Immo Sennewald: Abend

Viel­leicht könn­te man sagen: Willy Brandt ist Ende 1966 ge­ra­de noch recht­zei­tig aus Ber­lin weg­ge­kom­men und Au­ßen­mi­nis­ter ge­wor­den. Die dra­ma­ti­schen Er­eig­nis­se seit dem 2. Juni 1967, die Er­schie­ßung Benno Oh­ne­s­orgs und der Mord­an­schlag auf Rudi Dutsch­ke am 11. April 1968, gin­gen nicht mehr auf sein po­li­ti­sches Konto als ver­ant­wort­li­cher Re­gie­ren­der Bür­ger­meis­ter. Sonst wäre es schwer vor­stell­bar, dass sich sein öf­fent­li­ches Image vom »rech­ten« So­zi­al­de­mo­kra­ten so rei­bungs­los zu dem eines För­de­rers der kri­ti­schen Ju­gend wan­deln konn­te.

Ten­den­zi­ell Ab­gren­zung und Ab­wehr: So lässt sich Willy Brandts Hal­tung zur Ju­gend­ra­di­ka­li­sie­rung bis 1966/67 be­schrei­ben. In spä­te­ren Jah­ren öff­ne­te er sich, äu­ßer­te sich am­bi­va­lent, mit einer op­ti­mis­ti­sche­ren Note. Bei den Wir­kun­gen, die er von den Pro­test­be­we­gun­gen für die So­zi­al­de­mo­kra­tie er­war­te­te, fiel die Note al­ler­dings auch in spä­te­ren Jah­ren manch­mal we­ni­ger op­ti­mis­tisch aus. Das, was er an­er­kann­te, und das, was er un­be­dingt ab­lehn­te, blieb sich im We­sent­li­chen gleich. Aber die Ak­zen­te ver­scho­ben sich zum Teil er­heb­lich übers Jahr 1968. Im Ja­nu­ar 1969, auf einem ju­gend­po­li­ti­schen Kon­gress der SPD, sprach Brandt schon von »einem im gan­zen po­si­ti­ven Pro­zess«. Das »Auf­be­geh­ren der Ju­gend« habe be­reits viel be­wirkt, »vor allem den Abbau ob­rig­keits­staat­li­chen Den­kens«. Neben der »Be­reit­schaft zur Vor­aus­schau« sei der »Wille zur Re­form« in der Ge­sell­schaft stär­ker ge­wor­den. Ich muss­te oft daran den­ken, wie Willy Brandt zeit­le­bens über seine ei­ge­ne links­so­zia­lis­ti­sche Ver­gan­gen­heit sprach und schrieb: Er hat sie nie als »Ju­gend­sün­de« oder Unfug ab­ge­tan, son­dern als ein aus den ob­jek­ti­ven und sub­jek­ti­ven Um­stän­den er­klär­ba­res Sta­di­um po­li­ti­scher Ent­wick­lung ver­stan­den. Trotz der ganz an­de­ren his­to­ri­schen Kon­stel­la­ti­on er­in­ner­te ihn das Ge­sche­hen der Jahre vor und um 1968 durch­aus in merk­wür­di­ger Weise an seine ei­ge­ne Ju­gend.

Nun war mein Vater auf­grund sei­ner ei­ge­nen Ge­schich­te of­fen­bar der Mei­nung – oder viel­leicht ten­dier­te er auch un­be­wusst dazu –, dass ein jun­ger Mensch von fünf­zehn oder sech­zehn, al­le­mal von acht­zehn oder neun­zehn Jah­ren im We­sent­li­chen seine Ori­en­tie­rung selbst fin­den solle und, vor allem, seine Er­fah­run­gen sel­ber ma­chen müsse. Seine viel ge­schol­te­ne und viel ge­rühm­te To­le­ranz war bis zu einem ge­wis­sen Grad ein Ver­zicht, sich ein­zu­mi­schen und stän­dig Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu füh­ren. Auch im Pri­va­ten und in der Fa­mi­lie.

Sei­nen äl­tes­ten Sohn kann­te er gut genug, um zu wis­sen, dass er mich mit Dro­hun­gen und Re­pres­si­on viel­leicht ober­fläch­lich dis­zi­pli­nie­ren könn­te, so­lan­ge ich zur Schu­le ging – da war ich ra­tio­nal genug. Aber gleich da­nach wäre er mich los ge­we­sen. Ohne el­ter­li­che Geld­zu­wen­dun­gen hätte das Stu­di­um dann eben etwas län­ger ge­dau­ert. So war ich be­strebt, die fi­nan­zi­el­le Ab­hän­gig­keit, die mir un­an­ge­nehm war, durch einen zü­gi­gen Stu­di­en­ab­schluss nicht län­ger als nötig aus­zu­deh­nen und das Job­ben in der vor­le­sungs­frei­en Zeit auf ge­le­gent­li­che Zu­ver­diens­te für die eine oder an­de­re Fe­ri­en­rei­se zu be­schrän­ken. Was mein Vater mir mo­nat­lich über­wies, war in der Summe nicht fürst­lich, aber mehr als aus­rei­chend. Durch das ge­mein­sa­me Leben mit mei­ner Freun­din, die deut­lich we­ni­ger er­hielt, ergab sich für uns beide unter dem Strich so etwas wie der nor­ma­le stu­den­ti­sche Le­bens­stan­dard.

Mein po­li­ti­sches En­ga­ge­ment war für den Vater aus drei Grün­den recht er­träg­lich: Ers­tens hegte Brandt Ju­ni­or kei­ner­lei Sym­pa­thi­en für den So­wjet­kom­mu­nis­mus und die SED – im Ge­gen­teil. Auch der Mar­xis­mus-Le­ni­nis­mus chi­ne­si­scher Ob­ser­vanz, wie er die meis­ten »K-Grup­pen« be­seel­te, die 1968/69 ent­stan­den, war nicht mein Ding. Den­noch wurde ver­brei­tet, Peter Brandt oder gar beide Brandt-Söh­ne wür­den in Mos­kau – wahl­wei­se auch mal Pe­king – stu­die­ren. Die­ses ku­rio­se Ge­rücht hielt sich lange. Noch zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts bin ich dar­auf an­ge­spro­chen wor­den, wie es denn zu die­ser Zeit in Mos­kau so ge­we­sen sei. Zwei­tens gab es auf mei­ner Seite keine Nei­gung zu ge­walt­tä­ti­gen Ak­tio­nen, die klei­ne Grup­pen stell­ver­tre­tend für die brei­ten Mas­sen durch­führ­ten. Schon die ers­ten An­zei­chen ter­ro­ris­ti­scher Ge­walt – im Sinne be­waff­ne­ter An­schlä­ge – stie­ßen bei mir auf schärfs­te Kri­tik. Drit­tens wirk­te es für mei­nen Vater pa­ra­do­xer­wei­se eher ent­las­tend, dass ich seit 1968 in klei­nen Zir­keln und Ka­der­or­ga­ni­sa­tio­nen tätig war und nicht in­ner­halb der SPD, der Jusos oder der Fal­ken. Denn dort wäre jeg­li­che Kon­fron­ta­ti­on viel di­rek­ter aus­ge­tra­gen und schnel­ler öf­fent­lich ge­wor­den, so wie bei Peter Kreis­ky und sei­nem Vater, dem ös­ter­rei­chi­schen SPÖ-Bun­des­kanz­ler Bruno Kreis­ky.

Meine Po­li­ti­sie­rung nach links be­gann schon als Vier­zehn­jäh­ri­ger. An­fang 1963 trat ich den Fal­ken bei. In­ner­halb der Ber­li­ner So­zi­al­de­mo­kra­tie, die voll­kom­men auf die Kon­fron­ta­ti­on mit dem SED-Staat fi­xiert war, stan­den die Fal­ken, die da­mals noch über­wie­gend eine Or­ga­ni­sa­ti­on der ar­bei­ten­den Ju­gend waren, auf dem lin­ken Flü­gel. In­ner­halb des Ver­ban­des gab es eine kon­spi­ra­ti­ve trotz­kis­ti­sche Grup­pie­rung, die der klei­nen Vier­ten In­ter­na­tio­na­le an­ge­schlos­sen war. Ich sym­pa­thi­sier­te mit ihr und wurde Ende 1966 schlie­ß­lich »re­kru­tiert« (so hieß das da­mals im mi­li­tä­ri­schen Jar­gon).

