Immo Sennewald: Abend

1. Die Enden der Pa­ra­bel

An einem Tag im Mai 2000 drang in dem nor­we­gi­schen Städt­chen Hjel­me­land ein mit einem Luft­ge­wehr be­waff­ne­ter Mann in einen Kin­der­gar­ten ein und droh­te damit, Gei­seln zu töten und das Ge­bäu­de in die Luft zu spren­gen. Der Neun­und­drei­ßig­jäh­ri­ge be­grün­de­te die Gei­sel­nah­me per Te­le­fon im Fern­se­hen damit, dass er von den Be­hör­den beim Ent­zug des Sor­ge­rechts für zwei Kin­der un­ge­recht be­han­delt wor­den sei. Er rich­te­te einen Ap­pell an die Be­hör­den, ihm bei der ›Lö­sung sei­ner Pro­ble­me‹ zu hel­fen. Den Gei­seln wolle er nichts tun, so­lan­ge die Po­li­zei den Kin­der­gar­ten nicht stür­me. Kom­men­tar des Po­li­zei­spre­chers: »Nun hat er ja Ge­le­gen­heit ge­habt, sein An­lie­gen vor­zu­brin­gen.« (RP On­line vom 15. Mai 2000)

»The 2011 Nor­way at­tacks were two se­quen­ti­al ter­ro­rist at­tacks against the go­vern­ment, the ci­vi­li­an po­pu­la­ti­on and a Workers’ Youth Le­ague (AUF)-run sum­mer camp in Nor­way on 22 July 2011.
The first was a car bomb ex­plo­si­on in Oslo wi­t­hin Reg­je­ringskvar­ta­let, the exe­cu­ti­ve go­vern­ment quar­ter of Nor­way, at 15:25:22 (CEST). The bomb was made from a mix­tu­re of fer­ti­li­ser and fuel oil and pla­ced in the back of a car. The car was pla­ced in front of the of­fice of Prime Mi­nis­ter Jens Stol­ten­berg and other go­vern­ment buil­dings. The ex­plo­si­on kil­led eight peop­le and in­ju­red at least 209 peop­le, twel­ve of them se­rious­ly.
The se­cond at­tack oc­cur­red less than two hours later at a sum­mer camp on the is­land of Utøya in Ty­rif­jor­den, Bus­ke­rud. The camp was or­ga­ni­zed by the AUF, the youth di­vi­si­on of the ru­ling Nor­we­gi­an La­bour Party (AP). A gun­man dres­sed in a ho­mema­de po­li­ce uni­form and sho­w­ing false iden­ti­fi­ca­ti­on gai­ned ac­cess to the is­land and sub­se­quent­ly opened fire at the par­ti­ci­pants, kil­ling 69 of them, and in­ju­ring at least 110, 55 of them se­rious­ly; the 69th vic­tim died in a hos­pi­tal two days after the mas­sa­cre. Among the dead were per­so­nal fri­ends of Prime Mi­nis­ter Jens Stol­ten­berg and the step­bro­ther of Nor­way’s crown prin­cess Met­te-Ma­rit.
It was the dead­liest at­tack in Nor­way since World War II, and on aver­age 1 in 4 Nor­we­gi­ans knew a vic­tim af­fec­ted by the at­tacks. The Eu­ropean Union, NATO and se­veral coun­tries around the world ex­pres­sed their sup­port for Nor­way and con­dem­ned the at­tacks.
The Nor­we­gi­an Po­li­ce ar­rested An­ders Beh­ring Brei­vik, a then 32-ye­ar-old Nor­we­gi­an right-wing ex­tre­mist, on Utøya is­land and char­ged him with both at­tacks. The main court trial began on 16 April 2012, and as at all his re­mand hea­rings Brei­vik ad­mit­ted to ha­ving car­ri­ed out the ac­tions he was ac­cu­sed of, but de­nied cri­mi­nal guilt and clai­med the de­fence of ne­ces­si­ty (jus ne­ces­si­ta­tis).«
(Wi­ki­pe­dia, Art. »2011 Nor­way at­tacks«, Stand 22. 7. 2012)
 

Ex­zess. 3 The­sen

  1. Ex­zes­se sind Über­schrei­tun­gen.
  2. Ex­zes­se sind nicht zu­stim­mungs­fä­hig, es sei denn, es ge­schieht aus sub­jek­ti­ver Ver­blen­dung.
  3. Ex­zes­se rufen nicht-dis­kur­si­ve Ge­gen­in­stan­zen auf den Plan.

Zur Rhe­to­rik der Über­schrei­tung

  1. Über­schrei­tun­gen sind ent­we­der po­si­tiv oder ne­ga­tiv kon­no­tiert.
  2. Über­schrei­tun­gen sind kul­tu­rel­le Vor­komm­nis­se. Sie zie­len auf das Selbst­ver­ständ­nis einer Grup­pe, einer Ge­mein­schaft, der Ge­sell­schaft.
  3. Ex­zes­se sind ne­ga­tiv kon­no­tier­te Über­schrei­tun­gen.
  4. Ex­zes­se sind ›Aus­schwei­fun­gen‹. Sie füh­ren seit­ab: ins Ge­län­de, in die Nie­de­run­gen, ins so­zia­le Chaos, ins Ver­der­ben. Sie sind so­zi­al, recht­lich, kul­tu­rell ›nicht hin­nehm­bar‹.

Zu a) Über­schrei­tun­gen be­sit­zen eine star­ke Wert­kom­po­nen­te. Das be­deu­tet nicht, dass sie au­to­ma­tisch ver­ur­teilt wer­den: im ›ge­lun­ge­nen‹ Fall pro­du­zie­ren sie Stau­nen, po­si­ti­ve Er­re­gung, Be­wun­de­rung, Nach­ah­mung. Ent­spre­chend groß ist die Band­brei­te mög­li­chen Schei­terns. In der Über­schrei­tung tre­ten In­di­vi­du­al- und Kol­lek­tiv­ver­hal­ten in einen un­über­seh­ba­ren Ge­gen­satz. Der Ak­teur, gleich­gül­tig, ob In­di­vi­du­um oder Teil­grup­pe, setzt sich in einen par­ti­el­len oder to­ta­len Ge­gen­satz zur Grup­pe und ruft ihren Wi­der­stand her­vor. Das kann um ge­mein­sam for­mu­lier­ter Ziele wil­len ge­sche­hen, es kann auch auf nai­ven oder kom­ple­xen oder bi­zar­ren An­nah­men über die wirk­li­chen (›wah­ren‹) Ziele oder Werte der Ge­mein­schaft be­ru­hen, es kann auch den ge­mein­sa­men Ver­ständ­nis­rah­men quit­tie­ren, wie das bei De­ser­teu­ren oder Aus­wan­de­rern der Fall ist. Zeigt sich kein Wi­der­stand, so wird er ima­gi­niert. Ich habe Gott da drau­ßen nicht ge­se­hen, sagt der Le­gen­de gemäß der erste Mensch im All, die Spit­ze gegen die Re­li­gi­on, das heißt das Vor­ur­teil derer, die unten ge­blie­ben sind, ist un­über­hör­bar.

Zu b) Kul­tu­rell be­deu­tet Über­schrei­tung: Auf­kün­di­gung des Selbst­ver­ständ­li­chen. Ein als ge­ge­ben an­ge­se­he­ner Ori­en­tie­rungs­raum wird zu­guns­ten einer par­ti­ell oder voll­stän­dig dif­fe­ren­ten Ori­en­tie­rung ver­las­sen. Zum Bei­spiel ist die Geste der ›Hin­ter­fra­gung‹ auf kul­tu­rel­le Über­schrei­tung hin an­ge­legt. Das Selbst­ver­ständ­li­che we­ni­ger selbst­ver­ständ­lich ma­chen, darin be­steht die Grund­norm der Über­schrei­tung, die ih­rer­seits Züge des Selbst­ver­ständ­li­chen an­neh­men kann.

Für die an­ti­ke Re­li­gio­si­tät ist Über­schrei­tung Hy­bris. Um das zu ver­ste­hen, ge­nügt es, sich die Funk­ti­on der Göt­ter im grie­chi­schen My­thos in Er­in­ne­rung zu rufen: was für die Men­schen ge­setzt ist, ohne ihrem Ver­än­de­rungs­wil­len zu un­ter­lie­gen, das wurde von den Göt­tern über sie ver­hängt. Wer sich die­sen Gren­zen nä­hert oder sie zu über­tre­ten ver­sucht, der nä­hert sich dem Ver­häng­nis oder lie­fert sich ihm aus. Hy­bris ist also eine Art Wette auf die Duld­sam­keit der Göt­ter: Re­agie­ren sie oder re­agie­ren sie nicht?

