dia­log zwi­schen Werk und Be­trach­ter ist, so ein Un­ter­su­chungs­er­geb­nis, nicht das Wis­sen. Das Zu­füt­tern von In­for­ma­tio­nen, üp­pi­ge Er­klä­run­gen, eine Fülle an Deu­tungs­an­ge­bo­ten un­ter­mi­nie­ren eher das, was in guter Tra­di­ti­on äs­the­ti­sche Er­fah­rung ge­nannt wird und genau jenen, den Geist, die Seele und den Kör­per ein­schlie­ßen­den Er­leb­nis­ty­pus um­schlie­ßt, auf den die Stu­die als Ziel­emp­feh­lung re­kur­riert. So darf eine Werk­schau nicht zum schnel­len De­fi­lee ver­kom­men, son­dern ver­langt ru­hi­ges Ab­schrei­ten – und In­ne­hal­ten. Ver­wei­len. Erst der Zu­stand der Kon­tem­pla­ti­on ge­stat­tet den Augen, die fein zi­se­lier­te Form einer Schränk­zan­ge aus Rüths Werk­grup­pe Hel­den der Ar­beit oder die haa­rig an­mu­ten­den Ver­flech­tun­gen einer Al­gen­wur­zel der Serie Tango mo­ris­co nach­zu­zeich­nen. Die Ver­än­de­rung bei wech­seln­dem Licht­ein­fall zu be­ob­ach­ten. In den farbre­du­zier­ten Holz-Aus­schnit­ten der Se­quenz La mas­ca­ra­de die Ker­ben und Äste der Höl­zer in ihrer Fein­heit wahr­zu­neh­men – um dann end­lich, auch das, ge­wiss: den in­ne­ren Bil­dern und As­so­zia­tio­nen Raum zu geben, das Ge­hirn ein­zu­schal­ten, auf die syn­ap­ti­schen Funk­si­gna­le zu war­ten – und nun­mehr die breit­flä­chi­ge, viel­far­big chan­gie­ren­de Säge als Helm eines Krie­gers zu iden­ti­fi­zie­ren. Oder zu be­ob­ach­ten, wie sich all­mäh­lich ein Ge­sicht aus dem Holz zu schä­len be­ginnt. Oder eine To­ten­mas­ke.

Zu der Ent­ste­hung sei­ner Frot­ta­gen hat Max Ernst die Ent­ste­hungs­ge­schich­te gleich mit­ge­lie­fert. Am zehn­ten Au­gust 1925 sei es ge­we­sen, in einem Gast­haus an der See. Am Abend, zwi­schen Wa­chen und Schla­fen, in der Zeit, die Proust Quel­le der In­spi­ra­ti­on, die für die Sur­rea­lis­ten als Schnitt­stel­le zwi­schen un­ter­schied­li­chen Be­wusst­seins­zu­stän­den in­ter­es­sant war, fiel, ganz pro­fan, Max Ernsts Blick auf den zer­kratz­ten Die­len­fuß­bo­den des Ho­tel­zim­mers. In die­sem Licht, bei ge­nau­er Be­trach­tung, nah­men die Boh­len buch­stäb­lich Ge­stalt an: Ich be­schloß, dem sym­bo­li­schen Ge­halt die­ser Heim­su­chung nach­zu­ge­hen und um meine me­di­ta­ti­ven und hal­lu­zi­na­to­ri­schen Fä­hig­kei­ten zu un­ter­stüt­zen, mach­te ich von den Fuß­bo­den­die­len eine Serie von Zeich­nun­gen, indem ich auf sie ganz zu­fäl­lig Pa­pier­blät­ter legte und diese mit einem schwar­zen Blei rieb. Ein Er­geb­nis die­ser Ge­burts­stun­de der Frot­ta­gen ist die Serie His­toire Na­tu­rel­le. Die Holz­ma­se­rung gibt An­or­ga­ni­sches wie Or­ga­ni­sches preis: Berge, Täler, Ge­stir­ne, Bäume, Tiere, immer wie­der Augen – und im letz­ten, vier­und­drei­ßigs­ten Blatt, unter dem Titel Eva, die ein­zi­ge, die uns bleibt (Eve, le seul qui nous reste) den auf schlan­kem Hals em­por­ge­reck­ten Hin­ter­kopf einer Frau. Ihr Haar: ein höl­zer­nes Ge­wächs, von Max Ernst durch ge­ziel­te Bild­kom­po­si­ti­on treff­lich in Szene ge­rückt. Das gilt für die kom­plet­te Serie: Das Fi­gu­ra­ti­ve will dem Holz ent­lockt wer­den. Es be­darf der Hand des Künst­lers, aber wohl do­siert. Das Ori­gi­nal muss iden­ti­fi­zier­bar blei­ben, zu­gleich das in ihm Ver­bor­ge­ne durch kal­ku­lier­tes Ein­grei­fen sicht­bar ge­macht wer­den. Aus die­sem Span­nungs­ver­hält­nis er­gibt sich der Reiz der Ar­bei­ten. Eva ent­springt einem schnö­den Die­len­brett. So wie das Ur­sprungs­ma­te­ri­al der Rüth­schen Serie La mas­ca­ra­de das von Wind und sal­zi­ger Mee­res­luft an­ge­grif­fe­ne Boh­len­brett eines Ti­sches ist. Es ist ei­gent­lich nur ein Stück Holz.

