Immo Sennewald: Abend

Als Im­ma­nu­el Kant 1804 starb, hat sein treu­er Schü­ler Schel­ling in einem Nach­ruf den Zu­sam­men­hang von Phi­lo­so­phie und Re­vo­lu­ti­on im Den­ken des Kö­nigs­ber­gers öf­fent­lich ge­macht. Es war über­aus über­ra­schend, als hier von Kant be­haup­tet wurde, dass ers­tens »das große Er­eig­nis der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on ihm al­lein die all­ge­mei­ne und öf­fent­li­che Wir­kung ver­schafft hat, wel­che ihm seine Phi­lo­so­phie an sich selbst nie ver­schafft haben würde«, und dass zwei­tens »das Zu­sam­men­tref­fen bei­der gleich­ge­wich­ti­gen Um­wäl­zun­gen« davon zeuge, »dass es ein und der­sel­be von lange her ge­bil­de­ter Geist war, der sich nach Ver­schie­den­heit der Na­tio­nen und der Um­stän­de dort in einer rea­len, hier in einer idea­len Re­vo­lu­ti­on Luft schaff­te.« (Schel­ling, 1860, S. 4)

Mit die­ser viele Zeit­ge­nos­sen über­ra­schen­den Wahr­neh­mung zur Phi­lo­so­phie Kants stand Schel­ling in der deut­schen Geis­tes­ge­schich­te nicht al­lei­ne da. – Vier­zig Jahre spä­ter be­kräf­tig­te ein So­zi­al­phi­lo­soph aus Trier die­sen Zu­sam­men­hang, als er schrieb, es sei »Kant's Phi­lo­so­phie mit Recht als die deut­sche Theo­rie der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on zu be­trach­ten.« (Marx, 1975, S. 194)

So ist es na­he­lie­gend, die Kan­ti­sche Phi­lo­so­phie zu zwei Pro­blem­krei­sen zu be­fra­gen:

  1. Was ver­ste­hen wir unter Kants Re­vo­lu­ti­on der Den­kungs­art? – und
  2. In­wie­weit ent­fal­tet sich bei Kant ein Den­ken der Re­vo­lu­ti­on?

I.

Der spa­ni­sche Meis­ter­den­ker Don José Or­te­ga y Gas­set hat die – zu­nächst pa­ra­dox er­schei­nen­de – Wende, mit der Kant der eu­ro­päi­schen Me­ta­phy­sik eine neue Be­stim­mung an­wies, ein­mal so be­schrie­ben: »Uns Men­schen des Mit­tel­meers, die wir der Kon­tem­pla­ti­on ge­neigt sind, wird es immer ver­blüf­fen, daß Kant, an­statt zu fra­gen: Wie muß ich den­ken, damit mein Ge­dan­ke sich dem Wirk­li­chen an­pa­ßt?, sein Pro­blem im Ge­gen­teil so for­mu­liert: Wie muß die Rea­li­tät be­schaf­fen sein, damit Er­kennt­nis, d.h. Be­wusst­sein, d.h. ich, mög­lich sei?« (Or­te­ga y Gas­set, 1978.2, S. 438). Das nach­zu­voll­zie­hen er­for­dert zu­al­ler­erst eine fun­da­men­ta­le In­fra­ge­stel­lung des her­kömm­li­chen – car­te­sia­ni­schen – Sub­jekt­be­griffs. Kant kon­stru­iert jetzt ter­mi­no­lo­gisch neu eine Dif­fe­ren­zie­rung ins Sub­jekt, indem er in ihm eine zu­gleich em­pi­ri­sche und eine tran­szen­den­ta­le Di­men­si­on iden­ti­fi­ziert. Diese Er­wei­te­rung im Sub­jekt­be­griff durch Kant wür­digt auch Or­te­ga y Gas­set, – weil nur so das Sub­jekt, das Ich, in­ner­lich (und an­thro­po­lo­gisch) teil­hat an »der Sphä­re des Uni­ver­sal­geis­tes.« (Or­te­ga y Gas­set, 1978.1, S. 336).