Kul­tu­rell eta­blier­te Hy­bris ist in­sti­tu­tio­na­li­sier­te Re­li­gi­ons­kri­tik: Re­li­gi­on wird zu­rück­ge­drängt auf das immer klei­ner wer­den­de (oder er­schei­nen­de) Re­ser­vat des­sen, was (noch) nicht ver­än­dert wer­den kann. In sä­ku­la­ren Ge­sell­schaf­ten er­wächst dar­aus die Not­wen­dig­keit für die Re­li­gio­nen, die dar­aus ent­ste­hen­den Kon­flik­te in sich selbst aus­zu­tra­gen.

Zu c) In einer Kul­tur der per­ma­nen­ten Über­schrei­tung gilt Re­li­gi­on dann als ›fun­da­men­ta­lis­tisch‹, wenn sie den eta­blier­ten Me­cha­nis­mus der Über­schrei­tung als Ex­zess brand­markt – das heißt, wenn sie die gän­gi­gen Wert­vor­zei­chen um­kehrt. Dabei ist Re­li­gi­on kei­nes­wegs der Feind jeder Über­schrei­tung. Eher scheint sie (vor­sich­ti­ger ge­spro­chen: schei­nen be­stimm­te Re­li­gi­ons­ty­pen) das oder zu­min­dest ein Mus­ter sä­ku­la­rer Über­schrei­tungs­ideo­lo­gi­en vor­zu­ge­ben. Es han­delt sich also um eine ge­nui­ne Deu­tungs­kon­kur­renz, die sich im ge­ge­be­nen Fall zur Zwil­lings­kon­kur­renz stei­gern kann.

Zu d) Im Be­griff des Ex­zes­ses fal­len re­li­giö­se und sä­ku­la­re Deu­tung von Trans­gres­si­on zu­sam­men. Was dem sä­ku­la­ren Deu­tungs­be­trieb zu weit geht, geht für den re­li­giö­sen auf gar kei­nen Fall et vice versa. Die Poin­te liegt in der un­ter­schied­li­chen Be­grün­dung: wäh­rend die fun­da­men­tal­re­li­giö­se Deu­tung den Ex­zess der Kul­tur der Über­schrei­tung selbst zu­ord­net, be­müht diese im Ernst­fall lie­ber psych­ia­tri­sche Er­klä­rungs­mus­ter. Be­zeich­nen­der­wei­se er­scheint der re­li­giö­se Be­griff des Bösen hier auf bei­den Sei­ten des Gra­bens – als spon­ta­ne und bi­zar­re Er­schei­nung des ›An­de­ren‹ auf der einen, als fa­ta­le Kon­se­quenz des do­mi­nan­ten Mo­dells auf der an­de­ren Seite.

3 Fra­gen

  1. Warum wird das In­to­le­ra­ble einer trans­gre­die­ren­den Pra­xis in der Regel nur im Ex­zess sicht­bar, sprich: in der ver­dam­mens­wür­di­gen Tat?
  2. Worin genau liegt das To­le­ra­ble einer trans­gre­die­ren­den Pra­xis und wo ver­lau­fen seine Gren­zen?
  3. Wer be­stimmt diese Gren­zen?

Ent­wurf

  1. Der Ent­wurf ist die trans­pa­ren­te Bot­schaft, der Ex­zess die Ver­schluss­sa­che der Über­schrei­tung.
  2. Der Ent­wurf gilt als ›ein­seh­bar‹, daher ra­tio­nal, der Ex­zess ›ist nicht ein­zu­se­hen‹, daher ir­ra­tio­nal.
  3. Letz­te­res gilt, so­lan­ge ein Ent­wurf als ›to­le­ra­bel‹ an­ge­se­hen wird. In­to­le­ra­bel ist immer der Ex­zess.

Ex­kurs: Un­fall vs. Ex­zess

Man kann den Ex­zess als Un­fall be­trach­ten: als Fall, der aus der Mehr­zahl der Fälle einer ge­lin­gen­den Pra­xis her­aus­fällt.

Be­kannt­lich kön­nen Men­schen nicht flie­gen. Darin, dass sie Flug­zeu­ge dafür be­nüt­zen, liegt eine zu­tiefst be­frie­di­gen­de Über­schrei­tung eines fort­dau­ern­den Un­ver­mö­gens. Flie­gen ist eine Pra­xis, die in sta­bi­ler Weise das na­tür­li­che Un­ver­mö­gen zu flie­gen un­ter­läuft, be­ste­hend aus einem Bün­del tech­ni­scher Maß­nah­men, der Ak­ti­vie­rung eines so­zia­len Ver­hal­tens­mus­ters und der per­so­na­len Af­fir­ma­ti­on des Un­mög­li­chen: ›Ich flie­ge!‹ In die­ser Hin­sicht ›fliegt‹ ein Ge­päck­stück nicht, ob­wohl es für die Crew oder für die Tech­nik im Hin­blick auf das Flie­gen kei­nen Un­ter­schied macht, ob das Flug­zeug mit Pas­sa­gie­ren oder Fracht­stü­cken un­ter­wegs ist.

Flug­zeu­ge, das weiß jedes Kind, flie­gen nicht ›von Natur‹, son­dern in­ner­halb be­stimm­ter phy­si­ka­li­scher Gren­zen, in­ner­halb eines ›de­fi­nier­ten‹ Kor­ri­dors aus Ge­schwin­dig­keit, Steig­win­kel, Kur­ven­ra­di­en etc. So­bald sie die­sen Kor­ri­dor ver­las­sen, ver­las­sen sie auch den Be­reich de­fi­nier­ter Flug­zu­stän­de, sie ge­ra­ten ins Tru­deln etc., also in eine Folge von Ab­läu­fen, an deren Ende mit einer ge­wis­sen Wahr­schein­lich­keit der Ab­sturz steht.

Der Ab­sturz ist der Ex­zess des Flie­gens, die Black Box seine Do­ku­men­ta­ti­on.

Die Black Box ent­hält die tech­ni­schen Daten, aus denen sich ein Ab­sturz re­kon­stru­ie­ren lässt. Diese Daten sind nicht für die flie­gen­de Crew be­stimmt, son­dern für die Dia­gno­se im Nach­hin­ein, die Licht in das Dun­kel des Un­fall­ge­sche­hens brin­gen soll. Letz­te­res ist ein Pro­dukt der Kul­tur­tech­nik ›Flie­gen‹. Für je­man­den, der dar­auf be­steht, dass ›der Mensch‹ nicht flie­gen kann, gibt es die­ses Dun­kel nicht.

Der Kon­troll­ver­lust lei­tet ein, was man ge­mein­hin Ex­zess nennt.

An­ders als beim sich an­bah­nen­den Un­fall ent­steht beim Ex­zess der Kon­troll­ver­lust im Kon­text eines Ent­wurfs. Die Pra­xis pla­nen­den Tran­szen­die­rens tran­szen­diert sich selbst als Pra­xis, d.h. als kon­trol­lier­te, er­folgs­ori­en­tier­te, in de­fi­nier­ten Bah­nen aus­ge­üb­te Kul­tur­tech­nik.

Der Ex­zess ist die sich ent­gren­zen­de Über­schrei­tung.

Die in­ne­re Dra­ma­tik des Ent­wurfs

Der Be­griff ›Ent­wurf‹ (›Pro­jekt‹) be­deu­tet: je­mand nimmt sich etwas vor, aber nicht als Zweck, son­dern als Mit­tel. Das Mit­tel ist dem Zweck ge­gen­über kon­tin­gent, dabei am­bi­va­lent: ob es Pres­ti­ge, Geld, Macht oder eine an­de­re Art der Be­frie­di­gung ein­trägt, hängt daran, wie gut der Ent­wurf ist, ob er ›trägt‹, ob er ›durch­kommt‹, ob er ›rea­li­sier­bar‹ ist oder ob er nicht letzt­lich ›an Wi­der­stän­den schei­tert‹ oder auf dem Müll­hau­fen des ver­geb­lich Er­son­ne­nen lan­det.

Am Ent­wurf ist nicht die Zweck-Mit­tel-Re­la­ti­on ent­schei­dend, son­dern die Prak­ti­ka­bi­li­tät.