 

Alles ist aus­ge­ruht:
Dun­kel und Hel­lig­keit,
Blume und Buch.

Rai­ner Maria Rilke, Die So­net­te an Or­pheus, So­nett XXII, letz­ter Vers

6.

Wer sprach­lich fas­sen will, was die Wir­kung von Kunst aus­macht, greift gerne zu Me­ta­phern: Es hat ge­funkt, heißt es. Je­mand lässt sich ver­ein­nah­men oder wird gar von etwas er­grif­fen – als hand­le es sich um einen Akt des Über- und Zu­grei­fens, der keine Ge­gen­wehr dul­det. Zu­gleich spie­geln die Me­ta­phern den kör­per­li­chen As­pekt äs­the­ti­schen Er­le­bens. Die äs­the­ti­sche Er­fah­rung ist To­ta­li­täts­er­fah­rung, Er­fah­rung ›einer Welt‹, wie der Ter­mi­nus in der Poe­tik her­kömm­li­cher­wei­se lau­tet, re­sü­miert Ul­rich Schödlbau­er in Ent­wurf der Lyrik. Äs­the­ti­sche Er­fah­run­gen sind nicht dis­ku­tier­bar. Sie haben den Sta­tus der Evi­denz für den­je­ni­gen, der sie er­lebt – etwa beim Lesen eines Ver­ses oder beim Be­trach­ten eines Bil­des. Es er­greift einen eben, wie man gerne sagt, ohne genau zu wis­sen, was man damit ei­gent­lich sagt. Der Grund liegt in der Kom­ple­xi­tät des Ge­sche­hens, an dem Künst­ler, Kunst­werk und Re­zi­pi­ent glei­cher­ma­ßen be­tei­ligt sind, ohne dass es sich quan­ti­fi­zie­ren ließe. Auch wenn laut Stu­die der Trönd­le-Grup­pe die mensch­li­che Re­ak­ti­on auf Kunst ob­jek­tiv mess­bar ist, so er­fas­sen die Werte doch le­dig­lich die Sym­pto­me des ei­ge­nen Er­le­bens, aber nicht das Er­leb­te selbst. Äs­the­ti­sche Er­fah­rung bleibt ein in­trin­si­scher Akt. Chan­gie­rend, sich ver­än­dernd. Kunst­er­fah­rung ist ein sich aus sich selbst spei­sen­der Pro­zess. In ihm wir­belt Er­leb­tes wie Er­le­se­nes, Pri­va­tes wie kul­tu­rell Ge­präg­tes, Un­ge­deu­te­tes wie Ge­deu­te­tes – auf Re­zep­ti­ons­sei­te. Nicht an­ders ist es auf Sei­ten des Pro­du­zen­ten. Das hat Kon­se­quen­zen. Der gern be­schwo­re­ne Dia­log zwi­schen Künst­ler und Re­zi­pi­ent via Kunst­werk un­ter­liegt er­heb­li­chen Stö­run­gen. Die Spra­che etwa, die ein Dich­ter nutzt, die a prio­ri nicht dem Aus­tausch dient, nicht der Ver­mitt­lung, son­dern viel­mehr Me­di­um einer Selbst­aus­sa­ge ist, stößt zwangs­läu­fig und ge­wollt an Ver­ste­hens­gren­zen: Die Grün­de, auf die der Ly­ri­ker zu­rück­geht, sind die Ab­grün­de sei­ner Spra­che, das, wor­auf er im Dia­log mit sich un­ab­weis­lich zu­rück­kommt. Diese Ab­grün­de aber sind nicht rein er­mit­tel­bar, weil die Spra­che des In­di­vi­du­ums, ihrer ver­mit­teln­den Funk­ti­on zwi­schen den Sub­jek­ten be­raubt und ganz dar­auf fo­kus­siert, ein Bild des sub­jek­ti­ven Sprach­raums zu geben, in eben­so an­ony­me wie amor­phe Be­stand­tei­le zer­fällt, wie Ul­rich Schödlbau­er dia­gnos­ti­ziert. Das Re­sul­tat: ein ly­ri­scher Ab­grund klafft zwi­schen Dich­ter und Leser. Eine kräf­ti­ge Me­ta­pher, auf die Schödlbau­er setzt. Sie fängt das Schau­ri­ge wie das Schö­ne, das An­zie­hen­de wie Ab­sto­ßen­de, die Angst und das Be­geh­ren ein, das einen er­fasst, wenn man sich – mit ge­bo­te­ner Vor­sicht – einem Ab­grund nä­hert, um den Blick in eine Welt zu ris­kie­ren, die sonst ver­bor­gen bleibt.

