1. Die Enden der Parabel
An einem Tag im Mai 2000 drang in dem norwegischen Städtchen Hjelmeland ein mit einem Luftgewehr bewaffneter Mann in einen Kindergarten ein und drohte damit, Geiseln zu töten und das Gebäude in die Luft zu sprengen. Der Neununddreißigjährige begründete die Geiselnahme per Telefon im Fernsehen damit, dass er von den Behörden beim Entzug des Sorgerechts für zwei Kinder ungerecht behandelt worden sei. Er richtete einen Appell an die Behörden, ihm bei der ›Lösung seiner Probleme‹ zu helfen. Den Geiseln wolle er nichts tun, solange die Polizei den Kindergarten nicht stürme. Kommentar des Polizeisprechers: »Nun hat er ja Gelegenheit gehabt, sein Anliegen vorzubringen.« (RP Online vom 15. Mai 2000)
»The 2011 Norway attacks were two sequential terrorist attacks against the government, the civilian population and a Workers’ Youth League (AUF)-run summer camp in Norway on 22 July 2011.
The first was a car bomb explosion in Oslo within Regjeringskvartalet, the executive government quarter of Norway, at 15:25:22 (CEST). The bomb was made from a mixture of fertiliser and fuel oil and placed in the back of a car. The car was placed in front of the office of Prime Minister Jens Stoltenberg and other government buildings. The explosion killed eight people and injured at least 209 people, twelve of them seriously.
The second attack occurred less than two hours later at a summer camp on the island of Utøya in Tyrifjorden, Buskerud. The camp was organized by the AUF, the youth division of the ruling Norwegian Labour Party (AP). A gunman dressed in a homemade police uniform and showing false identification gained access to the island and subsequently opened fire at the participants, killing 69 of them, and injuring at least 110, 55 of them seriously; the 69th victim died in a hospital two days after the massacre. Among the dead were personal friends of Prime Minister Jens Stoltenberg and the stepbrother of Norway’s crown princess Mette-Marit.
It was the deadliest attack in Norway since World War II, and on average 1 in 4 Norwegians knew a victim affected by the attacks. The European Union, NATO and several countries around the world expressed their support for Norway and condemned the attacks.
The Norwegian Police arrested Anders Behring Breivik, a then 32-year-old Norwegian right-wing extremist, on Utøya island and charged him with both attacks. The main court trial began on 16 April 2012, and as at all his remand hearings Breivik admitted to having carried out the actions he was accused of, but denied criminal guilt and claimed the defence of necessity (jus necessitatis).«
(Wikipedia, Art. »2011 Norway attacks«, Stand 22. 7. 2012)
Exzess. 3 Thesen
- Exzesse sind Überschreitungen.
- Exzesse sind nicht zustimmungsfähig, es sei denn, es geschieht aus subjektiver Verblendung.
- Exzesse rufen nicht-diskursive Gegeninstanzen auf den Plan.
Zur Rhetorik der Überschreitung
- Überschreitungen sind entweder positiv oder negativ konnotiert.
- Überschreitungen sind kulturelle Vorkommnisse. Sie zielen auf das Selbstverständnis einer Gruppe, einer Gemeinschaft, der Gesellschaft.
- Exzesse sind negativ konnotierte Überschreitungen.
- Exzesse sind ›Ausschweifungen‹. Sie führen seitab: ins Gelände, in die Niederungen, ins soziale Chaos, ins Verderben. Sie sind sozial, rechtlich, kulturell ›nicht hinnehmbar‹.
Zu a) Überschreitungen besitzen eine starke Wertkomponente. Das bedeutet nicht, dass sie automatisch verurteilt werden: im ›gelungenen‹ Fall produzieren sie Staunen, positive Erregung, Bewunderung, Nachahmung. Entsprechend groß ist die Bandbreite möglichen Scheiterns. In der Überschreitung treten Individual- und Kollektivverhalten in einen unübersehbaren Gegensatz. Der Akteur, gleichgültig, ob Individuum oder Teilgruppe, setzt sich in einen partiellen oder totalen Gegensatz zur Gruppe und ruft ihren Widerstand hervor. Das kann um gemeinsam formulierter Ziele willen geschehen, es kann auch auf naiven oder komplexen oder bizarren Annahmen über die wirklichen (›wahren‹) Ziele oder Werte der Gemeinschaft beruhen, es kann auch den gemeinsamen Verständnisrahmen quittieren, wie das bei Deserteuren oder Auswanderern der Fall ist. Zeigt sich kein Widerstand, so wird er imaginiert. Ich habe Gott da draußen nicht gesehen, sagt der Legende gemäß der erste Mensch im All, die Spitze gegen die Religion, das heißt das Vorurteil derer, die unten geblieben sind, ist unüberhörbar.
Zu b) Kulturell bedeutet Überschreitung: Aufkündigung des Selbstverständlichen. Ein als gegeben angesehener Orientierungsraum wird zugunsten einer partiell oder vollständig differenten Orientierung verlassen. Zum Beispiel ist die Geste der ›Hinterfragung‹ auf kulturelle Überschreitung hin angelegt. Das Selbstverständliche weniger selbstverständlich machen, darin besteht die Grundnorm der Überschreitung, die ihrerseits Züge des Selbstverständlichen annehmen kann.
Für die antike Religiosität ist Überschreitung Hybris. Um das zu verstehen, genügt es, sich die Funktion der Götter im griechischen Mythos in Erinnerung zu rufen: was für die Menschen gesetzt ist, ohne ihrem Veränderungswillen zu unterliegen, das wurde von den Göttern über sie verhängt. Wer sich diesen Grenzen nähert oder sie zu übertreten versucht, der nähert sich dem Verhängnis oder liefert sich ihm aus. Hybris ist also eine Art Wette auf die Duldsamkeit der Götter: Reagieren sie oder reagieren sie nicht?