Die Ent­wür­fe eines Au­to­mo­bils, einer Fa­brik­hal­le, einer ge­sell­schaft­li­chen oder li­te­ra­ri­schen Pra­xis lie­gen, einen be­stimm­ten tech­nisch-zi­vi­li­sa­to­ri­schen Stand vor­aus­ge­setzt, nicht wei­ter aus­ein­an­der als die ent­spre­chen­den Pra­xen des Auto- oder Fa­brik­baus, des so­zia­len ›Um­gangs‹ oder der li­te­ra­ri­schen Pro­duk­ti­on. Was die Ent­wür­fe von den Pra­xen un­ter­schei­det, ver­bin­det sie un­ter­ein­an­der als Ent­wür­fe. Die Kop­pe­lung an kur­ren­te Ideen und Pla­nungs­me­tho­den legt die Ver­mu­tung nahe, dass Ent­wür­fe ge­ne­rell nicht so weit aus­ein­an­der­fal­len wie die da­zu­ge­hö­ri­gen Pra­xen.

Ent­wür­fe müs­sen prak­ti­ka­bel sein. Das heißt, sie dür­fen den gän­gi­gen Sach­ver­stand nicht über­for­dern, aus­ge­nom­men in dem einen Punkt, der ihren Ent­wurf­cha­rak­ter aus­macht: dass sie keine gän­gi­ge Pra­xis be­schrei­ben.

Ein Ent­wurf, der sich mehr oder min­der maß­st­abs­ge­treu ›in die Wirk­lich­keit‹ über­tra­gen lässt, mag eine große tech­ni­sche Pro­blem­tie­fe be­sit­zen, aber seine kul­tu­rel­le Prä­gnanz ist ge­ring.

Kul­tu­rell prä­gnant wäre ein Ent­wurf zu nen­nen, der auf be­deu­ten­den kul­tu­rel­len Wi­der­stand trifft.

Kul­tu­rell prä­gend wäre ein Ent­wurf zu nen­nen, der die­sen Wi­der­stand kal­ku­liert und mit ihm ›spielt‹. Hier be­ginnt das Spiel der Wis­sens­fik­tio­nen.

Es las­sen sich drei Ent­wurfs­ty­pen un­ter­schei­den:

  1. Prag­ma­ti­scher Ent­wurf: gilt als kon­tin­gent, aber ›hier und jetzt‹ nütz­lich.
  2. An­thro­po­lo­gisch be­grün­de­ter/eman­zi­pa­to­ri­scher Ent­wurf: gilt im Hin­blick auf das Gat­tungs­we­sen Mensch als be­deut­sam.
  3. Uto­pi­scher Ent­wurf: gilt als Plan­spiel mit Mög­lich­kei­ten ohne akute Aus­sicht auf Rea­li­sie­rung.

Ver­mu­tung: Mit dem Wi­der­stand gegen die Rea­li­sie­rung von Ent­wür­fen wächst die Ten­denz, sie an­thro­po­lo­gisch zu recht­fer­ti­gen (Bei­spie­le wären die ge­ne­rel­le Auf­he­bung von Le­bens­nö­ten, die Be­sei­ti­gung von ma­te­ri­el­lem Elend und Aus­beu­tung, der Ver­weis auf die ge­fähr­de­ten Le­bens­grund­la­gen der Gat­tung).

Be­grün­dung: Die an­thro­po­lo­gi­sche Recht­fer­ti­gung be­sitzt ge­gen­über an­de­ren den Vor­teil der Fle­xi­bi­li­tät und vir­tu­el­len Ent­gren­zung. Das ›nicht fest­ge­stell­te Wesen‹ Mensch er­laubt im Prin­zip jede Aus­sa­ge über sich, so­fern sie dem Pro­jekt dien­lich ist. Seit Pla­tons Höh­len­gleich­nis hilft dabei das Mo­dell der Ent­fes­se­lung: die wah­ren Hand­lungs­op­tio­nen der Gat­tung sind durch die Viel­falt der Stim­men und Mei­nun­gen, aber na­tür­lich vor allem der gän­gi­gen Pra­xen ver­stellt und müs­sen, wie Pla­tons Höh­le­n­in­sas­sen, frei­ge­setzt wer­den.

Der an­thro­po­lo­gisch be­grün­de­te bzw. ge­recht­fer­tig­te Ent­wurf gilt daher von Haus aus als eman­zi­pa­to­risch: wer immer ihm wi­der­spricht, muss mit der Auf­for­de­rung rech­nen: Mach dich frei!

Die Frei­heit, die Dinge so zu sehen, wie der Ent­wurf sie vor­sieht, ist der ima­gi­nä­re Be­ginn einer Welt, in der die Dinge sich nach den Vor­ga­ben des Ent­wurfs ord­nen.

Die Frei­heit, die Dinge nicht so zu sehen, wie der Ent­wurf sie vor­sieht, gilt als Un­frei­heit und muss be­kämpft wer­den.

Zur Dy­na­mik an­thro­po­lo­gi­scher Ent­wür­fe ge­hört der Kampf der Fik­tio­nen.

Ein Ent­wurf kann an in­ne­ren Un­stim­mig­kei­ten und Wi­der­stän­den schei­tern. Da­ge­gen kann er, streng ge­nom­men, nicht wi­der­legt wer­den.

Die äu­ße­re Dra­ma­tik des Ent­wurfs

Ent­wür­fe von gro­ßer Reich­wei­te rufen viele un­ter­schied­li­che Ak­teu­re auf den Plan: sie gel­ten als ›ge­sell­schaft­lich re­le­vant‹. Der Ge­sichts­punkt der Prak­ti­ka­bi­li­tät ver­la­gert sich damit auf zwei Be­rei­che: auf

  1. pro­jek­tex­ter­ne Vor­aus­set­zun­gen (›nicht ge­ge­ben‹) und
  2. nicht-in­ten­dier­te Fol­ge­wir­kun­gen (›nicht hin­nehm­bar‹).

Der Wahl der Mit­tel fällt dabei die Schlüs­sel­po­si­ti­on zu.

Diese Mit­tel kön­nen real oder ir­re­al sein.

Als Faust­re­gel gilt: je höher das In­ter­es­se an der Rea­li­sie­rung eines Ent­wurfs an­ge­setzt wird, desto ›ro­bus­ter‹ fällt die Wahl aus.

Die un­mit­tel­ba­re Folge lau­tet: die Gren­ze zwi­schen rea­len und ir­rea­len Mit­teln ist be­weg­lich. Sie fällt selbst in den Be­reich der Fik­ti­on, d.h. sie kann durch Pro­jek­te ver­scho­ben wer­den.

Si­cher­heits­fik­tio­nen

An­schlä­ge, die das ›Un­mög­li­che‹ oder ›Un­wahr­schein­li­che‹ rea­li­sie­ren, de­cken die Si­cher­heits­fik­tio­nen auf, unter denen Men­schen nor­ma­ler­wei­se leben. Si­cher­heits­fik­tio­nen sind Er­war­tungs­re­gu­la­to­ren, sie ga­ran­tie­ren in der Pro­jekt­kul­tur das all­täg­li­che Über­le­ben (ge­wis­ser­ma­ßen die sta­bi­le Flug­la­ge) der Vie­len – Ka­ta­stro­phen aus­ge­nom­men. Je höher das all­ge­mei­ne In­ter­es­se an einem Pro­jekt ver­an­schlagt wird, desto mehr wächst die Be­reit­schaft der Be­tei­lig­ten, Si­cher­heits­fik­tio­nen aus­zu­beu­ten, das heißt, an die Gren­zen ihrer Be­last­bar­keit zu gehen, so­weit sie dem Pro­jekt dien­lich, und ihren trü­ge­ri­schen Cha­rak­ter her­aus­zu­stel­len, so­weit sie ihm hin­der­lich sind.

Eine li­ber­tär-eman­zi­pa­to­ri­sche Kul­tur ist eine Kul­tur, in der ›mit An­schlä­gen ge­rech­net wer­den muss‹. Sie sind, so wird ge­sagt, der Preis der Frei­heit, soll hei­ßen: sie be­zeu­gen die Frei­heit des Ent­wer­fens. Über den Grad an rea­ler Frei­heit sagen sie al­ler­dings nichts aus.

Die un­sicht­ba­re Hand

Die Vor­stel­lung, dass Pro­jek­te schei­tern kön­nen, ge­hört zum Ein­mal­eins des Pro­jek­tie­rens. Aber woran schei­tern Pro­jek­te?

  1. Pro­jek­te schei­tern, das weiß man, an klei­nen Din­gen: an Ver­rat, Pan­nen, tech­ni­schen und mensch­li­chen Un­zu­läng­lich­kei­ten.
  2. Pro­jek­te schei­tern, das weiß man, am ent­schie­de­nen Ein­satz derer, die ihren Er­folg zu ver­hin­dern trach­ten.
  3. Pro­jek­te schei­tern, auch das weiß man, an ihrer Ma­ß­lo­sig­keit: alles Mons­trö­se fällt ir­gend­wann in sich zu­sam­men.