Aus den trotz­kis­tisch be­ein­fluss­ten Kreis­ver­bän­den der Fal­ken und einer Schü­ler-, Lehr­lings- und Stu­den­ten­grup­pe, die sich um die Zeit­schrift »Neuer Roter Turm« bil­de­te, ent­stand unter mei­ner Mit­wir­kung im Herbst 1968 die Or­ga­ni­sa­ti­on »Spar­ta­cus« (nicht zu ver­wech­seln mit der DKP-Stu­den­ten­or­ga­ni­sa­ti­on »MSB Spar­ta­kus«). Sie sah sich als In­itia­ti­ve für eine brei­te­re re­vo­lu­tio­när-so­zia­lis­ti­sche Ju­gend­or­ga­ni­sa­ti­on. Hin­sicht­lich Or­ga­ni­sa­ti­ons- und Po­li­tik­vor­stel­lun­gen war der »Spar­ta­cus«, der sich 1970 bun­des­weit aus­dehn­te, aber nie mehr als we­ni­ge hun­dert Mit­glie­der zähl­te und schon 1971 von der ers­ten Spal­tung heim­ge­sucht wurde, eher links-tra­di­tio­na­lis­tisch als an­ti­au­to­ri­tär, dabei al­ler­dings Mos­kau- und Pe­king-kri­tisch. Ich selbst schied 1973 wie­der aus und ver­stand mich von da an als un­ab­hän­gi­ger So­zia­list, ge­hör­te dem So­zia­lis­ti­schen Büro, spä­ter ei­ni­ge Jahre der Ber­li­ner Al­ter­na­ti­ven Liste an. Erst 1994 trat ich wie­der der SPD bei – frei nach dem Motto Paul Levis, der 1921 aus der KPD aus­ge­schlos­sen wor­den war: Mein Be­darf an Spal­tun­gen ist ge­deckt.

Es liegt auf der Hand, dass das Ver­hält­nis zur DDR für junge Linke in West-Ber­lin von zen­tra­ler Be­deu­tung war. Die DDR war ja nicht ir­gend­ein so­wjet­kom­mu­nis­tisch ge­führ­ter Staat, son­dern ein Re­gime di­rekt vor der Haus­tür, das die ei­ge­nen Idea­le per­ma­nent be­lei­dig­te und dis­kre­di­tier­te. »Geht doch rüber«, war eine be­lieb­te Re­ak­ti­on auf die Kri­tik an Zu­stän­den oder Vor­gän­gen west­lich der Mauer. Mit hef­ti­ger öf­fent­li­cher Kri­tik an west­li­chen Re­gie­run­gen, so am Al­ge­ri­en­krieg der Fran­zo­sen oder an der mör­de­ri­schen Kriegs­füh­rung der Ame­ri­ka­ner in Viet­nam, mach­ten sich schon die Fal­ken unter den staats­tra­gen­den Par­tei­en West­Ber­lins wenig Freun­de. Für meine Ent­wick­lung hat­ten der Pro­test und die So­li­da­ri­sie­rung mit dem kom­mu­nis­tisch ge­führ­ten Un­ab­hän­gig­keits­kampf der Viet­na­me­sen eine kaum zu über­schät­zen­de Be­deu­tung.

Die tie­fen­psy­cho­lo­gi­sche Di­men­si­on mei­nes po­li­ti­schen En­ga­ge­ments, für das die Stu­den­ten­be­we­gung eher ein Ver­stär­ker war als ein Aus­lö­ser, kann ich selbst nicht wirk­lich er­mes­sen. Wer kann das schon für seine ei­ge­ne Per­son? Mir scheint aber, dass For­meln wie »Pro­test gegen den Vater« meine Hal­tung nicht tref­fen. Na­tür­lich hatte ich wie jeder er­wach­sen wer­den­de Jüng­ling das Pro­blem, unter dem Ge­wicht einer Va­ter­ge­stalt – in die­sem Fall einer über­ra­gen­den, gleich­zei­tig meist ab­we­sen­den oder nicht leicht zu­gäng­li­chen – eine ei­ge­ne Iden­ti­tät ent­wi­ckeln zu müs­sen. So­weit ich mir des­sen be­wusst war und bin, gab es neben den ideo­lo­gi­schen Dif­fe­ren­zen ein per­sön­lich re­la­tiv gutes Ver­hält­nis. Ich emp­fand auch die be­rufs­be­ding­ten Krän­kun­gen und Er­fol­ge des Va­ters stark mit. Im Som­mer 1968  – ich hatte ge­ra­de mein ers­tes Se­mes­ter an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin hin­ter mir – schrieb ich ihm einen Brief. Darin bat ich ihn um Ver­ständ­nis dafür, dass ich mei­nen po­li­ti­schen Über­zeu­gun­gen folg­te – ich sprach von »Pflicht« – und sagte, ich hoff­te, dass es nie zum per­sön­li­chen Bruch kom­men müsse und es mir mög­lich sein werde, in Zu­kunft zu ver­mei­den, was ihm di­rekt scha­den könn­te.

Eine mei­ner ers­ten po­li­ti­schen Ein­mi­schun­gen, die öf­fent­lich wurde, war die Un­ter­schrift unter einen Auf­ruf, der sich gegen die Bom­ben­an­grif­fe der USA auf Nord­viet­nam und die mi­li­tä­ri­sche In­ter­ven­ti­on mit Bo­den­trup­pen in Süd­viet­nam wand­te, im Som­mer 1965. Ich un­ter­schrieb be­den­ken­los. Ich hatte mich sach­kun­dig ge­macht und zudem die Namen der ASTA-Vor­sit­zen­den der Frei­en Uni­ver­si­tät, Wolf­gang Lefèvre und Peter Da­me­row, auf der Liste der Un­ter­stüt­zer ent­deckt. Beide ge­hör­ten zum So­zia­lis­ti­schen Deut­schen Stu­den­ten­bund (SDS). Es hätte mich schon stut­zig ma­chen kön­nen, dass die in­iti­ie­ren­de Or­ga­ni­sa­ti­on »Stän­di­ger Ar­beits­aus­schuss für Frie­den, na­tio­na­le und in­ter­na­tio­na­le Ver­stän­di­gung« hieß, das klang nach dem da­ma­li­gen Jar­gon der SED. Al­ler­dings wuss­te ich nicht, dass Lefèvre und Da­me­row be­wusst un­ter­schrie­ben hat­ten, um im Zuge des Viet­nam-Pro­tests auch den An­ti­kom­mu­nis­mus zu­rück­zu­drän­gen. Ich wie­der­um hielt es für ver­kehrt, bei­des auch nur in­di­rekt zu ver­bin­den: Das taten an­sons­ten vor allem die Apo­lo­ge­ten des ame­ri­ka­ni­schen Krie­ges, um den Pro­test zu dis­kre­di­tie­ren.

Meine Un­ter­schrift hatte ich schon fast ver­ges­sen, da wurde sie ein paar Wo­chen vor der Bun­des­tags­wahl be­kannt und hatte einen zor­ni­gen vä­ter­li­chen Anruf vom Au­to­te­le­fon aus der Wahl­kampf­ko­lon­ne zur Folge. Mein Vater warf mir in sel­ten ein­deu­ti­gen Wor­ten vor, ihm in den Rü­cken ge­fal­len zu sein. Spä­ter hatte ich Egon Bahr am Ap­pa­rat. Er sprach von einem »Sturm im Was­ser­glas«, bat mich aber, wenn ich mich recht er­in­ne­re, die Un­ter­schrift zu­rück­zu­zie­hen. Ich sagte zu, dar­über nach­zu­den­ken, un­ter­strich je­doch, dass ich mit dem In­halt des Auf­rufs völ­lig ein­ver­stan­den wäre. In einem knap­pen, aber fein aus­ta­rier­ten Brief an den »Ar­beits­aus­schuss« ver­band ich die Rück­nah­me der Un­ter­schrift mit der aus­drück­li­chen Be­kräf­ti­gung der in dem US­kri­ti­schen Auf­ruf ge­nann­ten For­de­run­gen. Und ich nahm mir vor, nie mehr in eine solch de­mü­ti­gen­de Si­tua­ti­on zu kom­men. Lie­ber ver­ba­le Prü­gel ein­ste­cken, als noch ein­mal eine öf­fent­lich ge­mach­te Äu­ße­rung wi­der­ru­fen zu müs­sen.

Ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter nahm ich an einer der ers­ten nicht ge­neh­mig­ten Viet­nam-De­mons­tra­tio­nen teil. Öf­fent­lich be­kannt wurde meine Teil­nah­me mei­ner Er­in­ne­rung nach nicht. Mein Vater muss aber auf an­de­rem Wege davon er­fah­ren haben. Eines Abends droh­te er zu Hause mit Rück­tritt. Wenn ich mit mei­nen Ak­ti­vi­tä­ten fort­füh­re, könne er sein Amt nicht mehr aus­üben. Ganz ernst war das wohl nicht ge­meint, son­dern eher seine Art, Unmut zu äu­ßern. Na­tür­lich waren meine ab­wei­chen­den Po­si­tio­nen für ihn läs­tig, wenn sie öf­fent­lich ruch­bar wur­den. Ich war erst sieb­zehn. Nie­mals kam mein Vater mehr auf sei­nen ver­ba­len Aus­fall an die­sem Abend zu spre­chen. Dabei wäre es gar nicht aus­sichts­los ge­we­sen, mich um Zu­rück­hal­tung unter be­stimm­ten Um­stän­den oder für die Zeit mei­ner schu­li­schen Aus­bil­dung zu bit­ten; je­den­falls so­lan­ge es nicht dar­auf hin­aus­ge­lau­fen wäre, mein po­li­ti­sches En­ga­ge­ment ein­fach zu un­ter­bin­den. Mit­strei­ter von da­mals be­rich­ten, sie hät­ten mich stets mit Ach­tung über mei­nen Vater spre­chen hören. Von au­ßer­halb der Fa­mi­lie hat er sich Rat­schlä­ge, wie er mit sei­nem Sohn um­ge­hen soll­te, stets ver­be­ten. Vor allem auf dem Hö­he­punkt der au­ßer­par­la­men­ta­ri­schen Pro­test­be­we­gung im Früh­jahr 1968 wurde ihm im Par­tei­vor­stand na­he­ge­legt, mich an die Kan­da­re zu neh­men oder außer Lan­des zu schaf­fen. Von sol­chen An­mu­tun­gen er­fuhr ich da­mals er­freu­li­cher­wei­se nichts.