»Die Tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phie« also, so heißt es bei Kant, »be­trach­tet nicht die Ge­gen­stän­de, son­dern das mensch­li­che Ge­müth nach den Quel­len, wor­aus in ihm die Er­kennt­nis aprio­ri ab­stammt und deren Gren­zen.« (Werke, AA, Bd. 18, Refl.-Nr. 4873)

Kants neue, jetzt tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phisch ge­nann­te, Den­kungs­art will etwas an­de­res als die bis­he­ri­ge Me­ta­phy­sik, ge­ra­de nichts tran­szen­den­tes, nichts mehr re­fe­renz­lo­ses, keine bloß reine Ver­nunft mehr, son­dern Kant will eine welt­haf­te Phi­lo­so­phie, eine Phi­lo­so­phie aus Welt­be­grif­fen, er will der Erde treu blei­ben, also: Kant be­gibt sich, wie er das sel­ber sieht, phi­lo­so­phisch »nicht [in] die uns un­be­kann­ten Ge­gen­den jen­seits der Sin­nen­welt, son­dern [in] den dunk­len Raum un­se­res ei­ge­nen Ver­stan­des.« (Werke, AA, Bd. 18, Refl.-Nr. 5112)

Das lässt Kant zu jener grund­sätz­li­chen Dif­fe­ren­zie­rung im Ding-Be­griff kom­men –‚ ›Dinge, an-sich-selbst-be­trach­tet‹ ver­sus ›Er­schei­nung‹ –, die die Er­kennt­nis von Din­gen künf­tig nicht mehr ding­lich (sub­stan­ti­ell) ver­sucht, son­dern funk­tio­nal, also ab­hän­gig macht von einem sub­jekt­ver­mit­tel­ten Kon­struk­ti­ons­vor­gang, den die tran­szen­den­ta­le Sub­jek­ti­vi­tät or­ga­ni­siert.

In spä­ten Brie­fen und No­ta­ten hat Kant ge­ra­de das sei­nen Ge­sprächs­part­nern immer wie­der mit ähn­li­chen Wen­dun­gen bei­zu­brin­gen ver­sucht, so etwa mit der wie­der­holt vor­kom­men­den Wen­dung: »Denn nur das, was wir selbst ma­chen kön­nen, ver­ste­hen wir aus dem Grun­de.« (Werke, AA, Bd. 12, S. 56). Oder, wie Kant in einem Brief be­tont, dass wir »nur das ver­ste­hen und An­de­ren mit­tei­len, was wir selbst ma­chen kön­nen.« (Werke, AA, Bd. 11, S. 515).

Und noch in sei­nem Opus pos­tu­mum heißt es: man solle es sich be­greif­lich ma­chen, »daß wir nichts ein­se­hen, als was wir selbst ma­chen kön­nen. Wir müs­sen uns aber selbst vor­her ma­chen. (…) ›Selbst­set­zung‹.« (Kant, 1920, S.611)

Kurz­um: Das Neue des Kan­tia­nis­mus kommt treff­lich in einem Dik­tum aus dem (Je­na­er) Zen­trum des Kan­tia­nis­mus jener Tage zum Aus­druck: »Das ächte Den­ken er­scheint, wie ein Ma­chen – und ist auch sol­ches.« (No­va­lis, 1983, S. 404)

Die­ser As­pekt des Kon­stru­ie­rens, des Her­stel­lens wird dann das ganze künf­ti­ge Pro­gramm der Re­form der Me­ta­phy­sik durch Kant ent­schei­dend prä­gen.