Kulturell etablierte Hybris ist institutionalisierte Religionskritik: Religion wird zurückgedrängt auf das immer kleiner werdende (oder erscheinende) Reservat dessen, was (noch) nicht verändert werden kann. In säkularen Gesellschaften erwächst daraus die Notwendigkeit für die Religionen, die daraus entstehenden Konflikte in sich selbst auszutragen.
Zu c) In einer Kultur der permanenten Überschreitung gilt Religion dann als ›fundamentalistisch‹, wenn sie den etablierten Mechanismus der Überschreitung als Exzess brandmarkt – das heißt, wenn sie die gängigen Wertvorzeichen umkehrt. Dabei ist Religion keineswegs der Feind jeder Überschreitung. Eher scheint sie (vorsichtiger gesprochen: scheinen bestimmte Religionstypen) das oder zumindest ein Muster säkularer Überschreitungsideologien vorzugeben. Es handelt sich also um eine genuine Deutungskonkurrenz, die sich im gegebenen Fall zur Zwillingskonkurrenz steigern kann.
Zu d) Im Begriff des Exzesses fallen religiöse und säkulare Deutung von Transgression zusammen. Was dem säkularen Deutungsbetrieb zu weit geht, geht für den religiösen auf gar keinen Fall et vice versa. Die Pointe liegt in der unterschiedlichen Begründung: während die fundamentalreligiöse Deutung den Exzess der Kultur der Überschreitung selbst zuordnet, bemüht diese im Ernstfall lieber psychiatrische Erklärungsmuster. Bezeichnenderweise erscheint der religiöse Begriff des Bösen hier auf beiden Seiten des Grabens – als spontane und bizarre Erscheinung des ›Anderen‹ auf der einen, als fatale Konsequenz des dominanten Modells auf der anderen Seite.
3 Fragen
- Warum wird das Intolerable einer transgredierenden Praxis in der Regel nur im Exzess sichtbar, sprich: in der verdammenswürdigen Tat?
- Worin genau liegt das Tolerable einer transgredierenden Praxis und wo verlaufen seine Grenzen?
- Wer bestimmt diese Grenzen?
Entwurf
- Der Entwurf ist die transparente Botschaft, der Exzess die Verschlusssache der Überschreitung.
- Der Entwurf gilt als ›einsehbar‹, daher rational, der Exzess ›ist nicht einzusehen‹, daher irrational.
- Letzteres gilt, solange ein Entwurf als ›tolerabel‹ angesehen wird. Intolerabel ist immer der Exzess.
Exkurs: Unfall vs. Exzess
Man kann den Exzess als Unfall betrachten: als Fall, der aus der Mehrzahl der Fälle einer gelingenden Praxis herausfällt.
Bekanntlich können Menschen nicht fliegen. Darin, dass sie Flugzeuge dafür benützen, liegt eine zutiefst befriedigende Überschreitung eines fortdauernden Unvermögens. Fliegen ist eine Praxis, die in stabiler Weise das natürliche Unvermögen zu fliegen unterläuft, bestehend aus einem Bündel technischer Maßnahmen, der Aktivierung eines sozialen Verhaltensmusters und der personalen Affirmation des Unmöglichen: ›Ich fliege!‹ In dieser Hinsicht ›fliegt‹ ein Gepäckstück nicht, obwohl es für die Crew oder für die Technik im Hinblick auf das Fliegen keinen Unterschied macht, ob das Flugzeug mit Passagieren oder Frachtstücken unterwegs ist.
Flugzeuge, das weiß jedes Kind, fliegen nicht ›von Natur‹, sondern innerhalb bestimmter physikalischer Grenzen, innerhalb eines ›definierten‹ Korridors aus Geschwindigkeit, Steigwinkel, Kurvenradien etc. Sobald sie diesen Korridor verlassen, verlassen sie auch den Bereich definierter Flugzustände, sie geraten ins Trudeln etc., also in eine Folge von Abläufen, an deren Ende mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Absturz steht.
Der Absturz ist der Exzess des Fliegens, die Black Box seine Dokumentation.
Die Black Box enthält die technischen Daten, aus denen sich ein Absturz rekonstruieren lässt. Diese Daten sind nicht für die fliegende Crew bestimmt, sondern für die Diagnose im Nachhinein, die Licht in das Dunkel des Unfallgeschehens bringen soll. Letzteres ist ein Produkt der Kulturtechnik ›Fliegen‹. Für jemanden, der darauf besteht, dass ›der Mensch‹ nicht fliegen kann, gibt es dieses Dunkel nicht.
Der Kontrollverlust leitet ein, was man gemeinhin Exzess nennt.
Anders als beim sich anbahnenden Unfall entsteht beim Exzess der Kontrollverlust im Kontext eines Entwurfs. Die Praxis planenden Transzendierens transzendiert sich selbst als Praxis, d.h. als kontrollierte, erfolgsorientierte, in definierten Bahnen ausgeübte Kulturtechnik.
Der Exzess ist die sich entgrenzende Überschreitung.
Die innere Dramatik des Entwurfs
Der Begriff ›Entwurf‹ (›Projekt‹) bedeutet: jemand nimmt sich etwas vor, aber nicht als Zweck, sondern als Mittel. Das Mittel ist dem Zweck gegenüber kontingent, dabei ambivalent: ob es Prestige, Geld, Macht oder eine andere Art der Befriedigung einträgt, hängt daran, wie gut der Entwurf ist, ob er ›trägt‹, ob er ›durchkommt‹, ob er ›realisierbar‹ ist oder ob er nicht letztlich ›an Widerständen scheitert‹ oder auf dem Müllhaufen des vergeblich Ersonnenen landet.
Am Entwurf ist nicht die Zweck-Mittel-Relation entscheidend, sondern die Praktikabilität.