Ge­le­gen­hei­ten, Schwie­rig­kei­ten zu ma­chen, gab es genug. Horst Mah­ler, einer der da­mals füh­ren­den APO-Leu­te, mein­te zum Bei­spiel wäh­rend der Os­ter­un­ru­hen 1968, ich solle öf­fent­lich den Rück­tritt mei­nes Va­ters for­dern. Ich frag­te mich, ob die­ser aber­wit­zi­ge Vor­schlag sein Ernst war. Ein an­de­res Mal traf ich den Re­por­ter der bri­ti­schen Bou­le­vard­zei­tung »Sun«, die ich da­mals mit einer links­ge­rich­te­ten Zei­tung ähn­li­chen Na­mens ver­wech­sel­te, sonst hätte ich den Herrn nie emp­fan­gen. Er be­glei­te­te mich im Bus auf dem Weg zur Uni, sprach mit mir und dich­te­te sich am Ende zu­recht: Ich hätte den Sturz des Sys­tems und die Be­sei­ti­gung der gan­zen Füh­rungs­schicht »ein­schlie­ß­lich mei­nes Va­ters« pro­pa­giert. Das war Quatsch. In der Tat hatte ich di­ver­se ra­di­ka­le Pa­ro­len von mir ge­ge­ben. Aber den gie­rig ge­wünsch­ten fa­mi­liä­ren Bezug hatte ich be­wusst nicht her­ge­stellt. Des­halb lag die hä­mi­sche Sot­ti­se des »Spie­gel«, Fi­li­us Brandt hätte von den Be­rufs­po­li­ti­kern ge­lernt und flugs de­men­tiert, da­ne­ben: Ich hatte das »In­ter­view« der »Sun« in der Grund­ten­denz be­stä­tigt, zu­gleich aber wahr­heits­ge­mäß dar­auf be­harrt, keine Äu­ße­run­gen gegen die Per­son mei­nes Va­ters ge­macht zu haben.

Das war mir eine lehr­rei­che Er­fah­rung. Das Letz­te, was ich woll­te, war, als Pro­fil­neu­ro­ti­ker oder Skan­dal­nu­del wahr­ge­nom­men zu wer­den. Von denen gab es in der APO ja auch wel­che. Nur noch in Aus­nah­me­fäl­len äu­ßer­te ich mich öf­fent­lich. Ich wurde ziem­lich vor­sich­tig und ver­mied nach Mög­lich­keit, fo­to­gra­fiert zu wer­den.

Zu­nächst muss­te ich unter den Augen der me­dia­len Öf­fent­lich­keit noch zwei Ge­richts­ter­mi­ne hin­ter mich brin­gen. Der Vor­wurf lau­te­te: Zu­sam­men­rot­tung einer Menge trotz drei­ma­li­ger Auf­for­de­rung der Po­li­zei, sich zu zer­streu­en, in zwei Fäl­len. Die­ses De­likt des »Auf­laufs« gibt es heute nicht mehr. Ins­be­son­de­re ging es um den Os­ter­sams­tag 1968, als ich zu­sam­men mit zwei­hun­dert wei­te­ren De­mons­tran­ten ver­haf­tet, er­ken­nungs­dienst­lich be­han­delt und erst nach etwa 30 Stun­den wie­der frei­ge­las­sen wor­den war. Vor Ge­richt ver­trat mich Horst Mah­ler, der ein bril­lan­ter Ju­rist und als APO-An­walt schon be­rühmt-be­rüch­tigt war. Ich wäre auch grund­sätz­lich be­reit ge­we­sen, den Rechts­an­walt zu be­auf­tra­gen, den mir ein Mit­ar­bei­ter des Va­ters emp­fahl. Die Be­reit­schaft währ­te aber nur eine halbe Stun­de. Der gute Mann schlug mir allen Erns­tes vor aus­zu­sa­gen, ich sei je­weils nur zu­fäl­lig am Ort der De­mons­tra­ti­on spa­zie­ren ge­gan­gen. Diese ge­nia­le An­re­gung zeig­te, dass hier nicht die ge­rings­te Vor­stel­lung von der Per­son des An­ge­klag­ten exis­tier­te. Am Ende be­zahl­te mein Vater sogar Mah­lers ver­geb­li­che Be­mü­hun­gen, was ich so nicht ein­kal­ku­liert hatte. Es gab für sol­che Fälle näm­lich einen Rechts­hil­fe­fond der APO; der soll­te aber, fand ich, so wenig wie mög­lich in An­spruch ge­nom­men wer­den.

Der Pro­zess wurde erst­in­stanz­lich vor dem Ju­gend­ge­richt ver­han­delt, da ich zu den »Tat­zei­ten« neun­zehn Jahre alt und nach da­ma­li­gem Recht noch nicht voll­jäh­rig war. Die Rich­te­rin sah »Auf­lauf« in bei­den Fäl­len als er­wie­sen an und ver­häng­te zwei Wo­chen Dau­er­ar­rest. Für den Her­an­wach­sen­den hielt sie Ju­gend­straf­recht für an­ge­zeigt. Zwar fehle dem An­ge­klag­ten nicht die geis­ti­ge, aber die »sitt­li­che« Reife – an­geb­lich hätte ich eine von mir als Schutz­be­haup­tung vor­ge­brach­te ju­ris­ti­sche Mei­nung des Rechts­an­walts Mah­ler kri­tik­los über­nom­men. Fer­ner un­ter­stell­te sie eine Auf­leh­nung gegen den Vater, die im Pro­zess gar nicht the­ma­ti­siert wor­den war.

Das war aus­ge­spro­chen dis­kri­mi­nie­rend. Nicht nur ich und die APO-Leu­te emp­fan­den das so. Auch mein Vater war sehr ver­är­gert. Ohne dass ich ir­gend­was zu ihm ge­sagt hätte, er­klär­te er: »Wenn eine Rich­te­rin die ver­mu­te­te Pro­test­hal­tung eines Soh­nes gegen sei­nen Vater als kind­li­che Un­rei­fe be­trach­tet, dann frage ich mich, wie wir bei sol­cher Welt­fremd­heit zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis der Ju­gend kom­men kön­nen.« In der Be­ru­fungs­ver­hand­lung im Ok­to­ber 1968 vor einem or­dent­li­chen Ge­richt wurde der Schuld­spruch be­stä­tigt, dies­mal nach Er­wach­se­nen­straf­recht, denn auch die Staats­an­walt­schaft hatte Ein­spruch er­ho­ben, und zwar gegen meine Ein­stu­fung als Ju­gend­straf­tä­ter. Die ver­häng­te Geld­stra­fe fiel 1970 unter eine all­ge­mei­ne Am­nes­tie für De­mons­tra­ti­ons­de­lik­te.

Bei der Er­öff­nung des Nürn­ber­ger SPD-Par­tei­tags Mitte März 1968 wur­den wäh­rend einer De­mons­tra­ti­on füh­ren­de SPD-Po­li­ti­ker kör­per­lich at­ta­ckiert. Auch Willy Brandt muss­te einen Schirm­hieb auf den Kopf ein­ste­cken. In sei­ner Em­pö­rung er­zähl­te er sei­ner Ehe­frau, »Pe­ters Ge­sin­nungs­ge­nos­sen« hät­ten ihn tät­lich an­ge­grif­fen. Nun sei er mit sei­ner Ge­duld am Ende. Mut­ter, die stets zu ver­mit­teln ver­such­te, rief mich an und schlug vor, ich solle mit Vater spre­chen. Nun hat mich die Aus­sicht, dass es mit sei­ner »Ge­duld« zu Ende sei, nicht ge­schreckt. Was immer das hätte be­deu­ten kön­nen  – meine Mut­ter hatte mir die Dro­hung auch wohl­weis­lich ver­schwie­gen. Viel­mehr be­drück­te mich die Vor­stel­lung, er könn­te mei­nen, ich hätte für die Remp­ler und Schlä­ger vor der Kon­gress­hal­le ir­gend­wel­che Sym­pa­thi­en. Leute, die so agier­ten, waren in mei­nen Augen Pro­vo­ka­teu­re im In­ter­es­se der Re­ak­ti­on.

Von einem Te­le­fon­an­ruf nahm ich aber Ab­stand, weil ich be­fürch­te­te, ins Stam­meln zu kom­men. Einen An­lass, von mei­nen po­li­ti­schen Po­si­tio­nen ab­zu­rü­cken, sah ich nicht. In einem län­ge­ren und ent­spre­chend teu­ren Te­le­gramm dis­tan­zier­te ich mich auf­rich­tig scharf von dem Ge­sche­he­nen und äu­ßer­te noch ei­ni­ge Freund­lich­kei­ten. Al­ler­dings un­ter­strich ich die grund­sätz­li­che Be­rech­ti­gung, gegen die SPD-Vor­stands­po­li­tik zu de­mons­trie­ren und zu ver­su­chen, den Par­tei­tag zu be­ein­flus­sen, damit das Ganze ja nicht als An­bie­de­rung oder po­li­ti­sche Ka­pi­tu­la­ti­on er­schien. Das bi­zar­re Te­le­gramm fiel auf frucht­ba­ren Boden. Vater nahm es sogar mit und zeig­te es an­de­ren Füh­rungs­ge­nos­sen, wie ich er­fah­ren konn­te.