Diese drei Ant­wor­ten ar­gu­men­tie­ren prag­ma­tisch: prag­ma­tisch-tech­nisch, prag­ma­tisch-po­li­tisch, prag­ma­tisch-ethisch. Kon­sta­tiert wird je­des­mal ein Über­ge­wicht des Rea­len ge­gen­über der fik­ti­ons­ge­trie­be­nen Rea­li­tät des Pro­jekts.

Eine vier­te Ant­wort könn­te lau­ten:

  1. Pro­jek­te schei­tern, weil ihr An­satz falsch ist.

Das ist die Stim­me der Kon­kur­renz.

Keine die­ser Stim­men ist im Pro­jekt selbst re­prä­sen­tiert. Sie sind aber mit­an­we­send: als Ein­spruch des nie­mals aus­zu­schlie­ßen­den Un­glau­bens an die ei­ge­ne Sache.

Die star­ke Mit­an­we­sen­heit der Idee des Schei­terns for­ciert ein Pro­jekt: soll hei­ßen, sie er­zeugt seine in­ne­re Ge­walt­sam­keit, die in der Pla­nung, der Aus­füh­rung, schlie­ß­lich in der par­ti­el­len oder to­ta­len Ver­schlie­ßung der Ak­teu­re gegen die ei­ge­ne ur­sprüng­li­che Mo­ti­va­ti­on oder die ›in­ne­re Stim­me‹ der Ver­nunft oder des Ge­wis­sens ihren Nie­der­schlag fin­det.

Die Wahr­schein­lich­keit, dass ein Pro­jekt auf Grund man­geln­der Er­folgs­aus­sich­ten auf­ge­ge­ben wird, sinkt mit dem Zu­wachs an in­ter­ner Ge­walt­sam­keit.

Par­al­lel dazu wächst die Frag­wür­dig­keit der ein­ge­setz­ten Mit­tel.

Par­al­lel dazu wächst die Be­reit­schaft der Be­tei­lig­ten, das Schick­sal ent­schei­den zu las­sen. Nur die un­sicht­ba­re Hand der Göt­ter darf das Spiel be­en­den. Das Pro­jekt wird zum Drama.

Das Ende selbst ist die my­thi­sche Größe, das Schick­sal, das jeder Auf­füh­rung in­ne­wohnt.

Die in­ne­re Gren­ze oder der Zwil­ling

Die Logik der Über­schrei­tung drängt zum Ex­zess. Der Ex­zess ist die Selbst­über­schrei­tung des Ent­wurfs, die kon­se­quen­te Nicht­an­er­ken­nung der Mög­lich­keit des Schei­terns oder der End­lich­keit des Ent­wurfs über jede rea­lis­ti­sche Hand­lungs­op­ti­on hin­aus.

Ich nenne das ›se­kun­dä­re Über­schrei­tung‹ (›Phase 2‹).

Diese Rede setzt vor­aus, dass in­ner­halb des Pro­jekts eine Gren­ze exis­tiert.

Das ›ur­sprüng­li­che‹ Pro­jekt kennt keine sol­che Gren­ze. Sie muss also durch die Auf­nah­me prin­zi­pi­ell kon­tin­gen­ter, aber po­ten­ti­ell pro­hi­bi­ti­ver Fak­to­ren erst hin­ein­kom­men. Sol­che Fak­to­ren er­schei­nen im ›ra­tio­na­len‹ Pro­jekt­sta­di­um (Phase 1) durch das Auf­tau­chen von ›Wi­der­sa­chern‹ und sich ent­wi­ckeln­de Geg­ner­schaf­ten, vor allem aber durch die ein­set­zen­de Re­zep­ti­on kon­kur­rie­ren­der Ent­wür­fe, die in der se­kun­dä­ren Über­schrei­tung zu feind­li­chen In­stan­zen wer­den. Das Pro­jekt, so ließe es sich in der Spra­che René Gi­rards for­mu­lie­ren, er­schafft sich einen feind­li­chen Zwil­ling, des­sen In­ten­ti­on dahin geht, die Rea­li­sie­rung des Pro­jekts zu ver­ei­teln, um sich selbst zu rea­li­sie­ren.

Es ist nicht nötig, dass der Zwil­ling in der rea­len Welt exis­tiert. Ent­schei­dend ist die Er­wei­te­rung der Pro­jekt­fik­ti­on: die Zahl der zu er­rei­chen­den Ziele er­höht sich um die Ma­ßga­be, einen aus ana­lo­gen Fi­gu­ren er­bau­ten Geg­ner nie­der­zu­rin­gen und aus­zu­schal­ten.

Das be­deu­tet: der Zwil­ling schiebt sich vor das zu er­rei­chen­de, wo­mög­lich in weite Ferne ge­rück­te Ziel und mo­di­fi­ziert die Aus­füh­rungs­pa­ra­me­ter.

Die se­kun­dä­re Über­schrei­tung ist ten­den­zi­ell eli­mi­na­to­risch.

Zwil­lings­fik­tio­nen

Zwil­lings­fik­tio­nen sind Fik­tio­nen, in denen die Mög­lich­keit des Schei­terns in­ten­tio­nal fi­xiert und damit äu­ßer­lich und in­ner­lich di­men­sio­niert wird. Eine be­kann­te Zwil­lings­fik­ti­on ist der Sün­den­bock, bei dem die ir­rea­le Zu­schrei­bung über­wiegt. Als Figur der All­tags­wahr­neh­mung ist er prak­tisch om­ni­prä­sent. Den­noch bleibt er eine Mög­lich­keit unter an­de­ren. An­thro­po­lo­gisch fun­dier­te bzw. eman­zi­pa­to­ri­sche Pro­jek­te sind nicht zwin­gend auf die Exis­tenz von Sün­den­bö­cken an­ge­wie­sen, wenn es darum geht, Sto­ckun­gen und Nie­der­la­gen zu er­klä­ren. Es ge­nügt die sym­me­tri­sche Ver­dopp­lung: die Er­zeu­gung und In­ten­si­vie­rung (vir­tu­el­ler) Feind­schaft mit­tels mehr oder min­der will­kür­li­cher Hy­po­the­sen und Pro­jek­tio­nen. Im Zwei­fel bleibt nicht al­lein un­ent­scheid­bar, wie weit ihnen ›reale‹ (er­wi­der­te) Feind­schaft ent­spricht, son­dern auch, ob die be­tref­fen­de Per­so­nen­grup­pe bzw. das be­tref­fen­de Pro­jekt über­haupt exis­tiert. So sind die unter Sta­lin oder Mao will­kür­lich (zum Teil in Er­fül­lung vor­ge­ge­be­ner Quo­ten bzw. Kenn­zah­len) aus der Masse her­aus­ge­grif­fe­nen Sys­tem­fein­de im stren­gen Sinn keine Sün­den­bö­cke, weil die Op­fer­aus­zeich­nung, an­ders als bei der Ver­fol­gung vor­gän­gig be­zeich­ne­ter Op­fer­grup­pen (Juden, ›Zi­geu­ner‹, Ho­mo­se­xu­el­le etc.), in actu vor­ge­nom­men wird.

In die­ser Art Feind­kul­tur spie­len ›Dos­siers‹, ›Pro­fi­le‹, ›Do­ku­men­ta­tio­nen‹, Re­ne­ga­ten­be­rich­te eine pro­mi­nen­te Rolle. Sie sol­len be­le­gen, was im Zwei­fels­fall nicht zu be­le­gen ist: dass die ›an­de­re Seite‹, weit davon ent­fernt, sich mit der Rolle des sach­be­zo­ge­nen Kon­kur­ren­ten oder Kri­ti­kers zu be­gnü­gen, in ge­hei­men Ma­chen­schaf­ten un­ter­wegs ist, die der Un­ter­mi­nie­rung des be­reits Er­reich­ten die­nen und um (fast) jeden Preis un­ter­bun­den wer­den müs­sen – was der Ar­gu­m­ent­la­ge nach ein aus­sichts­lo­ses Un­ter­fan­gen dar­stellt.