Die Entwürfe eines Automobils, einer Fabrikhalle, einer gesellschaftlichen oder literarischen Praxis liegen, einen bestimmten technisch-zivilisatorischen Stand vorausgesetzt, nicht weiter auseinander als die entsprechenden Praxen des Auto- oder Fabrikbaus, des sozialen ›Umgangs‹ oder der literarischen Produktion. Was die Entwürfe von den Praxen unterscheidet, verbindet sie untereinander als Entwürfe. Die Koppelung an kurrente Ideen und Planungsmethoden legt die Vermutung nahe, dass Entwürfe generell nicht so weit auseinanderfallen wie die dazugehörigen Praxen.
Entwürfe müssen praktikabel sein. Das heißt, sie dürfen den gängigen Sachverstand nicht überfordern, ausgenommen in dem einen Punkt, der ihren Entwurfcharakter ausmacht: dass sie keine gängige Praxis beschreiben.
Ein Entwurf, der sich mehr oder minder maßstabsgetreu ›in die Wirklichkeit‹ übertragen lässt, mag eine große technische Problemtiefe besitzen, aber seine kulturelle Prägnanz ist gering.
Kulturell prägnant wäre ein Entwurf zu nennen, der auf bedeutenden kulturellen Widerstand trifft.
Kulturell prägend wäre ein Entwurf zu nennen, der diesen Widerstand kalkuliert und mit ihm ›spielt‹. Hier beginnt das Spiel der Wissensfiktionen.
Es lassen sich drei Entwurfstypen unterscheiden:
- Pragmatischer Entwurf: gilt als kontingent, aber ›hier und jetzt‹ nützlich.
- Anthropologisch begründeter/emanzipatorischer Entwurf: gilt im Hinblick auf das Gattungswesen Mensch als bedeutsam.
- Utopischer Entwurf: gilt als Planspiel mit Möglichkeiten ohne akute Aussicht auf Realisierung.
Vermutung: Mit dem Widerstand gegen die Realisierung von Entwürfen wächst die Tendenz, sie anthropologisch zu rechtfertigen (Beispiele wären die generelle Aufhebung von Lebensnöten, die Beseitigung von materiellem Elend und Ausbeutung, der Verweis auf die gefährdeten Lebensgrundlagen der Gattung).
Begründung: Die anthropologische Rechtfertigung besitzt gegenüber anderen den Vorteil der Flexibilität und virtuellen Entgrenzung. Das ›nicht festgestellte Wesen‹ Mensch erlaubt im Prinzip jede Aussage über sich, sofern sie dem Projekt dienlich ist. Seit Platons Höhlengleichnis hilft dabei das Modell der Entfesselung: die wahren Handlungsoptionen der Gattung sind durch die Vielfalt der Stimmen und Meinungen, aber natürlich vor allem der gängigen Praxen verstellt und müssen, wie Platons Höhleninsassen, freigesetzt werden.
Der anthropologisch begründete bzw. gerechtfertigte Entwurf gilt daher von Haus aus als emanzipatorisch: wer immer ihm widerspricht, muss mit der Aufforderung rechnen: Mach dich frei!
Die Freiheit, die Dinge so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, ist der imaginäre Beginn einer Welt, in der die Dinge sich nach den Vorgaben des Entwurfs ordnen.
Die Freiheit, die Dinge nicht so zu sehen, wie der Entwurf sie vorsieht, gilt als Unfreiheit und muss bekämpft werden.
Zur Dynamik anthropologischer Entwürfe gehört der Kampf der Fiktionen.
Ein Entwurf kann an inneren Unstimmigkeiten und Widerständen scheitern. Dagegen kann er, streng genommen, nicht widerlegt werden.
Die äußere Dramatik des Entwurfs
Entwürfe von großer Reichweite rufen viele unterschiedliche Akteure auf den Plan: sie gelten als ›gesellschaftlich relevant‹. Der Gesichtspunkt der Praktikabilität verlagert sich damit auf zwei Bereiche: auf
- projektexterne Voraussetzungen (›nicht gegeben‹) und
- nicht-intendierte Folgewirkungen (›nicht hinnehmbar‹).
Der Wahl der Mittel fällt dabei die Schlüsselposition zu.
Diese Mittel können real oder irreal sein.
Als Faustregel gilt: je höher das Interesse an der Realisierung eines Entwurfs angesetzt wird, desto ›robuster‹ fällt die Wahl aus.
Die unmittelbare Folge lautet: die Grenze zwischen realen und irrealen Mitteln ist beweglich. Sie fällt selbst in den Bereich der Fiktion, d.h. sie kann durch Projekte verschoben werden.
Sicherheitsfiktionen
Anschläge, die das ›Unmögliche‹ oder ›Unwahrscheinliche‹ realisieren, decken die Sicherheitsfiktionen auf, unter denen Menschen normalerweise leben. Sicherheitsfiktionen sind Erwartungsregulatoren, sie garantieren in der Projektkultur das alltägliche Überleben (gewissermaßen die stabile Fluglage) der Vielen – Katastrophen ausgenommen. Je höher das allgemeine Interesse an einem Projekt veranschlagt wird, desto mehr wächst die Bereitschaft der Beteiligten, Sicherheitsfiktionen auszubeuten, das heißt, an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu gehen, soweit sie dem Projekt dienlich, und ihren trügerischen Charakter herauszustellen, soweit sie ihm hinderlich sind.
Eine libertär-emanzipatorische Kultur ist eine Kultur, in der ›mit Anschlägen gerechnet werden muss‹. Sie sind, so wird gesagt, der Preis der Freiheit, soll heißen: sie bezeugen die Freiheit des Entwerfens. Über den Grad an realer Freiheit sagen sie allerdings nichts aus.
Die unsichtbare Hand
Die Vorstellung, dass Projekte scheitern können, gehört zum Einmaleins des Projektierens. Aber woran scheitern Projekte?
- Projekte scheitern, das weiß man, an kleinen Dingen: an Verrat, Pannen, technischen und menschlichen Unzulänglichkeiten.
- Projekte scheitern, das weiß man, am entschiedenen Einsatz derer, die ihren Erfolg zu verhindern trachten.