Mög­li­cher­wei­se war Willy Brandt über­rascht, im Jahr 1968 auf sei­nen Rei­sen als Au­ßen­mi­nis­ter ge­le­gent­lich ganz an­ders auf sei­nen äl­tes­ten Sohn an­ge­spro­chen zu wer­den als in den hei­mi­schen Ge­fil­den. Sein chi­le­ni­scher Amts­kol­le­ge, der der christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei an­ge­hör­te, brach­te im No­vem­ber 1968 auf einer La­tein­ame­ri­ka­rei­se des deut­schen Au­ßen­mi­nis­ters bei einem Essen einen Trink­spruch auf »un­se­re re­bel­li­schen Söhne« aus. Und ju­go­sla­wi­sche Spit­zen­po­li­ti­ker rich­te­ten sogar Grüße ihrer Söhne und Töch­ter an mich aus.

Bei einem Be­such in Nor­we­gen frag­te mein Vater sei­nen alten Freund Vogel: »Was sagst du zu Peter?«
Vogel: »Er im­po­niert mir.«
Willy: »Mir auch.«

Das hat J. N. J. Vogel mir er­zählt. Mein Vater hatte nicht ein­mal eine An­deu­tung in diese Rich­tung ge­macht. Ich kann nur ver­mu­ten, was er dach­te, näm­lich dass das En­ga­ge­ment des Soh­nes nicht in Kla­mauk und ju­gend­li­chem Un­ge­stüm ste­cken blieb, son­dern von einem ernst­haf­ten Stu­di­um der ge­sell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­se wie auch der so­zia­lis­ti­schen Theo­re­ti­ker be­glei­tet war. Er hielt nichts von dem Dik­tum des Zy­ni­kers Wins­ton Chur­chill, der ge­meint hatte: Wer mit zwan­zig kein So­zia­list ist, hat kein Herz, wer es mit drei­ßig immer noch ist, kei­nen Ver­stand. Er sah durch­aus die Mög­lich­keit, dass der Ra­di­ka­lis­mus jun­ger Jahre sich ver­fes­ti­gen und im Lauf des Le­bens zu einer fun­dier­ten Po­si­ti­on wei­ter­ent­wi­ckeln kann. An­de­rer­seits wird er ge­hofft haben, zu Recht, dass ich mein uni­ver­si­tä­res Stu­di­um und meine wis­sen­schaft­li­chen Am­bi­tio­nen ernst nähme und damit ein Ge­gen­ge­wicht zum po­li­ti­schen Ak­ti­vis­mus ent­stün­de.

Was mei­nen Vater von vie­len an­de­ren, auch man­chen Lin­ken, un­ter­schied, war der Re­spekt ge­gen­über Stand­punk­ten, die er für falsch hielt, selbst dann, wenn sie ins Grund­sätz­li­che gin­gen. Ich er­in­ne­re mich, dass er mir An­fang der sech­zi­ger Jahre ein­mal den Un­ver­ein­bar­keits­be­schluss der SPD ge­gen­über dem SDS er­klär­te. Dort seien, mein­te er, ganz über­wie­gend zwar keine An­hän­ger des So­wjet­kom­mu­nis­mus, aber doch gro­ßen­teils Leute ver­sam­melt, die ein Sys­tem wie den ju­go­sla­wi­schen Selbst­ver­wal­tungs­so­zia­lis­mus be­für­wor­te­ten. Das sei zwar eine eh­ren­wer­te Po­si­ti­on, nur habe sie kei­nen Platz in der SPD. Ge­le­gent­lich zwei­fel­te er auch daran, ob die füh­ren­den Fal­ken-Funk­tio­nä­re um Harry Ristock in der rich­ti­gen Par­tei wären, was er spä­ter re­vi­dier­te.

In der Vor- und Früh­pha­se der Ju­gend­ra­di­ka­li­sie­rung war Willy Brandt Re­gie­ren­der Bür­ger­meis­ter in West-Ber­lin. Die Si­che­rung der Halb­stadt gegen äu­ße­re Be­dro­hun­gen hatte ab­so­lu­te Prio­ri­tät. Diese Per­spek­ti­ve speis­te seine Loya­li­tät ge­gen­über den west­li­chen Be­sat­zungs- und Schutz­mäch­ten. Die SED sah in ihm zeit­wei­se sogar den Ver­tre­ter eines pro­ame­ri­ka­ni­schen Flü­gels in der So­zi­al­de­mo­kra­tie.

Es liegt auf der Hand, dass er den auf­kom­men­den stu­den­ti­schen Pro­test vor­wie­gend aus dem Blick­win­kel der Ämter des Re­gie­ren­den Bür­ger­meis­ters und des Vor­sit­zen­den der er­neu­er­ten So­zi­al­de­mo­kra­tie sah. Deren Er­schei­nungs­bild soll­te nicht lei­den. Zudem konn­te die deutsch­land­po­li­ti­sche Auf­lo­cke­rung, wie er sie mit der DDR an­streb­te, sei­nes Er­ach­tens stän­di­ge Pro­tes­te und De­mons­tra­tio­nen in West-Ber­lin nicht ge­brau­chen. Als im De­zem­ber 1964 der kon­go­le­si­sche Po­li­ti­ker Moïse Tschom­bé West­Ber­lin be­such­te, war ihm das ge­wiss nicht an­ge­nehm. Den­noch hatte er Re­prä­sen­ta­ti­ons­pflich­ten ge­gen­über »sei­ner« Stadt, und die woll­te er wahr­neh­men. Als beim Tschom­bé-Be­such dann erst­mals ei­ni­ge hun­dert De­mons­tran­ten Po­li­zei­ket­ten durch­bra­chen und To­ma­ten war­fen, fühl­te er sich in sei­ner Amts­füh­rung be­ein­träch­tigt. Die Frage nach der sach­li­chen Be­rech­ti­gung der De­mons­tra­ti­on stell­te er da­hin­ter zu­rück.

Weit­aus gra­vie­ren­der war die Aus­ein­an­der­set­zung über den Viet­nam­krieg, der als Bür­ger­krieg schon ei­ni­ge Zeit in Gang war. Mit re­gel­mä­ßi­gen Bom­bar­de­ments im Nor­den die­ses Lan­des und mit der Ver­stär­kung der ame­ri­ka­ni­schen In­ter­ven­ti­ons­trup­pen im Süden im Früh­jahr 1965 kam eine schreck­li­che Es­ka­la­ti­on. Wäh­rend der SDS ein »Viet­nam-Se­mes­ter« vor­be­rei­te­te, stell­ten sich die Bun­des­re­gie­rung und weite Teile der Öf­fent­lich­keit de­mons­tra­tiv hin­ter die USA. Selbst die Ent­sen­dung von Bun­des­wehr­trup­pen schien nicht ganz aus­ge­schlos­sen. In West-Ber­lin führ­ten Weih­nach­ten 1965 sämt­li­che Ta­ges­zei­tun­gen eine Geld­samm­lung zum Wohle der Fa­mi­li­en ge­fal­le­ner US-Sol­da­ten durch, um ihnen Nach­bil­dun­gen der Frei­heits­glo­cke über­sen­den zu kön­nen. Was für ein ku­rio­ses Treu­e­be­kennt­nis! Als dann am 5. Fe­bru­ar 1966 plötz­lich 2.000 Men­schen gegen den »schmut­zi­gen Krieg« der Ame­ri­ka­ner auf die Stra­ße gin­gen, meist junge West­ber­li­ner, über­wie­gend Stu­den­ten, und am Rande der De­mons­tra­ti­on Eier auf das Ame­ri­ka-Haus flo­gen und die ame­ri­ka­ni­sche Fahne auf Halb­mast ge­setzt wurde, da brach in der Stadt ein Sturm der Ent­rüs­tung los. Der Re­gie­ren­de Bür­ger­meis­ter Willy Brandt mach­te sich zum Sprach­rohr der Em­pör­ten, als er vor dem Ab­ge­ord­ne­ten­haus den lin­ken Stu­den­ten vor­warf, an­ge­grif­fen zu haben, was den Bür­gern West-Ber­lins hei­lig sei: die Freund­schaft mit den ame­ri­ka­ni­schen Be­schüt­zern.