2. Ge­walt

Im Juni 2011 trat die Lei­te­rin eines Stock­hol­mer Kin­der­gar­tens, in dem nach Pres­se­be­rich­ten das ge­schlechts­spe­zi­fi­sche Per­so­nal­pro­no­men ab­ge­schafft ist und die Kin­der frei von Gen­der-Zu­ord­nun­gen auf­wach­sen sol­len, im Früh­stücks­fern­se­hen des schwe­di­schen Sen­ders TV4 auf. Sie er­klär­te dort, dass es nicht die Kin­der seien, die ver­än­dert wer­den müss­ten. Viel­mehr müss­ten die Er­zie­her an sich selbst ar­bei­ten, um nicht in altes Rol­len­den­ken zu ver­fal­len. Sie er­klär­te auch, dass sie kei­nes­falls das bio­lo­gi­sche, nur das so­zia­le Ge­schlecht än­dern wolle. Der Spie­gel be­rich­te­te: »Es nütz­te nichts. Die Pro­tes­te gin­gen wei­ter. Der Volvo brann­te. Die rechts­po­pu­lis­ti­sche Par­tei der Na­tio­nal­de­mo­kra­ten griff auf ihrer Web­site das Thema auf.« (Der Spie­gel vom 8. Au­gust 2011)

Gen­der

Brand­stif­tung an Pri­vat­fahr­zeu­gen wird als il­le­gi­ti­me, wenn­gleich ge­le­gent­lich ef­fek­ti­ve Form des po­li­ti­schen Pro­tes­tes wahr­ge­nom­men. Der Straf­bar­keit wegen bleibt die Tat meist ins Dun­kel der An­ony­mi­tät ge­hüllt. Im deut­schen Straf­recht etwa liegt die Straf­an­dro­hung bei Sach­be­schä­di­gung an frem­dem Ei­gen­tum gemäß § 303 StGB bei bis zu zwei Jah­ren Frei­heits­stra­fe (oder Geld­stra­fe). In Fäl­len, bei denen Autos an­ge­zün­det wer­den, liegt eine Brand­stif­tung nach § 306 StGB vor. Hier lau­tet die Straf­an­dro­hung auf Frei­heits­stra­fe von min­des­tens einem Jahr bis zu zehn Jah­ren. Die Straf­tat stellt ein Ver­bre­chen dar. Sicht­bar ist al­lein das Opfer: in der Regel eine Per­son des öf­fent­li­chen In­ter­es­ses, deren Auf­tre­ten die Öf­fent­lich­keit ›spal­tet‹ – star­ken po­si­ti­ven Re­ak­tio­nen ste­hen (min­des­tens) eben­so star­ke ne­ga­ti­ve ge­gen­über, die in ab­fäl­li­gen Kom­men­ta­ren, Be­schimp­fun­gen, Be­lei­di­gun­gen und Dro­hun­gen ma­ni­fest wer­den. Die Zu­ge­hö­rig­keit des Op­fers be­zie­hungs­wei­se sei­ner Ver­fol­ger zu einer po­li­ti­schen Min­der­heit ist ein häu­fig an­zu­tref­fen­des, aber nicht zwin­gen­des Merk­mal. In der Regel dis­tan­zie­ren sich die Ver­tre­ter des po­li­ti­schen oder welt­an­schau­li­chen Mi­lieus, in dem der oder die Täter ver­mu­tet wer­den, von der Tat. Dabei schwankt die Art der Dis­tan­zie­rung zwi­schen Ab­scheu vor der Tat und heim­li­cher oder laut­stark ver­tre­te­ner Zu­stim­mung zu den Mo­ti­ven.

Der oder die Täter wol­len dem Opfer scha­den. Es ge­nügt ihnen nicht, an­de­rer Mei­nung als ihr Opfer zu sein und diese laut­stark zu ver­tre­ten. Dabei steht in der Regel nicht der ma­te­ri­el­le Scha­den im Vor­der­grund. Ge­wollt ist die Ein­bu­ße an so­zia­lem bzw. sym­bo­li­schem Ka­pi­tal: das Opfer wird mar­kiert und man er­war­tet, dass seine pri­va­ten und öf­fent­li­chen Gön­ner sich ›vor­sich­tig‹ von ihm zu­rück­zie­hen. So­li­da­ri­tät mit Flü­gel­leu­ten des ideo­lo­gi­schen Ge­schäfts ist im All­tag rar. Das wis­sen die An­grei­fer. Die ge­sell­schaft­li­che ›Al­lein­stel­lung‹ des Op­fers ent­hält, als mehr oder min­der kon­kre­te Drein­ga­be, auch eine To­des­dro­hung. Das Fahr­zeug steht als pars pro toto für die Per­son. Es gilt die Logik des kri­mi­nel­len Un­ter­grunds: Dies­mal haben wir uns damit be­gnügt, dein Auto ab­zu­fa­ckeln. Das nächs­te Mal gehen wir wei­ter.

Iden­ti­tät

Das so­zia­le Ge­schlecht ge­hört, neben Her­kunft (Fa­mi­lie), Glau­bens­rich­tung (Re­li­gi­on), Kol­lek­tiv­zu­ge­hö­rig­keit (Na­ti­on), Schicht (Klas­se) und Beruf zu den stärks­ten Prä­gun­gen über­haupt. Wer sich hier an­ge­grif­fen fühlt, fühlt sich in der Regel als Per­son an­ge­grif­fen, ver­höhnt, ver­un­stal­tet. Ein ge­wis­ses Maß an Selbst­be­herr­schung, ge­sell­schaft­li­chem Wis­sen, Re­fle­xi­ons­be­reit­schaft oder er­prob­ter Lei­dens­fä­hig­keit ist nötig, einem sol­chen An­griff stand­zu­hal­ten, ohne sei­ner­seits Rol­len­kon­ven­tio­nen zu ver­let­zen.

Das gilt für ver­ba­le wie non­ver­ba­le Akte be­lei­di­gen­der, ver­höh­nen­der, ge­ne­rell her­ab­set­zen­der Art, die als se­xis­tisch, blas­phe­misch, xe­no­phob, ras­sis­tisch etc. von der Ge­sell­schaft ge­brand­markt und ge­ge­be­nen­falls ju­ris­tisch ver­folgt wer­den. Es gilt aber auch – und hier kom­pli­zie­ren sich die Ver­hält­nis­se –, wenn auf of­fe­ner ge­sell­schaft­li­cher Bühne fun­da­men­ta­le Wer­tent­schei­dun­gen de­bat­tiert und zur Dis­po­si­ti­on ge­stellt wer­den. Dabei ist Ra­tio­na­li­tät kein si­che­rer Ver­hin­de­rungs­grund für emo­tio­na­le Re­ak­tio­nen. Im Ge­gen­teil: sie kann Ab­wehr­re­fle­xe und -hand­lun­gen bei Men­schen her­vor­ru­fen, die sich ar­gu­men­ta­tiv un­ter­le­gen füh­len oder sich im Be­sitz ge­fühl­ter Grün­de wis­sen.

Al­ler­dings ge­hört es zum Cha­rak­ter öf­fent­li­cher De­bat­ten, dass sie nicht wirk­lich ra­tio­nal ge­führt wer­den. Jede Art von Po­le­mik spielt schlie­ß­lich den­je­ni­gen in die Hände, die oh­ne­hin nicht ge­willt sind, sich dem Rich­ter­spruch der Ver­nunft zu un­ter­wer­fen. Das gilt erst recht in Be­rei­chen, in denen Ein­stel­lun­gen aus gutem Grund kon­tro­vers sind und des­halb im Be­darfs­fall Ent­schei­dun­gen auf der Basis von Re­gu­la­ri­en und Mehr­hei­ten ge­fällt wer­den, die der Sache äu­ßer­lich blei­ben.

In einem sol­chen Kon­text lässt die Frage, wer sich als Per­son an­ge­grif­fen fühlt, sich zwar mit den üb­li­chen Hin­wei­sen auf ›man­geln­des Selbst­be­wusst­sein‹, ›ideo­lo­gi­sche Ver­blen­dung‹ oder die Zu­ge­hö­rig­keit zu be­stimm­ten po­li­ti­schen Rich­tun­gen abtun. Be­ant­wor­tet ist sie damit nicht. Es scheint sich um einen Be­reich zu han­deln, in dem keine ob­jek­ti­ven Kri­te­ri­en exis­tie­ren. Viel­leicht ist die Frage auch falsch ge­stellt. Wenn pri­mä­re Prä­gun­gen Au­to­ma­tis­men dar­stel­len, die vor jeder Re­fle­xi­on in Ak­ti­on tre­ten, dann ist das Mal­heur schon immer pas­siert. Im ein­ge­tre­te­nen Fall bleibt der be­tref­fen­den Per­son nichts wei­ter übrig, als den Scha­den zu be­gren­zen, indem sie ihre Be­trof­fen­heit ver­birgt, ka­na­li­siert, rhe­to­risch über­blen­det, viel­leicht auch ein­fach leug­net.

Das gilt für die ak­ti­ven Teil­neh­mer der Dis­kur­se. Eben­so gilt es für die­je­ni­gen, die sich pas­siv ver­hal­ten, in­ner­lich auf Dis­tanz gehen, Re­ser­ve gegen Per­so­nen und Grup­pen oder wei­ter­ge­hen­de Ab­wehr­hal­tun­gen auf­bau­en.