- Projekte scheitern, auch das weiß man, an ihrer Maßlosigkeit: alles Monströse fällt irgendwann in sich zusammen.
Diese drei Antworten argumentieren pragmatisch: pragmatisch-technisch, pragmatisch-politisch, pragmatisch-ethisch. Konstatiert wird jedesmal ein Übergewicht des Realen gegenüber der fiktionsgetriebenen Realität des Projekts.
Eine vierte Antwort könnte lauten:
- Projekte scheitern, weil ihr Ansatz falsch ist.
Das ist die Stimme der Konkurrenz.
Keine dieser Stimmen ist im Projekt selbst repräsentiert. Sie sind aber mitanwesend: als Einspruch des niemals auszuschließenden Unglaubens an die eigene Sache.
Die starke Mitanwesenheit der Idee des Scheiterns forciert ein Projekt: soll heißen, sie erzeugt seine innere Gewaltsamkeit, die in der Planung, der Ausführung, schließlich in der partiellen oder totalen Verschließung der Akteure gegen die eigene ursprüngliche Motivation oder die ›innere Stimme‹ der Vernunft oder des Gewissens ihren Niederschlag findet.
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Projekt auf Grund mangelnder Erfolgsaussichten aufgegeben wird, sinkt mit dem Zuwachs an interner Gewaltsamkeit.
Parallel dazu wächst die Fragwürdigkeit der eingesetzten Mittel.
Parallel dazu wächst die Bereitschaft der Beteiligten, das Schicksal entscheiden zu lassen. Nur die unsichtbare Hand der Götter darf das Spiel beenden. Das Projekt wird zum Drama.
Das Ende selbst ist die mythische Größe, das Schicksal, das jeder Aufführung innewohnt.
Die innere Grenze oder der Zwilling
Die Logik der Überschreitung drängt zum Exzess. Der Exzess ist die Selbstüberschreitung des Entwurfs, die konsequente Nichtanerkennung der Möglichkeit des Scheiterns oder der Endlichkeit des Entwurfs über jede realistische Handlungsoption hinaus.
Ich nenne das ›sekundäre Überschreitung‹ (›Phase 2‹).
Diese Rede setzt voraus, dass innerhalb des Projekts eine Grenze existiert.
Das ›ursprüngliche‹ Projekt kennt keine solche Grenze. Sie muss also durch die Aufnahme prinzipiell kontingenter, aber potentiell prohibitiver Faktoren erst hineinkommen. Solche Faktoren erscheinen im ›rationalen‹ Projektstadium (Phase 1) durch das Auftauchen von ›Widersachern‹ und sich entwickelnde Gegnerschaften, vor allem aber durch die einsetzende Rezeption konkurrierender Entwürfe, die in der sekundären Überschreitung zu feindlichen Instanzen werden. Das Projekt, so ließe es sich in der Sprache René Girards formulieren, erschafft sich einen feindlichen Zwilling, dessen Intention dahin geht, die Realisierung des Projekts zu vereiteln, um sich selbst zu realisieren.
Es ist nicht nötig, dass der Zwilling in der realen Welt existiert. Entscheidend ist die Erweiterung der Projektfiktion: die Zahl der zu erreichenden Ziele erhöht sich um die Maßgabe, einen aus analogen Figuren erbauten Gegner niederzuringen und auszuschalten.
Das bedeutet: der Zwilling schiebt sich vor das zu erreichende, womöglich in weite Ferne gerückte Ziel und modifiziert die Ausführungsparameter.
Die sekundäre Überschreitung ist tendenziell eliminatorisch.
Zwillingsfiktionen
Zwillingsfiktionen sind Fiktionen, in denen die Möglichkeit des Scheiterns intentional fixiert und damit äußerlich und innerlich dimensioniert wird. Eine bekannte Zwillingsfiktion ist der Sündenbock, bei dem die irreale Zuschreibung überwiegt. Als Figur der Alltagswahrnehmung ist er praktisch omnipräsent. Dennoch bleibt er eine Möglichkeit unter anderen. Anthropologisch fundierte bzw. emanzipatorische Projekte sind nicht zwingend auf die Existenz von Sündenböcken angewiesen, wenn es darum geht, Stockungen und Niederlagen zu erklären. Es genügt die symmetrische Verdopplung: die Erzeugung und Intensivierung (virtueller) Feindschaft mittels mehr oder minder willkürlicher Hypothesen und Projektionen. Im Zweifel bleibt nicht allein unentscheidbar, wie weit ihnen ›reale‹ (erwiderte) Feindschaft entspricht, sondern auch, ob die betreffende Personengruppe bzw. das betreffende Projekt überhaupt existiert. So sind die unter Stalin oder Mao willkürlich (zum Teil in Erfüllung vorgegebener Quoten bzw. Kennzahlen) aus der Masse herausgegriffenen Systemfeinde im strengen Sinn keine Sündenböcke, weil die Opferauszeichnung, anders als bei der Verfolgung vorgängig bezeichneter Opfergruppen (Juden, ›Zigeuner‹, Homosexuelle etc.), in actu vorgenommen wird.
In dieser Art Feindkultur spielen ›Dossiers‹, ›Profile‹, ›Dokumentationen‹, Renegatenberichte eine prominente Rolle. Sie sollen belegen, was im Zweifelsfall nicht zu belegen ist: dass die ›andere Seite‹, weit davon entfernt, sich mit der Rolle des sachbezogenen Konkurrenten oder Kritikers zu begnügen, in geheimen Machenschaften unterwegs ist, die der Unterminierung des bereits Erreichten dienen und um (fast) jeden Preis unterbunden werden müssen – was der Argumentlage nach ein aussichtsloses Unterfangen darstellt.