Ich für mei­nen Teil hatte dem Vater im Früh­jahr 1965 schwe­re Vor­hal­tun­gen ge­macht, weil er sich auf einer USA-Rei­se mit Fritz Erler auf die Seite der Ame­ri­ka­ner ge­stellt hatte, we­ni­ger nach­drück­lich als Erler, aber trotz­dem. Was die Ein­schät­zung des Viet­nam­kriegs be­trifft, hat er spä­ter be­hut­sam und eher im­pli­zit Selbst­kri­tik geübt, zum einen, weil er sich nur un­zu­rei­chend mit den in­ne­ren Ver­hält­nis­sen Süd­viet­nams be­schäf­tigt, zum an­de­ren, weil er die in­ter­na­tio­na­len Wir­kun­gen des Kon­flikts nicht rich­tig ein­ge­schätzt hätte. 1965/66 ging es ihm, mit Blick auf Ber­lin, um die Glaub­wür­dig­keit ame­ri­ka­ni­scher Ga­ran­ti­en. Und er woll­te die kom­mu­nis­ti­schen Hard­li­ner aller Län­der, die er auch in der SED ver­mu­te­te, ent­mu­tigt wis­sen, damit sich die Vor­aus­set­zun­gen glo­ba­ler Ent­span­nung ver­bes­ser­ten. So je­den­falls lau­te­te seine da­ma­li­ge Ana­ly­se. In­so­fern stand er in einem schar­fen in­halt­li­chen Ge­gen­satz zu den­je­ni­gen, die in West-Ber­lin und West­deutsch­land gegen den Krieg der Ame­ri­ka­ner in Viet­nam auf­tra­ten und für den Nor­den des Lan­des und die süd­viet­na­me­si­sche Be­frei­ungs­front Par­tei er­grif­fen.

Es war nur ein schein­ba­res Pa­ra­dox, dass sich die­ser Ge­gen­satz in Willy Brandts Zeit als Au­ßen­mi­nis­ter ab­zu­schwä­chen schien. In den USA selbst und unter den NA­TO-Ver­bün­de­ten wuchs die Kri­tik an dem Krieg der west­li­chen Füh­rungs­macht. Dies wurde sei­ner­seits zu einem rea­len au­ßen­po­li­ti­schen Fak­tor. Für Willy Brandt kam er­leich­ternd hinzu, dass er auf die Mehr­heits­ver­hält­nis­se in der Ber­li­ner SPD – der »CSU der deut­schen So­zi­al­de­mo­kra­tie« – sehr viel we­ni­ger Rück­sicht neh­men muss­te als frü­her. Wich­ti­ger war nun die Mei­nungs­bil­dung in der Ge­samt-SPD: Als Erwin Beck und Harry Ristock am 18. Fe­bru­ar 1968 in West-Ber­lin an der gro­ßen in­ter­na­tio­na­len Viet­nam-De­mons­tra­ti­on teil­nah­men, und dies aus­drück­lich als So­zi­al­de­mo­kra­ten taten, exe­ku­tier­te die Ber­li­ner Lan­des­or­ga­ni­sa­ti­on einen So­fort­aus­schluss gegen die bei­den. Die Bun­des-SPD mach­te auf dem Nürn­ber­ger Par­tei­tag den Aus­schluss über eine Sat­zungs­än­de­rung rück­gän­gig.

Seit den Über­grif­fen der Ber­li­ner Po­li­zei wäh­rend der Pro­tes­te gegen den Schah-Be­such im Juni 1967 brei­te­te sich die APO flä­chen­bran­dar­tig aus. Das hielt bis zu den Os­ter­un­ru­hen 1968 an und setz­te sich dann we­ni­ger spek­ta­ku­lär fort. An den Hoch­schu­len ge­riet eine Or­ga­ni­sa­ti­on nach der an­de­ren in den Sog der Pro­test­be­we­gung, teil­wei­se und zeit­wei­se bis in die Rei­hen des RCDS  – des Rings Christ­lich-De­mo­kra­ti­scher Stu­den­ten. Selbst waf­fen­stu­den­ti­sche Kor­po­ra­tio­nen konn­ten sich dem nicht ganz ent­zie­hen, ähn­lich die eta­blier­ten Ju­gend­or­ga­ni­sa­tio­nen wie Pfad­fin­der und kirch­li­che Grup­pen. Wie Mei­nungs­um­fra­gen be­leg­ten, sym­pa­thi­sier­te im Früh­jahr 1968 eine Mehr­heit der Stu­den­ten und Ober­schü­ler mit der Be­we­gung, wie immer sie im Ein­zel­nen ver­stan­de­nen wor­den sein mag. Viele waren de­mons­tra­ti­ons­be­reit, er­heb­lich we­ni­ger wur­den auch re­gel­mä­ßig aktiv. Nun mach­ten diese jun­gen Men­schen, die ihrer Her­kunft nach weit­ge­hend den bür­ger­li­chen Schich­ten ent­stamm­ten, Ende der sech­zi­ger Jahre nicht mehr als ein Zehn­tel der ent­spre­chen­den Jahr­gän­ge aus. Willy Brandt wies immer wie­der auf das Fak­tum hin: Es han­del­te sich um die Mehr­heit der stu­die­ren­den Min­der­heit und zu­sätz­lich um eine ziem­lich klei­ne, wenn auch nicht ganz be­deu­tungs­lo­se Min­der­heit der lohn­ar­bei­ten­den Mehr­heit. Das un­ter­strich er aus zwei Grün­den: Zum einen woll­te er die an­sprech­ba­ren Teile der APO auf die Ge­fahr eines völ­li­gen Aus­ein­an­der­klaf­fens der Ge­ne­ra­tio­nen und der Ju­gend in sich hin­wei­sen. Zum an­de­ren bat er um Ver­ständ­nis dafür, dass eine Par­tei wie die SPD die Ver­bin­dung zur Men­ta­li­tät der ar­bei­ten­den Be­völ­ke­rung nicht ver­lie­ren dürfe. Wäh­rend des Wahl­kampfs 1969 und davor soll­te die SPD bei den Ar­bei­tern »nicht wasch­lap­pig er­schei­nen«. Und ihren Geg­nern soll­te es un­mög­lich sein, sie mit Ge­walt­ak­tio­nen und Ge­setz­lo­sig­keit zu iden­ti­fi­zie­ren. Out­laws waren die So­zi­al­de­mo­kra­ten lange genug ge­we­sen. Nun woll­ten sie den Re­gie­rungs­chef stel­len.

In man­chen Mo­men­ten des Zorns über sys­te­ma­ti­sche Stö­run­gen von SPD-Ver­an­stal­tun­gen droh­te Willy Brandt sogar damit, die »schwei­gen­de Mehr­heit« zu mo­bi­li­sie­ren. Soll­ten sich die »gut­ge­son­ne­nen Bür­ger« ge­fal­len las­sen, dass der »de­mo­kra­ti­sche Rechts­staat aus­ge­höhlt und seine Ein­rich­tun­gen zu einer Ruine ge­macht« wür­den? Brandt ver­wies mehr­fach auf seine Le­bens­er­fah­rung: das Er­leb­nis des Un­ter­gangs der Wei­ma­rer Re­pu­blik. Doch – und das war ein cha­rak­te­ris­ti­scher Un­ter­schied zu manch an­de­ren auch in­ner­halb der SPD – zog er keine Par­al­le­len zwi­schen APO und NSDAP. Er er­in­ner­te viel­mehr an die Hilf­lo­sig­keit des de­mo­kra­ti­schen Rechts­staats, die sei­ner Ent­le­gi­ti­mie­rung 1933 vor­aus­ging. Es war ihm durch­aus be­wusst, dass die Links­ent­wick­lung der jun­gen In­tel­li­genz Deutsch­lands an­ders zu sehen war als die an­ti­li­be­ral-rechts­na­tio­na­lis­ti­schen Ten­den­zen in der Wei­ma­rer Re­pu­blik und dass – nach der In­dif­fe­renz der »skep­ti­schen Ge­ne­ra­ti­on« in den Nach­kriegs­jah­ren – der Links­trend in der jun­gen In­tel­li­genz aus so­zi­al­de­mo­kra­ti­scher Sicht nicht nur ne­ga­tiv zu sehen war. Aber als SPD-Vor­sit­zen­der fürch­te­te er zu­gleich stets, dass die Re­vol­te von links einen Rechts­ruck in der Be­völ­ke­rung aus­lö­sen könn­te. Tat­säch­lich, der grö­ß­te Wahl­er­folg der rechts­ex­tre­men NPD, 1968 in Ba­den-Würt­tem­berg, kurz nach den Os­ter­un­ru­hen, ging per saldo fast aus­schlie­ß­lich zu­las­ten der SPD.

Wenn Willy Brandt über die Ra­di­ka­li­sie­rung der Ju­gend sprach, ver­mied er Be­zeich­nun­gen wie »so­zia­lis­tisch« und »kom­mu­nis­tisch«. »Kom­mu­nis­tisch«  – das war fast so wie »So­wjet­sys­tem« und wäre für jeden of­fi­zi­el­len Dia­log mit den Jün­ge­ren töd­lich ge­we­sen. Er be­vor­zug­te Worte wie »Ra­di­ka­lis­mus«, »An­ar­chis­mus« oder »Nei­gung zur Re­vo­lu­ti­on«, bei ge­walt­tä­ti­gen und ge­walt­be­rei­ten Grup­pen sprach er von »Ex­tre­mis­mus« und »Ter­ro­ris­mus« und ver­ein­zelt von »Ni­hi­lis­mus«.