Wer ar­gu­men­tiert, will in der Regel auch sich selbst über­zeu­gen. Wer po­le­mi­schen Druck gegen an­de­re auf­baut, nährt den Ver­dacht, selbst unter Druck zu ste­hen.

Wer im ge­sell­schaft­li­chen Raum pri­mä­re Prä­gun­gen zur Dis­po­si­ti­on stellt, muss gegen star­ke ei­ge­ne Wi­der­stän­de an­ge­hen. Hier gibt es Wei­sen der stum­men Kor­re­spon­denz mit der an­de­ren Seite, man kann auch sagen: der dop­pel­ten Buch­füh­rung, die Geg­ner­schaft in der Sache leicht in per­sön­lich ge­färb­te Ab­nei­gung oder Hass mit dem Ri­si­ko un­kal­ku­lier­ter und un­kal­ku­lier­ba­rer Hand­lun­gen um­schla­gen lässt.

Der Aus­druck ›pri­mä­res Selbst­wert­ge­fühl‹ lei­det, wie der des Selbst­wert­ge­fühls über­haupt, unter einer ge­wis­sen Un­ge­nau­ig­keit. Da jedes Ge­fühl Ein­fluss auf den ›Selbst­wert‹ aus­übt, las­sen sich weder auf der Ge­fühls- noch auf der Rol­le­nebe­ne klare Gren­zen zwi­schen mar­gi­na­len, selbst­wert­re­le­van­ten und pri­mär selbst­wert­re­le­van­ten The­men zie­hen. In ge­wis­ser Weise be­stimmt die Per­son diese Gren­zen selbst, und zwar umso aus­ge­präg­ter, je aus­ge­präg­ter die Per­son in ihrem Han­deln und in ihrem Selbst­ver­ständ­nis er­scheint. Dar­aus folgt aber nicht, dass sie ver­schwin­den, nur weil die be­tref­fen­de Per­son es so will. Ge­nau­so­we­nig folgt dar­aus, dass ihre Un­schär­fe be­din­gungs­los zu­nimmt, je dif­fu­ser eine Per­son in ihrem All­tags­ver­hal­ten er­scheint.

Wahr­neh­mungs­mus­ter

Brand­stif­tung als klamm­heim­li­cher Aus­druck von Gen­der-Pro­test, eine er­pres­se­ri­sche Gei­sel­nah­me in einem Kin­der­gar­ten aus ent­täusch­ter Va­ter­schaft und ein ras­sis­tisch mo­ti­vier­tes Dop­pel-At­ten­tat mit 77 To­des­op­fern sind kri­mi­nel­le Hand­lun­gen un­ter­schied­lichs­ter Ge­walt­di­men­si­on, die ent­spre­chend un­ter­schied­li­che öf­fent­li­che Re­ak­tio­nen er­zeu­gen. Be­ach­tet man die Dif­fe­renz zwi­schen Ver­ste­hen und Bil­li­gen, so reicht die Skala von ›ir­gend­wie ver­ste­hen, aber nicht bil­li­gen‹ im Fall der Brand­stif­tung bis zu völ­li­gem Un­ver­ständ­nis, ge­paart mit Ab­scheu im Fall der An­schlä­ge von Oslo und Utøya. Ent­spre­chend un­ter­schied­lich zeigt sich die Wahr­neh­mung der Mo­ti­ve.

  1. Of­fen­bar er­leich­tert der glimpf­li­che Aus­gang der Gei­sel­nah­me die Wahr­neh­mung einer psy­chi­schen Not­si­tua­ti­on auf sei­ten des Tä­ters. Dem ent­spricht die von den Me­di­en ge­pfleg­te Vor­stel­lung, einem pri­va­ten ›Drama‹ bei­zu­woh­nen, in dem der Täter in sub­jek­tiv als aus­weg­los emp­fun­de­ner Lage ope­riert, also selbst Op­fer­sta­tus be­an­spru­chen kann. Bra­chia­le oder fein­sin­ni­ge ›po­li­ti­sche‹ Deu­tun­gen wer­den damit nicht aus­ge­schlos­sen.
  2. Un­ver­ständ­nis und Ab­scheu über­tra­gen sich un­mit­tel­bar auf die Mo­ti­ve des Mör­ders von Oslo und Utøya. So je­den­falls las­sen sich Teile der Be­richt­er­stat­tung über den Brei­vik-Pro­zess deu­ten. Hier rührt die fo­ren­si­sche Frage nach dem Geis­tes­zu­stand des Tä­ters of­fen­kun­dig an das Selbst­bild der be­trof­fe­nen Ge­sell­schaft. Der Täter han­delt als ›selbst­er­nann­ter‹ Re­prä­sen­tant einer Ge­gen-Ge­sell­schaft, sein Mord­an­schlag auf die po­li­ti­sche Nach­wuch­se­li­te eines Lan­des rich­tet sich gegen die herr­schen­den Re­prä­sen­ta­ti­ons­ver­hält­nis­se und den mit ihnen ver­knüpf­ten ge­sell­schaft­li­chen Kurs. Der per­sön­li­che Re­prä­sen­ta­ti­ons­an­spruch ist hier im Kern ma­ß­los: die Feind­schaft gilt dem Sys­tem als sol­chem und wird mit dem Ver­dacht be­ant­wor­tet, es mit einer pa­tho­lo­gi­schen Per­sön­lich­keit zu tun zu haben.
  3. Im Fall der Brand­stif­tung aus po­li­ti­scher Miss­bil­li­gung ent­hält die Hal­tung des ir­gend­wie Ver­ste­hens, aber nicht Bil­li­gens die An­nah­me, ein von öf­fent­li­chem Ap­plaus und an­d­mi­nis­tra­ti­vem Wohl­wol­len be­glei­te­tes päd­ago­gi­sches Ex­pe­ri­ment könne durch­aus unter Um­stän­den in der Be­völ­ke­rung kras­se und ›ex­zes­siv‹ wir­ken­de Re­ak­tio­nen her­vor­ru­fen. Die an­ony­me Tä­ter­schaft be­darf kei­ner be­son­de­ren per­sön­li­chen Ver­stri­ckung. Das päd­ago­gi­sche Ex­pe­ri­ment kon­fli­giert mit spon­tan­päd­ago­gi­schen Ein­stel­lun­gen und ver­mut­lich auch Ver­hal­tens­wei­sen, deren Nor­ma­ti­vi­tät für einen Teil der Be­völ­ke­rung außer Frage steht. Es han­delt sich also, ge­bil­ligt oder nicht, um eine Tat mit stell­ver­tre­ten­dem An­spruch, der auf der Ge­gen­sei­te ein auf die Ge­sell­schaft im Gan­zen be­zo­ge­ner Ver­än­de­rungs­wil­le ent­spricht.

Über­schrei­tung

Auch wenn man den von den Tä­tern in An­spruch ge­nom­me­nen oder ihnen un­ter­stell­ten Po­li­tik­be­griff mit einem Fra­ge­zei­chen ver­sieht, bleibt – und zwar in allen drei Fäl­len – ein po­li­ti­scher Hin­ter­grund. Es sind ge­sell­schafts­po­li­ti­sche The­men – und nicht nur ›Ge­ge­ben­hei­ten‹ –, vor deren Hin­ter­grund die Ge­walt­ta­ten ge­se­hen wer­den wol­len. In allen drei Fäl­len wer­den de­mons­tra­tiv recht­li­che und ethi­sche Gren­zen um der Durch­set­zung be­stimm­ter Ziele wil­len ver­letzt. Gleich­gül­tig darum, wel­che Be­deu­tung dem ei­ge­nen Vor­teil dabei zu­kommt, gilt die De­mons­tra­ti­on aus Tä­ter­sicht einem Gut, das die Ver­let­zung von Rechts­nor­men und selbst den An­schlag auf Leben und kör­per­li­che Un­ver­sehrt­heit Drit­ter – (ethisch?) – recht­fer­tigt. Je­den­falls lässt sich das an den Ver­laut­ba­run­gen der Täter mit un­ter­schied­li­cher Deut­lich­keit ab­le­sen. Die non­ver­ba­le Geste des Brand­an­schlags scheint dem Täter oder den Tä­tern selbst­er­klä­rend zu sein. Am un­ver­ständ­lichs­ten bleibt, für sich ge­nom­men, das Ge­sche­hen von Utøya: hier setzt der Täter ex­pli­zit dar­auf, den Ge­richts­saal zur Tri­bü­ne in ei­ge­ner Sache zu ver­wan­deln.