2. Gewalt
Im Juni 2011 trat die Leiterin eines Stockholmer Kindergartens, in dem nach Presseberichten das geschlechtsspezifische Personalpronomen abgeschafft ist und die Kinder frei von Gender-Zuordnungen aufwachsen sollen, im Frühstücksfernsehen des schwedischen Senders TV4 auf. Sie erklärte dort, dass es nicht die Kinder seien, die verändert werden müssten. Vielmehr müssten die Erzieher an sich selbst arbeiten, um nicht in altes Rollendenken zu verfallen. Sie erklärte auch, dass sie keinesfalls das biologische, nur das soziale Geschlecht ändern wolle. Der Spiegel berichtete: »Es nützte nichts. Die Proteste gingen weiter. Der Volvo brannte. Die rechtspopulistische Partei der Nationaldemokraten griff auf ihrer Website das Thema auf.« (Der Spiegel vom 8. August 2011)
Gender
Brandstiftung an Privatfahrzeugen wird als illegitime, wenngleich gelegentlich effektive Form des politischen Protestes wahrgenommen. Der Strafbarkeit wegen bleibt die Tat meist ins Dunkel der Anonymität gehüllt. Im deutschen Strafrecht etwa liegt die Strafandrohung bei Sachbeschädigung an fremdem Eigentum gemäß § 303 StGB bei bis zu zwei Jahren Freiheitsstrafe (oder Geldstrafe). In Fällen, bei denen Autos angezündet werden, liegt eine Brandstiftung nach § 306 StGB vor. Hier lautet die Strafandrohung auf Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bis zu zehn Jahren. Die Straftat stellt ein Verbrechen dar. Sichtbar ist allein das Opfer: in der Regel eine Person des öffentlichen Interesses, deren Auftreten die Öffentlichkeit ›spaltet‹ – starken positiven Reaktionen stehen (mindestens) ebenso starke negative gegenüber, die in abfälligen Kommentaren, Beschimpfungen, Beleidigungen und Drohungen manifest werden. Die Zugehörigkeit des Opfers beziehungsweise seiner Verfolger zu einer politischen Minderheit ist ein häufig anzutreffendes, aber nicht zwingendes Merkmal. In der Regel distanzieren sich die Vertreter des politischen oder weltanschaulichen Milieus, in dem der oder die Täter vermutet werden, von der Tat. Dabei schwankt die Art der Distanzierung zwischen Abscheu vor der Tat und heimlicher oder lautstark vertretener Zustimmung zu den Motiven.
Der oder die Täter wollen dem Opfer schaden. Es genügt ihnen nicht, anderer Meinung als ihr Opfer zu sein und diese lautstark zu vertreten. Dabei steht in der Regel nicht der materielle Schaden im Vordergrund. Gewollt ist die Einbuße an sozialem bzw. symbolischem Kapital: das Opfer wird markiert und man erwartet, dass seine privaten und öffentlichen Gönner sich ›vorsichtig‹ von ihm zurückziehen. Solidarität mit Flügelleuten des ideologischen Geschäfts ist im Alltag rar. Das wissen die Angreifer. Die gesellschaftliche ›Alleinstellung‹ des Opfers enthält, als mehr oder minder konkrete Dreingabe, auch eine Todesdrohung. Das Fahrzeug steht als pars pro toto für die Person. Es gilt die Logik des kriminellen Untergrunds: Diesmal haben wir uns damit begnügt, dein Auto abzufackeln. Das nächste Mal gehen wir weiter.
Identität
Das soziale Geschlecht gehört, neben Herkunft (Familie), Glaubensrichtung (Religion), Kollektivzugehörigkeit (Nation), Schicht (Klasse) und Beruf zu den stärksten Prägungen überhaupt. Wer sich hier angegriffen fühlt, fühlt sich in der Regel als Person angegriffen, verhöhnt, verunstaltet. Ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung, gesellschaftlichem Wissen, Reflexionsbereitschaft oder erprobter Leidensfähigkeit ist nötig, einem solchen Angriff standzuhalten, ohne seinerseits Rollenkonventionen zu verletzen.
Das gilt für verbale wie nonverbale Akte beleidigender, verhöhnender, generell herabsetzender Art, die als sexistisch, blasphemisch, xenophob, rassistisch etc. von der Gesellschaft gebrandmarkt und gegebenenfalls juristisch verfolgt werden. Es gilt aber auch – und hier komplizieren sich die Verhältnisse –, wenn auf offener gesellschaftlicher Bühne fundamentale Wertentscheidungen debattiert und zur Disposition gestellt werden. Dabei ist Rationalität kein sicherer Verhinderungsgrund für emotionale Reaktionen. Im Gegenteil: sie kann Abwehrreflexe und -handlungen bei Menschen hervorrufen, die sich argumentativ unterlegen fühlen oder sich im Besitz gefühlter Gründe wissen.
Allerdings gehört es zum Charakter öffentlicher Debatten, dass sie nicht wirklich rational geführt werden. Jede Art von Polemik spielt schließlich denjenigen in die Hände, die ohnehin nicht gewillt sind, sich dem Richterspruch der Vernunft zu unterwerfen. Das gilt erst recht in Bereichen, in denen Einstellungen aus gutem Grund kontrovers sind und deshalb im Bedarfsfall Entscheidungen auf der Basis von Regularien und Mehrheiten gefällt werden, die der Sache äußerlich bleiben.
In einem solchen Kontext lässt die Frage, wer sich als Person angegriffen fühlt, sich zwar mit den üblichen Hinweisen auf ›mangelndes Selbstbewusstsein‹, ›ideologische Verblendung‹ oder die Zugehörigkeit zu bestimmten politischen Richtungen abtun. Beantwortet ist sie damit nicht. Es scheint sich um einen Bereich zu handeln, in dem keine objektiven Kriterien existieren. Vielleicht ist die Frage auch falsch gestellt. Wenn primäre Prägungen Automatismen darstellen, die vor jeder Reflexion in Aktion treten, dann ist das Malheur schon immer passiert. Im eingetretenen Fall bleibt der betreffenden Person nichts weiter übrig, als den Schaden zu begrenzen, indem sie ihre Betroffenheit verbirgt, kanalisiert, rhetorisch überblendet, vielleicht auch einfach leugnet.