Als nach dem Dutsch­ke-At­ten­tat Zehn­tau­sen­de von De­mons­tran­ten ver­such­ten, die Aus­lie­fe­rung von Sprin­ger-Zei­tun­gen zu ver­hin­dern, auch ge­walt­sam, und als dabei in Mün­chen zwei Men­schen den Tod fan­den, wand­te sich das SPD-Par­tei­prä­si­di­um am 14. April 1968 »mit aller Ent­schie­den­heit gegen die fla­gran­ten, teil­wei­se vor­sätz­lich or­ga­ni­sier­ten Rechts­ver­let­zun­gen« und be­schwor »die Au­to­ri­tät des Rech­tes und die Au­to­ri­tät des Ge­set­zes«, die »mit Be­son­nen­heit, aber eben­so auch mit gro­ßer En­er­gie« ge­wahrt wer­den müss­ten. Brandt war die Schwie­rig­keit durch­aus be­wusst, von außen einen Spalt in die Pro­test­be­we­gung zu trei­ben. Sie funk­tio­nier­te nach an­de­ren Kri­te­ri­en als denen, die die SPD vor­gab. Man ver­wei­ger­te zum Bei­spiel ein Be­kennt­nis zur ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Ord­nung der Bun­des­re­pu­blik. Das mach­te die Sache kom­pli­zier­ter. Willy Brandt be­ton­te immer wie­der, dass es bei dem Ver­such, »Ex­tre­mis­ten« aus­zu­gren­zen, nicht um die Stu­den­ten ginge, auch nicht um die lin­ken Stu­den­ten, ja nicht ein­mal um die­je­ni­gen, die »über­kom­me­ne Werte und eta­blier­te Ord­nun­gen« ve­he­ment und ra­di­kal in­fra­ge stell­ten.

Mitte Fe­bru­ar 1969 dis­ku­tier­te die Bun­des­re­gie­rung über einen Vor­schlag von In­nen­mi­nis­ter Ernst Benda (CDU), der die NPD und den SDS gleich­zei­tig ver­bie­ten woll­te. Das kam man­chen So­zi­al­de­mo­kra­ten nicht un­ge­le­gen. Die SPD-Füh­rung stell­te sich haupt­säch­lich des­we­gen quer, weil die CDU/CSU au­ßer­dem die DKP ver­bie­ten las­sen woll­te, die Jus­tiz­mi­nis­ter Gus­tav Hei­nemann, auch als freund­li­ches Si­gnal an den Osten, ge­ra­de erst müh­sam le­ga­li­siert hatte.

Willy Brandts stra­te­gi­sches Ziel hieß, der »heim­li­chen Ko­ali­ti­on zwi­schen Kon­ser­va­tis­mus und Re­vo­luz­zer­tum« eine »Ko­ali­ti­on der Re­form­wil­li­gen« ent­ge­gen­zu­stel­len, so­wohl an den Uni­ver­si­tä­ten wie auch in der Ge­samt­ge­sell­schaft. Al­ler­dings kamen er und die SPD damit nicht sehr weit, bis sich die Dau­er­re­vol­te mehr oder we­ni­ger tot­lief. Di­rek­te Ge­sprä­che brach­ten wenig kon­kre­te Er­fol­ge. Auf dem ju­gend­po­li­ti­schen Kon­gress der SPD im Ja­nu­ar 1969, der als ge­schlos­se­ne Ver­an­stal­tung ab­ge­hal­te­nen wurde, zeig­te sich das Di­lem­ma der So­zi­al­de­mo­kra­tie im Um­gang mit der Pro­test­be­we­gung in sei­ner gan­zen Trag­wei­te. Den SDS hatte man gar nicht erst ein­ge­la­den. Auch der scharf links­op­po­si­tio­nel­le So­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Hoch­schul­bund (SHB) er­hielt erst Zu­tritt, als öf­fent­lich ruch­bar wurde, dass man ihn bei der Kar­ten­ver­ga­be (an­geb­lich irr­tüm­lich) über­gan­gen hatte. Trotz aller Vor­sichts­maß­nah­men ge­lang es den APO-Sym­pa­thi­san­ten unter den Teil­neh­mern doch noch, für meh­re­re SPD-kri­ti­sche Re­so­lu­tio­nen die Zu­stim­mung der Mehr­heit zu er­hal­ten.

Brandt ent­wi­ckel­te nach und nach mehr Ver­ständ­nis für die Po­si­tio­nen der ra­di­ka­li­sier­ten Ju­gend. Das war un­ver­kenn­bar. Seine Ana­ly­se wurde um­fas­sen­der und prä­zi­ser. Er be­merk­te, wie gra­vie­rend die ge­ne­ra­ti­ons­spe­zi­fi­schen Er­fah­run­gen aus­ein­an­der­klaff­ten – die der »Acht­und­sech­zi­ger« ei­ner­seits und der Al­ters­grup­pen, die die po­li­ti­sche Füh­rungs­schicht stell­ten, an­de­rer­seits. Und, das sagte er sich und an­de­ren, Er­fah­run­gen waren schwer über­trag­bar. Die Wei­ge­rung, die An­lie­gen der op­po­si­tio­nel­len jun­gen Men­schen als le­gi­tim oder gar be­rech­tigt an­zu­er­ken­nen, wich dem Wer­ben um ge­gen­sei­ti­ges Ver­ste­hen.

Es war auch der APO ge­schul­det, dass die SPD 1968/69 ihr pro­gres­si­ves, re­for­me­ri­sches Pro­fil schärf­te und gegen den Kon­ser­va­tis­mus wie­der här­ter Stel­lung bezog. Eine Mo­der­ni­sie­rung der Hoch­schu­len ziel­te auch die So­zi­al­de­mo­kra­tie an. Willy Brandt an­er­kann­te, dass die For­de­rung aus der Stu­den­ten­schaft und dem Mit­tel­bau nach ein­schnei­den­der Re­form sehr be­rech­tigt war. Si­cher­lich spiel­te auch die Hoff­nung mit, die stu­den­ti­schen Un­ru­hen auf die­sem Weg teil­wei­se ka­na­li­sie­ren zu kön­nen. Brandt rief die kri­ti­sche Ju­gend auf, sich stär­ker in den be­ste­hen­den Par­tei­en zu en­ga­gie­ren, und das hieß kon­kret: in der SPD. Be­kannt­lich folg­te sie dem Ruf in be­trächt­li­cher Zahl.

Kla­rer als an­de­re Po­li­ti­ker, auch kla­rer als viele So­zi­al­de­mo­kra­ten, er­kann­te Willy Brandt die ele­men­ta­re Kraft der Ju­gend­ra­di­ka­li­sie­rung. Vor der UNESCO sprach er am 6. No­vem­ber 1968 von einem »Auf­be­geh­ren gegen Phä­no­me­ne der Ent­frem­dung und Ent­see­lung« in der mo­der­nen In­dus­trie­zi­vi­li­sa­ti­on. Es gehe um einen Pro­test gegen das »Miss­ver­hält­nis zwi­schen ver­al­te­ten Struk­tu­ren und neuen Mög­lich­kei­ten«, gegen die »in­ne­re Un­wahr­haf­tig­keit des Staa­tes und der Ge­sell­schaft«. »Die Ju­gend misst das, was ist, nicht an dem, was war …, son­dern an dem, was sein könn­te.« Man müsse sich der Ju­gend stel­len, sich selbst in­fra­ge stel­len und hin­zu­ler­nen. Ins­be­son­de­re von sei­ner Par­tei ver­lang­te Willy Brandt, sie müsse fähig und be­reit sein, sich in­halt­lich mit der Ju­gend aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die So­zi­al­de­mo­kra­tie sei »die­je­ni­ge po­li­ti­sche Ge­mein­schaft, die alle wich­ti­gen Im­pul­se, auch die ihrer Kri­ti­ker, in sich auf­nimmt«. Das schrieb er ihr we­ni­ge Wo­chen vor sei­ner Wahl zum Bun­des­kanz­ler ins Stamm­buch.

Mit si­che­rem Ge­spür für Ge­mein­sam­kei­ten und Un­ter­schie­de be­griff er die in­ter­na­tio­na­le Di­men­si­on der Stu­den­ten- und Ju­gend­be­we­gung, die von Me­xi­ko bis Japan und sogar in Ost­eu­ro­pa ihre Wel­len schlug. Be­son­ders Frank­reich be­ein­druck­te ihn, wo Stu­den­ten­pro­tes­te im Mai 1968 den grö­ß­ten Ge­ne­ral­streik der fran­zö­si­schen Ge­schich­te aus­lös­ten – bis an die Schwel­le des re­vo­lu­tio­nä­ren Staats­um­stur­zes. Bei die­sen Ein­schät­zun­gen spiel­te ein Mann eine Rolle, der zu den Jün­ge­ren in der SPD-Füh­rung zähl­te: der Staats­se­kre­tär und frü­he­re Frei­bur­ger Ju­ra­pro­fes­sor Horst Ehmke, da­mals um die 40 Jahre alt. Ehmke un­ter­drück­te die schar­fe Kri­tik am SDS zwar nicht, warb aber auf dem Nürn­ber­ger Par­tei­tag für einen ra­tio­na­len Um­gang mit der APO. Sie sei »von guten Ab­sich­ten, Ent­täu­schun­gen, Ängs­ten, be­rech­tig­ter wie un­be­rech­tig­ter Kri­tik und auch von ver­stie­ge­nen Ideen« ge­tra­gen. Für ihn stand fest: Die Un­ru­he habe »ge­ra­de erst be­gon­nen« und werde bald auch Schü­ler und Lehr­lin­ge er­fas­sen.