Die Ver­let­zung ist also eine Über­schrei­tung: die Re­la­ti­vie­rung der recht­lich-ethi­schen Gren­ze soll als Teil des Vor­ha­bens und damit als per se ge­wollt an­ge­se­hen wer­den. Das Ziel ist in allen Fäl­len die wil­lent­li­che und de­mons­tra­ti­ve Ver­let­zung eines kol­lek­ti­ven Hand­lungs­rah­mens sub spe­cie sub­jek­tiv als hö­her­wer­tig an­ge­se­he­ner Ziele.

Mus­ter

Er­kenn­bar han­delt es sich um ver­schie­de­ne Mus­ter von Über­schrei­tung:

  1. Über­schrei­tung recht­lich ge­setz­ter Hand­lungs­gren­zen,
  2. Über­schrei­tung des pri­va­ten Kom­pe­tenz­rah­mens in Rich­tung auf Hand­lun­gen mit re­prä­sen­ta­ti­vem An­spruch,
  3. Über­schrei­tung einer kol­lek­ti­ven Pra­xis als An­ti­zi­pa­ti­on einer künf­ti­gen,
  4. Über­schrei­tung als pseu­do­krie­ge­ri­sche Hand­lung in einem ima­gi­nier­ten Bür­ger­krieg,
  5. nicht zu ver­ges­sen die mo­ra­li­sche ›Über­tre­tung‹, die, da sie im sub­jek­ti­ven Be­wusst­sein ›rich­ti­gen‹ oder zu­min­dest ›ge­recht­fer­tig­ten‹ Han­delns ge­schieht, eben­falls zu den Über­schrei­tun­gen ge­zählt wer­den darf.

Gleich­zei­tig be­sit­zen alle Hand­lun­gen Ahn­dungs­cha­rak­ter: die Täter pro­kla­mie­ren den Ent­schluss, ein aus ihrer Sicht vor­lie­gen­des ›Un­recht‹ bzw. ›Übel‹ nicht län­ger zu dul­den, in dem sie ih­rer­seits eine Über­schrei­tung zu er­ken­nen glau­ben, und neh­men für sich das Recht in An­spruch, ge­walt­sam da­ge­gen vor­zu­ge­hen. Ge­ra­de darin folgt ihnen die Ge­sell­schaft nicht, wenn sie die Über­schrei­tung als Ex­zess brand­markt.

Auch hier gibt es Ab­stu­fun­gen: wenn für eine ein­deu­ti­ge Mehr­heit das, was der Gei­sel­neh­mer von Hjel­me­land an jenem für ihn und an­de­re ganz be­son­de­ren Tag treibt, ›nicht geht‹, dann er­weist sich diese Flos­kel wie­der­um als bei wei­tem zu schwach, um die Über­schrei­tung des Mas­sen­mör­ders Brei­vik zu cha­rak­te­ri­sie­ren, die die stärks­ten Ver­dam­mungs­for­meln auf sich zieht.

Hy­bris

Warum diese Ge­walt? Warum jetzt? Warum an die­ser Stel­le? Die Liste der aus ju­ris­ti­scher, psy­cho­lo­gi­scher, so­zio­lo­gi­scher Sicht auf­zu­wer­fen­den Fra­gen mag er­heb­lich län­ger aus­fal­len, doch diese drei um­rei­ßen ein be­stimm­tes theo­re­ti­sches In­ter­es­se.

Im Be­griff des Ex­zes­ses, so wurde ge­sagt, fal­len re­li­giö­se und sä­ku­la­re Deu­tung ne­ga­ti­ver Trans­gres­si­on zu­sam­men. Der ge­mein­sa­me Be­griff, über den dies ge­lingt, ist der des Bösen. Das Böse als der ab­so­lu­te Wi­der­sa­cher des Guten im Men­schen ist ei­ner­seits eine theo­lo­gi­sche Figur, an­de­rer­seits ein Pro­dukt jener se­kun­dä­ren Über­schrei­tung, die das ur­sprüng­lich ra­tio­na­le Pro­jekt ge­sell­schaft­li­cher Eman­zi­pa­ti­on in den Be­reich der Zwil­lings­fik­tio­nen hin­ein­treibt. Der At­ten­tä­ter als das per­so­ni­fi­zier­te Böse ist eine Fik­ti­on, die von ›der Ge­sell­schaft‹ und dem At­ten­tä­ter ge­teilt wird – mit dem klei­nen, aber ge­wich­ti­gen Un­ter­schied, dass letz­te­rer die Prä­di­ka­te ›gut‹ und ›böse‹ ver­tauscht, ohne je­doch ihre pri­mä­re Zu­ord­nung gänz­lich auf­zu­he­ben. Sein Han­deln (ver­mut­lich schon seine Exis­tenz) er­scheint ihm daher gut und böse, und zwar ohne jede Re­la­ti­vie­rung: vor Ge­richt ge­stellt wei­gert er sich, mil­dern­de Um­stän­de für seine Tat in Be­tracht kom­men zu las­sen, er for­dert für sich gleich­zei­tig die volle Härte des Ge­set­zes und – den Frei­spruch. Man denkt un­will­kür­lich an die Figur des schwar­zen Rit­ters bzw. Ret­ters aus dem Po­pu­lar­ki­no Hol­ly­woods, der die ge­sell­schaft­li­che Ver­ken­nung braucht, weil sie Teil sei­ner Iden­ti­tät ist. Dass die eher sym­pa­thisch ge­zeich­ne­te Bat­man-Fi­gur ih­rer­seits zum Aus­gangs­punkt rea­ler Ge­walt wer­den kann, ge­hört zu den un­fass­ba­ren Rea­li­tä­ten der dream so­cie­ty.

Durch die un­fass­ba­re Tat sieht sich die Ge­sell­schaft in ihrem Selbst­bild ver­letzt. Was be­deu­tet das? Ein Selbst­bild ist kein in­tak­ter Kör­per, dem durch äu­ße­re Ein­wir­kung Scha­den zu­ge­fügt wird. Im Ge­gen­teil: dem Selbst­bild muss das Ver­let­zen­de be­reits in­ne­woh­nen (z. B. im Modus der Aus­gren­zung bzw. ›Ver­drän­gung‹), um durch die akute Ver­let­zung, d.h. Ver­voll­stän­di­gung her­vor­ge­holt und kom­mu­ni­ziert wer­den zu kön­nen. Das im At­ten­tä­ter per­so­ni­fi­zier­te Böse ist der selbster­schaf­fe­ne Zwil­ling, des­sen ima­gi­nier­te Exis­tenz das Schei­tern des Pro­jekts ins Un­ab­seh­ba­re pro­lo­giert. Der reale At­ten­tä­ter geht auf diese Rolle ein, sie reizt ihn, aus wel­chen Grün­den auch immer, und er ist unter Um­stän­den sogar be­reit, die ›ver­ruch­ten‹ oder ›ver­schro­be­nen‹ In­si­gni­en, mit denen die kol­lek­ti­ve Phan­ta­sie den Zwil­ling aus­stat­tet, sich auch phy­sisch an­zu­eig­nen. Die po­pu­lä­re Maske des bi­zarr Bösen er­scheint ihm zwin­gend genug, um die an­de­ren er­ken­nen zu las­sen, wer er sei.