Das gilt für die aktiven Teilnehmer der Diskurse. Ebenso gilt es für diejenigen, die sich passiv verhalten, innerlich auf Distanz gehen, Reserve gegen Personen und Gruppen oder weitergehende Abwehrhaltungen aufbauen.
Wer argumentiert, will in der Regel auch sich selbst überzeugen. Wer polemischen Druck gegen andere aufbaut, nährt den Verdacht, selbst unter Druck zu stehen.
Wer im gesellschaftlichen Raum primäre Prägungen zur Disposition stellt, muss gegen starke eigene Widerstände angehen. Hier gibt es Weisen der stummen Korrespondenz mit der anderen Seite, man kann auch sagen: der doppelten Buchführung, die Gegnerschaft in der Sache leicht in persönlich gefärbte Abneigung oder Hass mit dem Risiko unkalkulierter und unkalkulierbarer Handlungen umschlagen lässt.
Der Ausdruck ›primäres Selbstwertgefühl‹ leidet, wie der des Selbstwertgefühls überhaupt, unter einer gewissen Ungenauigkeit. Da jedes Gefühl Einfluss auf den ›Selbstwert‹ ausübt, lassen sich weder auf der Gefühls- noch auf der Rollenebene klare Grenzen zwischen marginalen, selbstwertrelevanten und primär selbstwertrelevanten Themen ziehen. In gewisser Weise bestimmt die Person diese Grenzen selbst, und zwar umso ausgeprägter, je ausgeprägter die Person in ihrem Handeln und in ihrem Selbstverständnis erscheint. Daraus folgt aber nicht, dass sie verschwinden, nur weil die betreffende Person es so will. Genausowenig folgt daraus, dass ihre Unschärfe bedingungslos zunimmt, je diffuser eine Person in ihrem Alltagsverhalten erscheint.
Wahrnehmungsmuster
Brandstiftung als klammheimlicher Ausdruck von Gender-Protest, eine erpresserische Geiselnahme in einem Kindergarten aus enttäuschter Vaterschaft und ein rassistisch motiviertes Doppel-Attentat mit 77 Todesopfern sind kriminelle Handlungen unterschiedlichster Gewaltdimension, die entsprechend unterschiedliche öffentliche Reaktionen erzeugen. Beachtet man die Differenz zwischen Verstehen und Billigen, so reicht die Skala von ›irgendwie verstehen, aber nicht billigen‹ im Fall der Brandstiftung bis zu völligem Unverständnis, gepaart mit Abscheu im Fall der Anschläge von Oslo und Utøya. Entsprechend unterschiedlich zeigt sich die Wahrnehmung der Motive.
- Offenbar erleichtert der glimpfliche Ausgang der Geiselnahme die Wahrnehmung einer psychischen Notsituation auf seiten des Täters. Dem entspricht die von den Medien gepflegte Vorstellung, einem privaten ›Drama‹ beizuwohnen, in dem der Täter in subjektiv als ausweglos empfundener Lage operiert, also selbst Opferstatus beanspruchen kann. Brachiale oder feinsinnige ›politische‹ Deutungen werden damit nicht ausgeschlossen.
- Unverständnis und Abscheu übertragen sich unmittelbar auf die Motive des Mörders von Oslo und Utøya. So jedenfalls lassen sich Teile der Berichterstattung über den Breivik-Prozess deuten. Hier rührt die forensische Frage nach dem Geisteszustand des Täters offenkundig an das Selbstbild der betroffenen Gesellschaft. Der Täter handelt als ›selbsternannter‹ Repräsentant einer Gegen-Gesellschaft, sein Mordanschlag auf die politische Nachwuchselite eines Landes richtet sich gegen die herrschenden Repräsentationsverhältnisse und den mit ihnen verknüpften gesellschaftlichen Kurs. Der persönliche Repräsentationsanspruch ist hier im Kern maßlos: die Feindschaft gilt dem System als solchem und wird mit dem Verdacht beantwortet, es mit einer pathologischen Persönlichkeit zu tun zu haben.
- Im Fall der Brandstiftung aus politischer Missbilligung enthält die Haltung des irgendwie Verstehens, aber nicht Billigens die Annahme, ein von öffentlichem Applaus und andministrativem Wohlwollen begleitetes pädagogisches Experiment könne durchaus unter Umständen in der Bevölkerung krasse und ›exzessiv‹ wirkende Reaktionen hervorrufen. Die anonyme Täterschaft bedarf keiner besonderen persönlichen Verstrickung. Das pädagogische Experiment konfligiert mit spontanpädagogischen Einstellungen und vermutlich auch Verhaltensweisen, deren Normativität für einen Teil der Bevölkerung außer Frage steht. Es handelt sich also, gebilligt oder nicht, um eine Tat mit stellvertretendem Anspruch, der auf der Gegenseite ein auf die Gesellschaft im Ganzen bezogener Veränderungswille entspricht.
Überschreitung
Auch wenn man den von den Tätern in Anspruch genommenen oder ihnen unterstellten Politikbegriff mit einem Fragezeichen versieht, bleibt – und zwar in allen drei Fällen – ein politischer Hintergrund. Es sind gesellschaftspolitische Themen – und nicht nur ›Gegebenheiten‹ –, vor deren Hintergrund die Gewalttaten gesehen werden wollen. In allen drei Fällen werden demonstrativ rechtliche und ethische Grenzen um der Durchsetzung bestimmter Ziele willen verletzt. Gleichgültig darum, welche Bedeutung dem eigenen Vorteil dabei zukommt, gilt die Demonstration aus Tätersicht einem Gut, das die Verletzung von Rechtsnormen und selbst den Anschlag auf Leben und körperliche Unversehrtheit Dritter – (ethisch?) – rechtfertigt. Jedenfalls lässt sich das an den Verlautbarungen der Täter mit unterschiedlicher Deutlichkeit ablesen. Die nonverbale Geste des Brandanschlags scheint dem Täter oder den Tätern selbsterklärend zu sein. Am unverständlichsten bleibt, für sich genommen, das Geschehen von Utøya: hier setzt der Täter explizit darauf, den Gerichtssaal zur Tribüne in eigener Sache zu verwandeln.