Zwi­schen den ly­ri­schen Sprach­wel­ten, deren Zu­gang (bzw. Ver­schlos­sen­heit) Ul­rich Schödlbau­er er­kun­det, und der Bild­welt Wal­ter Rüths gibt es Par­al­le­len. Den Wor­ten eines Dich­ters, nur bis zu einem ge­wis­sen Grad zu­gäng­lich, ent­spricht eine Bild­spra­che, die sich eben­falls nur bis zu einem ge­wis­sen Grad ver­ste­hen und über­set­zen lässt. Ein äs­the­ti­scher Ab­grund mar­kiert auch hier die Gren­ze. Sich ihm se­hen­den Auges zu nä­hern, er­höht die Chan­ce auf eine äs­the­ti­sche Er­fah­rung.

 

Diese ver­derb­li­chen Ar­ran­ge­ments auf der Schwel­le von Leben und Tod, auch Na­tu­re morte ge­nannt, die Ver­fall und Tri­umph über die Zeit glei­cher­ma­ßen sym­bo­li­sie­ren, sind am ge­heim­nis­volls­ten, wenn sie in Mee­res­tie­fen ab­tau­chen und das Die­bes­gut aus dem flüs­si­gen Ele­ment in schim­mern­den Far­ben auf Tel­lern ser­vie­ren.
An­drea Köh­ler, Pasta mit Lobs­ter

7.

Für den Band Ta­fel­run­de haben die Her­aus­ge­ber An­ge­li­ka Over­ath, Man-fred Koch und Sil­via Over­ath Schrift­stel­ler­kol­le­gin­nen und -kol­le­gen um Lieb­lings­re­zep­te ge­be­ten. Da es sich nicht um ein her­kömm­li­ches Koch­buch han­del­te, war deren Ab­druck an eine Be­din­gung ge­knüpft: kein Re­zept ohne Ge­schich­te. Von die­sen li­te­ra­ri­schen Zu­ga­ben lebt Ta­fel­run­de.