Drei Ant­wor­ten

  1. Nie­mand er­schrickt an­ge­sichts der blo­ßen Mög­lich­keit eines Ex­zes­ses – es sei denn im Sinn eines Er­schre­ckens über die Welt, in der sol­che Dinge mög­lich sind. Der Ex­zess gilt als das Un­vor­her­seh­ba­re schlecht­hin, es scheint aus­sichts­los zu sein, ihn an­ti­zi­pie­ren zu wol­len, etwa zu Ver­hin­de­rungs­zwe­cken. Das Er­schre­cken über den Ex­zess ist daher ein Er­schre­cken über den Zu­stand der Ge­sell­schaft, der sich in ihm be­kun­det. Die­ses Er­schre­cken kann im Ein­zel­fall hilf­los sein, weil zwi­schen der Tat und dem ge­sell­schaft­li­chen All­tag keine Ver­bin­dung zu exis­tie­ren scheint. Umso selt­sa­mer muss es er­schei­nen, dass die Iko­no­gra­phie des Bösen be­reits fer­tig vor­liegt, wenn erst das ver­dam­mens­wür­di­ge Ge­sche­hen sei­nen Lauf nimmt. Ein Ex­zess, der aus Zwil­lings­fik­tio­nen her­vor­geht, lässt sich als Pa­ra­bel über die Gren­zen der To­le­ranz in einer trans­gre­die­ren­den Pra­xis lesen, das heißt über die in­ne­re Gren­ze, jen­seits derer die Ra­tio­na­li­tät der kol­lek­ti­ven Pro­zes­se er­kenn­ba­re Ein­bu­ßen er­lei­det.
  2. Das To­le­ra­ble einer trans­gre­die­ren­den Pra­xis un­ter­schei­det sich von der in einer Ge­sell­schaft herr­schen­den To­le­ranz nach Ma­ßga­be der Dif­fe­renz des Sa­kra­len und des Pro­fa­nen. To­le­ra­bel ist, was den Be­stand des Hei­li­gen un­an­ge­tas­tet lässt. Das kann im Ernst­fall mit der im zi­vi­len Zu­sam­men­le­ben ge­bo­te­nen To­le­ranz kon­fli­gie­ren. Das In­di­vi­du­um ist der Schau­platz die­ses Kon­flikts. Man kann auch sagen: es wird durch ihn kon­sti­tu­iert. Wer das Selbst als Waffe ein­setzt, setzt eine Gren­ze des To­le­ra­blen und er setzt sie ab­so­lut. Eine Ge­sell­schaft, die auf die­sen sa­kra­li­sie­ren­den Akt mit ›zi­vi­len‹ Mit­teln (z.B. denen des Rechts­staats) ant­wor­tet, lässt die durch ihn auf­ge­wor­fe­ne Kern­fra­ge un­be­ant­wor­tet – sie hält sich in­ner­halb der Gren­zen der Pro­fa­ni­tät und ent­rich­tet damit den Preis der Frei­heit. Eine Ge­sell­schaft, die auf ihn mit einem eli­mi­na­to­ri­schen Pro­gramm ant­wor­tet, be­fin­det sich im Aus­nah­me­zu­stand: sie führt einen ›hei­li­gen Krieg‹. Auch sie be­zahlt für ihren Ein­satz, indem sie, zu­min­dest in Tei­len, die Frei­heit preis­gibt.
  3. In Wis­sen­schaft als Beruf (1922) spricht Max Weber vom ›Kampf der Göt­ter‹, den keine Wis­sen­schaft schlich­ten könne. Der un­auf­heb­ba­re Plu­ra­lis­mus der Wert­hal­tun­gen er­zeu­ge Geg­ner­schaf­ten, die not­wen­di­ger­wei­se aus­ge­tra­gen und ge­lebt wer­den müss­ten. In die­sen not­wen­di­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen wird der Feind pri­mär als Trä­ger von Wert­hal­tun­gen wahr­ge­nom­men. An­ders steht es um den Zwil­ling, der als ver­hin­dern­de In­stanz ins Spiel kommt und des­sen Ziel daher au­to­ma­tisch ›wert­los‹ ist. Der Zwil­ling, so lässt sich kon­sta­tie­ren, ist der durch­ge­stri­che­ne Feind: der Feind, dem die An­er­ken­nung als Feind ver­sagt wird. Ab­le­sen lässt sich dies etwa an der öf­fent­li­chen Figur des ›Ter­ro­ris­ten‹.
    Der Ter­ro­rist ist der Zwil­ling, des­sen Exis­tenz prin­zi­pi­ell den Ein­satz jedes Mit­tels er­laubt.
    Der Ter­ro­rist ist eine Figur der ex­zes­si­ven Ent­hem­mung.

Kul­tu­rel­ler Tau­mel

Sechs The­sen:

  1. Eman­zi­pa­ti­ons­kul­tu­ren sind Pro­jekt­kul­tu­ren.
  2. Eman­zi­pa­ti­on setzt über­all einen Rich­tungs­sinn vor­aus.
  3. Die Plu­ra­li­tät eman­zi­pa­to­ri­scher Pro­jek­te ne­giert den Rich­tungs­sinn von Kul­tur. Sie macht sie ten­den­zi­ell sinn-los.
  4. Die ein­fa­che Kon­kur­renz der Pro­jek­te schafft Sinn durch Ver­ähn­li­chung.
  5. Die Zwil­lings­kon­kur­renz der Pro­jek­te schafft Sinn durch Ohn­macht. Der Geg­ner stellt die ei­ge­nen An­stren­gun­gen auf Dauer und ver­hin­dert ihren Er­folg.
  6. Die ohn­mäch­ti­ge Seite träumt von der Eli­mi­na­ti­on des Zwil­lings. Die (all)mäch­ti­ge Seite weiß um die Nütz­lich­keit des Zwil­lings und ist be­strebt, ihn in engen Gren­zen zu er­hal­ten.

Die in­ne­re Un­er­reich­bar­keit der Be­schrei­bung

1912 reis­te der im Ers­ten Welt­krieg ge­fal­le­ne fran­zö­si­sche So­zio­lo­ge Ro­bert Hertz in die Alpen, um eth­no­lo­gi­sche Feld­stu­di­en zu be­trei­ben. Car­los Mar­ro­quin er­in­nert daran in sei­nem Auf­satz My­thos ver­sus Fik­ti­on:

»Er re­gis­triert in der er­forsch­ten Re­gi­on eine zwei­fa­che Tra­di­ti­on: Eine dop­pel­te Le­gen­de, die ge­lehr­te und die volks­tüm­li­che Ver­si­on von Saint-Bes­se; zwei Sym­bo­le, das Kreuz und den Fel­sen und zwei un­ter­schied­li­che Sys­te­me, den Ka­tho­li­zis­mus und den Kult des hei­li­gen Fel­sen. Nach der ka­tho­li­schen Ver­si­on der Le­gen­de war Saint-Bes­se ein Frem­der, der mit dem Ziel in die Berg­re­gi­on kam, die dort le­ben­den Bau­ern und Hir­ten zu chris­tia­ni­sie­ren. Nach der volks­tüm­li­chen Le­gen­de war Saint-Bes­se ein Ein­hei­mi­scher, der ent­we­der von frem­den Sol­da­ten oder von an­de­ren nei­di­schen Hir­ten um­ge­bracht wurde, und zwar dort, wo der Fel­sen sich er­hebt. Die erste Le­gen­de er­in­nert die Men­schen an den Ur­sprung ihres Glau­bens, die zwei­te an ihre ver­trau­te Welt und an die Zei­chen einer ge­mein­sa­men Tra­di­ti­on.« (Mar­ro­quin 2011)
 

Die am Bei­spiel Saint-Bes­se ent­deck­te Dop­pel­ko­die­rung eines re­gio­na­len Brauch­tums ver­all­ge­mei­ner­te Hertz, so­weit ihm dafür Zeit blieb, zu einer Theo­rie kul­tu­rel­ler Ge­ge­ben­hei­ten – mit eher un­aus­ge­lo­te­ten Fol­gen für die Theo­rie von Kul­tu­ren, die aus dem My­thos der Eman­zi­pa­ti­on weit­ge­hen­de Ver­än­de­rungs­rech­te ge­gen­über je­weils ak­tu­el­len men­ta­len Be­sitz­stän­den ab­lei­ten. Eine die­ser Kon­se­quen­zen könn­te darin be­ste­hen, den in den Zwil­lings­fik­tio­nen zu­ta­ge lie­gen­den As­pekt ge­sell­schaft­li­cher Des­in­te­gra­ti­on als Mo­ment pro­jekt- und my­then­ori­en­tier­ter Mo­del­le ge­sell­schaft­li­cher Pra­xis prä­zi­ser zu be­stim­men, als die pro­fa­ne Les­art von Ge­sell­schaft dies er­laubt. In let­ze­rer ist die Aus­gren­zungs­ar­beit immer schon ge­leis­tet, die als Hy­po­thek der Igno­ranz auf der an­de­ren Seite las­tet. So­lan­ge die Ana­ly­se »die Exis­tenz jener ne­ga­ti­ven Fak­to­ren, die die Ge­brech­lich­keit der so­zia­len Ko­hä­si­on, der Iden­ti­tät und der So­li­da­ri­tät of­fen­ba­ren« als dem Ent­wurf äu­ßer­lich, als Wi­der­stän­dig­keit einer durch ge­schick­te An­pas­sung aus­zu­steu­ern­den ›Um­welt‹ vor­aus­setzt, ent­geht ihr wo­mög­lich die zen­tra­le Ein­sicht, »dass die wahre Natur des so­zia­len Ban­des nicht zu be­grei­fen ist, ohne zuvor eine ge­naue Kennt­nis des­sen zu er­lan­gen, was ge­schieht, wenn die­ses Band zer­rei­ßt«.

 

Die Enden der Pa­ra­bel lau­tet der deut­sche Titel des Ro­mans Gra­vi­ty’s Rain­bow von Tho­mas Pyn­chon (1973, dt. 1981).

 

Li­te­ra­tur

CAR­LOS MAR­RO­QUIN, My­thos ver­sus Fik­ti­on, in: → Iablis 2011