Die Verletzung ist also eine Überschreitung: die Relativierung der rechtlich-ethischen Grenze soll als Teil des Vorhabens und damit als per se gewollt angesehen werden. Das Ziel ist in allen Fällen die willentliche und demonstrative Verletzung eines kollektiven Handlungsrahmens sub specie subjektiv als höherwertig angesehener Ziele.
Muster
Erkennbar handelt es sich um verschiedene Muster von Überschreitung:
- Überschreitung rechtlich gesetzter Handlungsgrenzen,
- Überschreitung des privaten Kompetenzrahmens in Richtung auf Handlungen mit repräsentativem Anspruch,
- Überschreitung einer kollektiven Praxis als Antizipation einer künftigen,
- Überschreitung als pseudokriegerische Handlung in einem imaginierten Bürgerkrieg,
- nicht zu vergessen die moralische ›Übertretung‹, die, da sie im subjektiven Bewusstsein ›richtigen‹ oder zumindest ›gerechtfertigten‹ Handelns geschieht, ebenfalls zu den Überschreitungen gezählt werden darf.
Gleichzeitig besitzen alle Handlungen Ahndungscharakter: die Täter proklamieren den Entschluss, ein aus ihrer Sicht vorliegendes ›Unrecht‹ bzw. ›Übel‹ nicht länger zu dulden, in dem sie ihrerseits eine Überschreitung zu erkennen glauben, und nehmen für sich das Recht in Anspruch, gewaltsam dagegen vorzugehen. Gerade darin folgt ihnen die Gesellschaft nicht, wenn sie die Überschreitung als Exzess brandmarkt.
Auch hier gibt es Abstufungen: wenn für eine eindeutige Mehrheit das, was der Geiselnehmer von Hjelmeland an jenem für ihn und andere ganz besonderen Tag treibt, ›nicht geht‹, dann erweist sich diese Floskel wiederum als bei weitem zu schwach, um die Überschreitung des Massenmörders Breivik zu charakterisieren, die die stärksten Verdammungsformeln auf sich zieht.
Hybris
Warum diese Gewalt? Warum jetzt? Warum an dieser Stelle? Die Liste der aus juristischer, psychologischer, soziologischer Sicht aufzuwerfenden Fragen mag erheblich länger ausfallen, doch diese drei umreißen ein bestimmtes theoretisches Interesse.
Im Begriff des Exzesses, so wurde gesagt, fallen religiöse und säkulare Deutung negativer Transgression zusammen. Der gemeinsame Begriff, über den dies gelingt, ist der des Bösen. Das Böse als der absolute Widersacher des Guten im Menschen ist einerseits eine theologische Figur, andererseits ein Produkt jener sekundären Überschreitung, die das ursprünglich rationale Projekt gesellschaftlicher Emanzipation in den Bereich der Zwillingsfiktionen hineintreibt. Der Attentäter als das personifizierte Böse ist eine Fiktion, die von ›der Gesellschaft‹ und dem Attentäter geteilt wird – mit dem kleinen, aber gewichtigen Unterschied, dass letzterer die Prädikate ›gut‹ und ›böse‹ vertauscht, ohne jedoch ihre primäre Zuordnung gänzlich aufzuheben. Sein Handeln (vermutlich schon seine Existenz) erscheint ihm daher gut und böse, und zwar ohne jede Relativierung: vor Gericht gestellt weigert er sich, mildernde Umstände für seine Tat in Betracht kommen zu lassen, er fordert für sich gleichzeitig die volle Härte des Gesetzes und – den Freispruch. Man denkt unwillkürlich an die Figur des schwarzen Ritters bzw. Retters aus dem Popularkino Hollywoods, der die gesellschaftliche Verkennung braucht, weil sie Teil seiner Identität ist. Dass die eher sympathisch gezeichnete Batman-Figur ihrerseits zum Ausgangspunkt realer Gewalt werden kann, gehört zu den unfassbaren Realitäten der dream society.
Durch die unfassbare Tat sieht sich die Gesellschaft in ihrem Selbstbild verletzt. Was bedeutet das? Ein Selbstbild ist kein intakter Körper, dem durch äußere Einwirkung Schaden zugefügt wird. Im Gegenteil: dem Selbstbild muss das Verletzende bereits innewohnen (z. B. im Modus der Ausgrenzung bzw. ›Verdrängung‹), um durch die akute Verletzung, d.h. Vervollständigung hervorgeholt und kommuniziert werden zu können. Das im Attentäter personifizierte Böse ist der selbsterschaffene Zwilling, dessen imaginierte Existenz das Scheitern des Projekts ins Unabsehbare prologiert. Der reale Attentäter geht auf diese Rolle ein, sie reizt ihn, aus welchen Gründen auch immer, und er ist unter Umständen sogar bereit, die ›verruchten‹ oder ›verschrobenen‹ Insignien, mit denen die kollektive Phantasie den Zwilling ausstattet, sich auch physisch anzueignen. Die populäre Maske des bizarr Bösen erscheint ihm zwingend genug, um die anderen erkennen zu lassen, wer er sei.