An­drea Köh­ler, die in New York le­ben­de Kul­tur­kor­re­spon­den­tin der Neuen Zür­cher Zei­tung, hat sich für Pasta mit Lobs­ter ent­schie­den – und für einen Be­such des Me­tro­po­li­tan Mu­se­um. Auf dem Ge­mäl­de Still Life With Lobs­ter and Fruit des Hol­län­ders Abra­ham van Beye­ren be­geg­net sie ihrem Hum­mer er­neut: Hier muß je­mand ein bi­ßchen ge­wü­tet haben, schreibt sie über van Beye­rens leicht de­ran­gier­te Tisch­sze­ne, in deren Mit­tel­punkt der Hum­mer thront: Man spürt noch die Mee­res­bri­se in die­sem Stil­le­ben, man riecht den Duft der ro­sabe­hauch­ten Pfir­si­che. Ein üp­pi­ges Mal scheint im Gang, Ge­nuss ver­spre­chend und zu­gleich an die Ver­gäng­lich­keit aller Sin­nen­lust (und wohl auch allen Le­bens) er­in­nernd. Das Va­ni­tas-Mo­tiv: tief ein­ge­las­sen in die Tra­di­ti­on der Na­tu­re morte, wird es in der Se­quenz Tango mo­ris­co wie­der­be­lebt. Rüth kon­tras­tiert den pral­len, glit­zern­den, im Früh­jahr ge­fun­de­nen Pflan­zen­leib mit der am Ende des Som­mers zum knö­cher­nen Ge­rüst ver­trock­ne­ten Alge. Ein klei­ner, wei­ßer Kno­chen­stab, der das Sym­bol der Ver­gäng­lich­keit in die­ses Ar­ran­ge­ment trägt. Bei­läu­fig – und vor allem nicht aus­schlie­ß­lich, denn gra­b_art ver­langt die Aus­ein­an­der­set­zung mit iko­no­gra­fi­schen Fest­schrei­bun­gen wie der der Still­le­ben – um sie zu spren­gen. All­ge­mei­ner for­mu­liert: Die Spu­ren der Ver­or­tun­gen in einem Sys­tem aus Re­fe­ren­zen wer­den sicht­bar ge­macht – um sie zu ver­wi­schen. Letzt­lich dient das kom­plet­te Pro­gramm die­ser Äs­the­tik des Kon­kre­ten dem Be­feu­ern der Ima­gi­na­ti­on.

Li­te­ra­tur und an­de­re Quel­len:

BI­SCH­OFF, UL­RICH: Max Ernst. 1891 – 1976. Jen­seits der Ma­le­rei Köln 2005, Max Ernst Mu­se­um Brühl, www.​maxernstmuseum.​lvr.​de
BÖHME, HART­MUT: Fe­ti­schis­mus und Kul­tur. Eine an­de­re Theo­rie der Mo­der­ne, Rein­bek bei Ham­burg 2006
EMO­TI­ON map­ping mu­se­um ex­pe­ri­ence – For­schungs­pro­jekt des In­sti­tuts für De­sign- und Kunst­for­schung der Hoch­schu­le für Ge­stal­tung und Kunst Basel: http://​www.​mapping-museum-experience.​com/​de
KÖH­LER, AN­DREA: Pasta mit Lobs­ter In: Over­ath/Koch (Hgg.): Ta­fel­run­de – Schrift­stel­ler ko­chen für ihre Freun­de, Mün­chen 2012
MERS­MANN, PAUL: http://​www.​iablis.​de/​grabbeau/​raum/​rme.​html
MO­RITZ, UL­RICH: http://​www.​ulrichmoritz.​de
MÜL­LER, HERTA: Der Frem­de Blick oder Das Leben ist ein Furz in der La­ter­ne, Göt­tin­gen 1999
PONGE, FRAN­CIS: Stü­cke, Me­tho­den, über­setzt von Gerd Hen­ni­ger, in: Aus­ge­wähl­te Werke, Frank­furt a.M. 1968
PONGE, FRAN­CIS: Lyren, über­setzt von Gerd Hen­ni­ger, in: Aus­ge­wähl­te Werke, Frank­furt a.M. 1965
RILKE, RAI­NER MARIA: Dui­ne­ser Ele­gi­en. Die So­net­te an Or­pheus, Frank­furt a. M. 1974
RILKE, RAI­NER MARIA: Ge­sam­mel­te Brie­fe in sechs Bän­den, Bd. 1, Brie­fe aus den Jah­ren 1892 bis 1904, Leip­zig 1939
SART­RE, JEAN-PAUL: Der Mensch und die Dinge. Auf­sät­ze zur Li­te­ra­tur 1938-1946, hrsg. von Lo­thar Baier, über­setzt u.a. von Lo­thar Baier, Wer­ner Bö­ken­kamp, Rein­bek bei Ham­burg 1978
SCHÖDLBAU­ER, UL­RICH: Ent­wurf der Lyrik, Ber­lin 1994
SCHÖDLBAU­ER, UL­RICH: Wal­ter Rüth, gra­b_art (2009)
SCHÖDLBAU­ER, UL­RICH: Wal­ter Rüth, gra­b_art (2012) http://​www.​iablis.​de/​grabbeau/​raum/​rru.​html
ZOLA, ÉMILE: Pa­ra­dies der Damen, in: Die Rou­gon-Mac­quart – Na­tur- und So­zi­al­ge­schich­te einer Fa­mi­lie unter dem Zwei­ten Kai­ser­reich, über­setzt von Hilda West­phal, Mün­chen 1976