Mein Vater re­de­te weder mir noch ir­gend­ei­nem an­de­ren jun­gen Lin­ken je­mals nach dem Munde, son­dern warn­te wie­der­holt davor, die Pro­ble­me der mo­der­nen Welt mit dem Griff in die ideo­lo­gi­sche »Mot­ten­kis­te« lösen zu wol­len. Aber, und das galt si­cher nicht nur für den re­bel­lie­ren­den äl­tes­ten Sohn: Wer mit ihm sprach, fühl­te sich ernst ge­nom­men und re­spek­tiert, auch wenn die Po­si­tio­nen in­halt­lich un­ver­ein­bar waren.

Es waren vor allem linke und links­li­be­ra­le In­tel­lek­tu­el­le wie Gün­ter Grass und Kurt Sont­hei­mer, die Willy Brandt er­mu­tig­ten, auf die pro­tes­tie­ren­de Ju­gend zu­zu­ge­hen. Grass neig­te dazu, den po­li­ti­schen Ge­ne­ra­ti­ons­kon­flikt zwi­schen Vater und Sohn Brandt, der na­tür­lich große öf­fent­li­che Be­ach­tung fand und vom po­li­ti­schen Geg­ner hoch­ge­spielt wurde, als eine ex­em­pla­ri­sche »päd­ago­gi­sche Lek­ti­on« hohen Ran­ges zu sti­li­sie­ren. Grass hatte durch­aus das rich­ti­ge Ge­spür. Mei­nungs­um­fra­gen brach­ten einen in­ter­es­san­ten Ef­fekt ans Licht: An­ders als all­ge­mein ver­mu­tet, sah eine Mehr­zahl der West­deut­schen Willy Brandts To­le­ranz ge­gen­über sei­nem äl­tes­ten Sohn po­si­tiv. Zu­gleich nahm diese Mehr­heit an, ent­schie­den in der Min­der­heit zu sein.

Die Mo­ti­ve für den par­ti­el­len Ein­stel­lungs­wan­del Willy Brandts waren ge­mischt, wie meist in sol­chen Fäl­len. Man ge­winnt im Nach­hin­ein den Ein­druck, als ob sich au­ßen­po­li­ti­sche, in­nen­po­li­ti­sche und in­ner­par­tei­li­che Nütz­lich­keits­er­wä­gun­gen, in­tel­lek­tu­el­le Fle­xi­bi­li­tät bei ge­sell­schaft­li­chen Fra­gen, Er­in­ne­run­gen an die ei­ge­ne Ju­gend und die Be­reit­schaft, nach sach­lich und mo­ra­lisch be­rech­tig­ten An­trie­ben des Pro­tests zu fra­gen, ge­gen­sei­tig ver­stärk­ten. Was dabei her­aus­kam, war ty­pisch für ihn: »Wer vom An­ders­den­ken­den an­nimmt, er könn­te nur ent­we­der dumm oder bös­wil­lig sein, mit dem ist schwer zu reden. Man muss wis­sen, dass man auch irren kann«, sagte er in sei­ner Rede auf dem SPD-Ju­gend­kon­gress im Ja­nu­ar 1969. »Ohne Ver­stän­di­gung, ohne Aus­gleich gibt es keine De­mo­kra­tie.« Schon auf dem Nürn­ber­ger Par­tei­tag hat­ten Gün­ter Grass und seine Man­nen ihm in die Feder dik­tiert: »Ju­gend ist kein Ver­dienst, Alter ist kein Ver­dienst. Nach mei­nen Er­fah­run­gen ist Ju­gend ein Kre­dit, der jeden Tag klei­ner wird. Die Selbst­herr­lich­keit jun­ger Leute ist eben­so tö­richt wie die Bes­ser­wis­se­rei der Alten. Das soll­te man sich täg­lich als Vater sagen. Hof­fent­lich sagen sich das manch­mal auch die Söhne.« Im ur­sprüng­li­chen Ent­wurf hatte es noch ge­hei­ßen: »meine Söhne«.

Der Ehr­lich­keit hal­ber muss man an die­ser Stel­le sagen, dass die di­rek­te Aus­ein­an­der­set­zung im Fa­mi­li­en­kreis viel we­ni­ger in­ten­siv war, als das nach außen den An­schein haben moch­te. Viel­leicht pro­fi­tier­te hier der Vater Brandt ein­mal vom Po­li­ti­ker Willy Brandt. Er be­ton­te da­mals mehr­fach, dass die Kon­fron­ta­ti­on mit den Ge­dan­ken und der Ge­fühls­welt der Jun­gen ver­hin­dert habe, das Ge­spür für die An­lie­gen der ei­ge­nen Söhne zu ver­lie­ren – und um­ge­kehrt. Den zweit­ge­bo­re­nen Sohn Lars, der mit ihm wei­ter­hin unter einem Dach lebte, rech­ne­te er, in Ab­gren­zung zum Äl­tes­ten, üb­ri­gens eher dem Feld des frei­geis­ti­gen Kul­tur­ra­di­ka­lis­mus zu.

Nach den Os­ter­un­ru­hen und den Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen gegen die Not­stands­ge­set­ze 1968 zer­fa­ser­te der mas­si­ve Pro­test all­mäh­lich. Im Ge­gen­satz dazu ge­wann die ra­di­ka­le Linke von Jahr zu Jahr er­heb­lich an Ein­fluss im Leben der Re­pu­blik; dazu kamen die Neue­run­gen in der All­tags­kul­tur wie Kin­der­lä­den, Wohn­ge­mein­schaf­ten, au­to­no­me Ju­gend- und Lehr­lings­zen­tren usw. Das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz zähl­te 1971 rund 76.000 und 1975 rund 140.000 Links­ex­tre­mis­ten in Hun­der­ten von Or­ga­ni­sa­tio­nen. Je­weils mehr als die Hälf­te ent­fie­len auf die DKP und ihr Um­feld. Den west­deut­schen Kom­mu­nis­ten mit Mos­kau­Ori­en­tie­rung war es ge­lun­gen, viele Früch­te der Ju­gend­ra­di­ka­li­sie­rung zu ern­ten, trotz der Nie­der­schla­gung des Pra­ger Früh­lings. Da­ne­ben ent­stan­den mao­is­ti­sche Klein­par­tei­en und spon­ta­n­eis­ti­sche Grup­pie­run­gen. Letz­te­re führ­ten am ehes­ten wei­ter, was 1967/68 ent­stan­den war.

Die Neu­grün­dung einer kom­mu­nis­ti­schen Par­tei in der Bun­des­re­pu­blik war wäh­rend der Gro­ßen Ko­ali­ti­on mit dem Ein­ver­ständ­nis von CDU/CSU aus­ge­han­delt wor­den. Für die Bun­des­re­gie­rung und na­ment­lich für die SPD han­del­te es sich um ein Stück Re­al­po­li­tik: Au­ßer­halb der rech­ten Dik­ta­tu­ren in Por­tu­gal, Spa­ni­en und Grie­chen­land war ein KP-Ver­bot in West­eu­ro­pa un­denk­bar. In der Bun­des­re­pu­blik er­schwer­te es die Ent­span­nung nach Osten, ohne dass von der bis 1956 zu­ge­las­se­nen Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei je eine echte Ge­fahr für die De­mo­kra­tie aus­ge­gan­gen wäre. Tat­säch­lich bekam auch die DKP bei Wah­len nir­gend­wo einen Fuß auf den Boden, von ei­ni­gen klei­nen ört­li­chen Hoch­bur­gen ab­ge­se­hen. Die Bun­des­tags­wahl­er­geb­nis­se lagen im bla­ma­blen Pro­mil­le­be­reich. Jahre spä­ter er­zähl­te mein Vater mir mit sicht­ba­rer Er­hei­te­rung von einem Zu­sam­men­tref­fen mit dem DKP-Vor­sit­zen­den Her­bert Mies 1980 in Bel­grad, an­läss­lich der Be­er­di­gung von Josip Broz Tito. Die Bun­des­tags­wahl stand bevor. Die CDU/CSU hatte Franz Josef Strauß zum Spit­zen­kan­di­da­ten ge­kürt. Mies nahm mei­nen Vater bei­sei­te und er­klär­te, dass die DKP an einer ei­ge­nen Kan­di­da­tur vor allem des­halb fest­hiel­te, um den An­ti­kom­mu­nis­mus »auf sich zu zie­hen« – ge­wis­ser­ma­ßen als Opfer zu­guns­ten der so­zi­al­li­be­ra­len Ko­ali­ti­on, um Schlim­me­res zu ver­hin­dern. So ähn­lich hatte ich mir das immer vor­ge­stellt … Iro­ni­sche Äu­ße­run­gen über die »staats­tra­gen­de« Rolle von DKP-Leu­ten hörte ich in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren von mei­nem Vater häu­fi­ger. Vor allem in Ge­werk­schaf­ten und Be­triebs­rä­ten be­kämpf­ten sie ver­meint­li­che links­ra­di­ka­le Chao­ten, die auch ge­mä­ßig­ten So­zi­al­de­mo­kra­ten auf die Ner­ven gin­gen. Über die In­ter­es­sen, die da­hin­ter stan­den, mach­te Brandt sich keine Il­lu­sio­nen.