Drei Antworten
- Niemand erschrickt angesichts der bloßen Möglichkeit eines Exzesses – es sei denn im Sinn eines Erschreckens über die Welt, in der solche Dinge möglich sind. Der Exzess gilt als das Unvorhersehbare schlechthin, es scheint aussichtslos zu sein, ihn antizipieren zu wollen, etwa zu Verhinderungszwecken. Das Erschrecken über den Exzess ist daher ein Erschrecken über den Zustand der Gesellschaft, der sich in ihm bekundet. Dieses Erschrecken kann im Einzelfall hilflos sein, weil zwischen der Tat und dem gesellschaftlichen Alltag keine Verbindung zu existieren scheint. Umso seltsamer muss es erscheinen, dass die Ikonographie des Bösen bereits fertig vorliegt, wenn erst das verdammenswürdige Geschehen seinen Lauf nimmt. Ein Exzess, der aus Zwillingsfiktionen hervorgeht, lässt sich als Parabel über die Grenzen der Toleranz in einer transgredierenden Praxis lesen, das heißt über die innere Grenze, jenseits derer die Rationalität der kollektiven Prozesse erkennbare Einbußen erleidet.
- Das Tolerable einer transgredierenden Praxis unterscheidet sich von der in einer Gesellschaft herrschenden Toleranz nach Maßgabe der Differenz des Sakralen und des Profanen. Tolerabel ist, was den Bestand des Heiligen unangetastet lässt. Das kann im Ernstfall mit der im zivilen Zusammenleben gebotenen Toleranz konfligieren. Das Individuum ist der Schauplatz dieses Konflikts. Man kann auch sagen: es wird durch ihn konstituiert. Wer das Selbst als Waffe einsetzt, setzt eine Grenze des Tolerablen und er setzt sie absolut. Eine Gesellschaft, die auf diesen sakralisierenden Akt mit ›zivilen‹ Mitteln (z.B. denen des Rechtsstaats) antwortet, lässt die durch ihn aufgeworfene Kernfrage unbeantwortet – sie hält sich innerhalb der Grenzen der Profanität und entrichtet damit den Preis der Freiheit. Eine Gesellschaft, die auf ihn mit einem eliminatorischen Programm antwortet, befindet sich im Ausnahmezustand: sie führt einen ›heiligen Krieg‹. Auch sie bezahlt für ihren Einsatz, indem sie, zumindest in Teilen, die Freiheit preisgibt.
- In Wissenschaft als Beruf (1922) spricht Max Weber vom ›Kampf der Götter‹, den keine Wissenschaft schlichten könne. Der unaufhebbare Pluralismus der Werthaltungen erzeuge Gegnerschaften, die notwendigerweise ausgetragen und gelebt werden müssten. In diesen notwendigen Auseinandersetzungen wird der Feind primär als Träger von Werthaltungen wahrgenommen. Anders steht es um den Zwilling, der als verhindernde Instanz ins Spiel kommt und dessen Ziel daher automatisch ›wertlos‹ ist. Der Zwilling, so lässt sich konstatieren, ist der durchgestrichene Feind: der Feind, dem die Anerkennung als Feind versagt wird. Ablesen lässt sich dies etwa an der öffentlichen Figur des ›Terroristen‹.
Der Terrorist ist der Zwilling, dessen Existenz prinzipiell den Einsatz jedes Mittels erlaubt.
Der Terrorist ist eine Figur der exzessiven Enthemmung.
Kultureller Taumel
Sechs Thesen:
- Emanzipationskulturen sind Projektkulturen.
- Emanzipation setzt überall einen Richtungssinn voraus.
- Die Pluralität emanzipatorischer Projekte negiert den Richtungssinn von Kultur. Sie macht sie tendenziell sinn-los.
- Die einfache Konkurrenz der Projekte schafft Sinn durch Verähnlichung.
- Die Zwillingskonkurrenz der Projekte schafft Sinn durch Ohnmacht. Der Gegner stellt die eigenen Anstrengungen auf Dauer und verhindert ihren Erfolg.
- Die ohnmächtige Seite träumt von der Elimination des Zwillings. Die (all)mächtige Seite weiß um die Nützlichkeit des Zwillings und ist bestrebt, ihn in engen Grenzen zu erhalten.
Die innere Unerreichbarkeit der Beschreibung
1912 reiste der im Ersten Weltkrieg gefallene französische Soziologe Robert Hertz in die Alpen, um ethnologische Feldstudien zu betreiben. Carlos Marroquin erinnert daran in seinem Aufsatz Mythos versus Fiktion:
Die am Beispiel Saint-Besse entdeckte Doppelkodierung eines regionalen Brauchtums verallgemeinerte Hertz, soweit ihm dafür Zeit blieb, zu einer Theorie kultureller Gegebenheiten – mit eher unausgeloteten Folgen für die Theorie von Kulturen, die aus dem Mythos der Emanzipation weitgehende Veränderungsrechte gegenüber jeweils aktuellen mentalen Besitzständen ableiten. Eine dieser Konsequenzen könnte darin bestehen, den in den Zwillingsfiktionen zutage liegenden Aspekt gesellschaftlicher Desintegration als Moment projekt- und mythenorientierter Modelle gesellschaftlicher Praxis präziser zu bestimmen, als die profane Lesart von Gesellschaft dies erlaubt. In letzerer ist die Ausgrenzungsarbeit immer schon geleistet, die als Hypothek der Ignoranz auf der anderen Seite lastet. Solange die Analyse »die Existenz jener negativen Faktoren, die die Gebrechlichkeit der sozialen Kohäsion, der Identität und der Solidarität offenbaren« als dem Entwurf äußerlich, als Widerständigkeit einer durch geschickte Anpassung auszusteuernden ›Umwelt‹ voraussetzt, entgeht ihr womöglich die zentrale Einsicht, »dass die wahre Natur des sozialen Bandes nicht zu begreifen ist, ohne zuvor eine genaue Kenntnis dessen zu erlangen, was geschieht, wenn dieses Band zerreißt«.
Die Enden der Parabel lautet der deutsche Titel des Romans Gravity’s Rainbow von Thomas Pynchon (1973, dt. 1981).
Literatur
CARLOS MARROQUIN, Mythos versus Fiktion, in: → Iablis 2011