Ein Ver­bot der DKP hätte der Re­gie­rung Brandt-Scheel nach innen wie außen be­trächt­li­che Pro­ble­me be­rei­tet. Hier­in lag ein we­sent­li­ches Motiv dafür, dass Willy Brandt sich auf den be­rüch­tig­ten »Ra­di­ka­len­er­lass« ein­ließ, der die Ein­stel­lung von Ex­tre­mis­ten in den Öf­fent­li­chen Dienst ver­hin­dern soll­te. Die­ser Be­schluss war von den Mi­nis­ter­prä­si­den­ten der Län­der aus­ge­gan­gen.

Die Re­gie­rung Brandt sah sich da­mals ge­nö­tigt, der Pro­pa­gan­da der Op­po­si­ti­on etwas ent­ge­gen­zu­set­zen, die be­haup­te­te, die neue Ost­po­li­tik wei­che die Tren­nungs­li­nie zum Kom­mu­nis­mus auf und för­de­re ten­den­zi­ell sogar Volks­front­bünd­nis­se. Auch um even­tu­el­le Un­klar­hei­ten in den ei­ge­nen Rei­hen zu be­sei­ti­gen, hatte der SPD-Vor­stand schon im No­vem­ber 1970 Ri­chard Lö­wen­thal be­auf­tragt, klare Ab­gren­zungs­richt­li­ni­en für Par­tei­mit­glie­der zu ver­fas­sen. Die­ser hob die Un­ver­ein­bar­keit von De­mo­kra­tie und Dik­ta­tur her­vor und er­klär­te jede Art Mit­glied­schaft oder Ak­ti­ons­ge­mein­schaft mit kom­mu­nis­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen für un­ver­ein­bar mit der Po­li­tik der SPD.

Der so­ge­nann­te »Ra­di­ka­len­er­lass« oder auch »Ex­tre­mis­ten­be­schluss« vom Ja­nu­ar 1972 soll­te die in­nen­po­li­tisch be­droh­te Flan­ke der Ost­ver­trä­ge schüt­zen. Ob­wohl Her­bert Weh­ner und, mehr noch, Hel­mut Schmidt die vor­han­de­nen ge­setz­li­chen Be­stim­mun­gen für aus­rei­chend hiel­ten und vor dem »Ra­di­ka­len­er­lass« warn­ten, scheint Willy Brandt des­sen Trag­wei­te in Deutsch­land mit sei­nen ob­rig­keits­staat­li­chen Tra­di­tio­nen und sei­ner oft­mals ju­ris­ti­schen Re­ge­lungs­wut ent­gan­gen zu sein. Ihm schweb­te eine prag­ma­ti­sche Pra­xis vor: Von si­cher­heits­re­le­van­ten Be­rei­chen soll­ten Ver­fas­sungs­fein­de fern­ge­hal­ten wer­den, sonst soll­ten sie un­ge­scho­ren blei­ben. So hand­hab­te man das in an­de­ren Län­dern West­eu­ro­pas auch. Doch die­ses Ar­ran­ge­ment kol­li­dier­te mit dem deut­schen Be­am­ten­sta­tus und mit dem Wort­laut des Ra­di­ka­len­er­las­ses. So ge­rie­ten klei­ne DKP-An­ge­hö­ri­ge ins Vi­sier, die zum Bei­spiel Lok­füh­rer oder Post­bo­ten waren. Ge­sin­nungs­schnüf­fe­lei ließ sich kaum ver­mei­den. Das war ge­wiss nicht in­ten­diert, aber un­ver­meid­lich. Und ob­wohl die Mi­nis­ter­prä­si­den­ten den Be­schluss ge­mein­sam fass­ten, ent­wi­ckel­te jedes Bun­des­land seine ei­ge­ne Pra­xis. Der bü­ro­kra­ti­sche Auf­wand einer so­ge­nann­ten »Re­gel­an­fra­ge« beim Ver­fas­sungs­schutz war enorm. Die Zahl der Be­wer­ber, die dar­auf­hin ab­ge­lehnt wur­den, stand mit etwa einem Pro­mil­le in einem gro­tes­ken Miss­ver­hält­nis zu die­sem Auf­wand. Die SPD hatte Mühe, die Be­sorg­nis­se und Kri­tik ihrer Schwes­ter­par­tei­en zu be­sänf­ti­gen. Die von Willy Brandt und Her­bert Weh­ner über­lie­fer­te flap­si­ge Be­mer­kung, man könne als Re­vo­lu­tio­när doch nicht gleich­zei­tig die Si­cher­heit des Be­am­ten­sta­tus mit Pen­si­ons­be­rech­ti­gung an­stre­ben, traf nicht den Punkt. Sie ging an der Tat­sa­che vor­bei, dass in den Be­rei­chen, wo der Staat das Aus­bil­dungs­mo­no­pol besaß, bei Leh­rern und Ju­ris­ten zum Bei­spiel, die Ab­leh­nung von tat­säch­li­chen oder ver­meint­li­chen »Ver­fas­sungs­fein­den« de facto einem Be­rufs­ver­bot gleich­kam. Willy Brandt hat den »Ra­di­ka­len­er­lass« schon bald nach sei­nem Amts­ver­zicht als Feh­ler be­zeich­net und un­um­wun­den ein­ge­räumt, sich ge­irrt zu haben. Eine ge­wis­se Non­cha­lance ge­gen­über ju­ris­ti­schen Fra­gen, die er immer schon besaß, hat sich hier ne­ga­tiv aus­ge­wirkt.

Als ich mich 1975 in Ber­lin erst­mals auf eine uni­ver­si­tä­re As­sis­ten­ten­stel­le be­warb, ge­riet auch ich in diese Schnüf­fel­ma­schi­ne­rie. Ich muss­te mich einem An­hö­rungs­ver­fah­ren im Rek­to­rat der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin un­ter­zie­hen, nach­dem die Re­gel­an­fra­ge di­ver­se »Er­kennt­nis­se« des Ver­fas­sungs­schut­zes er­brach­te hatte. Sie be­zo­gen sich aus­schlie­ß­lich auf den Zeit­raum von 1968 bis 1971 und meine nicht un­ma­ß­geb­li­che Mit­glied­schaft im »Spar­ta­cus«. Al­ler­dings ge­hör­te ich dem Ver­band 1975 schon nicht mehr an. Die Uni­ver­si­tä­ten pfleg­ten we­ni­ger in­qui­si­to­risch zu fra­gen als Schu­len und Ver­wal­tun­gen. Ich dufte einen Rechts­an­walt zur An­hö­rung mit­brin­gen, mich mit ihm zwi­schen­durch flüs­ternd be­ra­ten und schlie­ß­lich sogar das Pro­to­koll re­dak­tio­nell be­ar­bei­ten.

Mir ging es darum, die Aus­sicht auf die an­ge­streb­te Stel­le nicht zu zer­stö­ren, aber auch keine ver­ba­len Un­ter­wer­fungs­ges­ten zu ma­chen und nichts zu äu­ßern, was ich nicht auch ge­gen­über mei­nem po­li­ti­schen Um­feld ver­tre­ten konn­te. Als man mir Zi­ta­te aus den Jah­ren um 1970 vor­hielt, sagte ich wahr­heits­ge­mäß, ich würde in­zwi­schen man­ches an­ders sehen und je­den­falls an­ders for­mu­lie­ren, ohne dass ich das kon­kre­ti­sier­te. Au­ßer­dem un­ter­strich ich meine durch­ge­hend frei­heit­li­chen Mo­ti­ve. Fer­ner do­zier­te ich über Be­grif­fe wie »Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats«, die im Ver­ständ­nis der klas­si­schen So­zi­al­de­mo­kra­tie kei­nen Ge­gen­satz zur Ent­fal­tung der De­mo­kra­tie bil­de­ten. Das Pro­to­koll ge­riet er­war­tungs­ge­mäß in die Pres­se und wurde dort von An­hän­gern wie Geg­nern des Ra­di­ka­len­er­las­ses un­ter­schied­lich kom­men­tiert. Der »Spie­gel« mein­te, nur wer so »ge­schickt und be­schla­gen« ar­gu­men­tie­re, könne sich aus der Af­fä­re zie­hen. Mei­nen Vater bat ich am Te­le­fon, sich kei­nes­falls zu äu­ßern: Was immer er sage, es könne nur miss­ver­stan­den wer­den. Am Ende hat mir »sein Er­lass« be­ruf­lich nicht ge­scha­det. Das war aber nur ein schwa­cher Trost.

 

Aus­zug aus dem Buch: Peter Brandt, Mit an­de­ren Augen. Ver­such über den Po­li­ti­ker und Pri­vat­mann Willy Brandt, Bonn 2013. Ver­öf­fent­licht mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Ver­lags J.H.W. Dietz Nachf. - Ver­lags­in­for­ma­tio­nen fin­den Sie hier.

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