Kant hat für die­ses Ver­fah­ren ein Vor­bild: Die un­be­streit­ba­ren Ge­wi­ßhei­ten der Ma­the­ma­tik oder der Phy­sik als Wis­sen­schaft schie­nen in ihrer ›syn­the­ti­schen‹ Ver­fasst­heit be­grün­det zu sein. Und des­halb: »Trans­cen­den­tal-Phi­lo­so­phie ist die­je­ni­ge Wis­sen­schaft die nicht an­ders als in Ver­bin­dung mit Ma­the­ma­tik mög­lich ist.« (Werke, AA, Bd. 23, S. 488). Es war ja ein wis­sen­schafts­theo­re­ti­sches Es­sen­ti­al Kants, zu ver­mu­ten, daß eine Wis­sen­schaft genau so viel Wis­sen­schaft in sich habe, wie Ma­the­ma­tik in ihr sei. »Das We­sent­li­che und Un­ter­schei­den­de der rei­nen ma­the­ma­ti­schen Er­kennt­niß von aller an­dern Er­kennt­niß a prio­ri ist, daß sie durch­aus nicht aus Be­grif­fen, son­dern je­der­zeit nur durch die Con­struk­ti­on der Be­grif­fe vor sich gehen muß.« (Werke, AA, Bd. 4, S. 272). Die Er­kennt­nis-Kom­pe­tenz der Ma­the­ma­tik be­merkt Kant also darin, wie sie ihre Er­kennt­nis­se be­grün­det, d.h. kon­stru­iert.

Damit hat Kant die Phi­lo­so­phie als kri­ti­sche wie­der an­schluss­fä­hig ge­macht an das, was wir von heute her den Dis­kurs der Mo­der­ne nen­nen. Denn, wie schon zeit­ge­nös­sisch ge­lobt wurde: »Alles leere Phi­lo­so­phi­ren ist durch Kant ver­bannt.« (Leip­zig 1805, Sp. 10).

Diese Wende der Tran­szen­den­tal­phi­lo­so­phie zu einem in­te­gra­ti­ven Sub­jekt, das, wie­der in den Wor­ten Or­te­gas, zu­gleich es selbst und seine Um­stän­de ist, ent­fal­tet von nun an ganz neue Di­men­sio­nen für die Ope­ra­tiv­kräf­te im Sub­jekt, im Men­schen. Es ist also die­ses Neue »Sub­jekt, wel­ches das Sein in die Welt setzt; ohne Sub­jekt gibt es kein Sein.«(Or­te­ga y Gas­set, 1978.2, S. 450).

Damit ent­wi­ckelt Kant einen Sinn dafür, was man das tä­ti­ge Selbst­ver­hält­nis des Men­schen nennt. Er ver­steht Sub­jek­ti­vi­tät neu als eine ›Sub­jekt-Ob­jekt-Syn­the­sis‹, mit der Kant das alte Ich und des­sen alte ein­ge­bil­de­te All­macht wie auch die alte skep­ti­sche Un­si­cher­heit ver­ab­schie­den kann. Und womit etwas in Er­schei­nung tritt, »das Kant die all­ge­mein­gül­ti­ge Welt nennt, das heißt die­je­ni­ge, die für alle gilt.« (Or­te­ga y Gas­set, 1978.6, S. 102)

II.

Mit die­ser Wende zu einer neuen welt­haf­ten Sub­jek­ti­vi­tät las­sen sich nun Welt- und Wirk­lich­keits­zu­sam­men­hän­ge neu er­schlie­ßen. Vor allem sol­che, die un­mit­tel­bar mit dem prak­ti­schen Wir­ken von Men­schen (und nicht nur dem Er­ken­nen) zu tun haben. Davor muss­te man bis­lang er­kennt­nis­phi­lo­so­phisch die Waf­fen stre­cken. Ex­em­pla­risch kommt das in einem ge­schichts­phi­lo­so­phi­schen Stoß­seuf­zer Les­sings zum Aus­druck: »O Ge­schich­te! Was bist du?« (Les­sing, 1897, Bd. 13, S. 404).

So ist es nur auf den ers­ten Blick über­ra­schend, dass sich auch Kant einem zu­nächst so chao­ti­schen (und theo­rie­fer­nen) his­to­ri­schen Vor­gang wie dem einer Re­vo­lu­ti­on ver­ste­hend zu­wen­det.

»Die Re­vo­lu­ti­on eines geist­rei­chen Volks, so schreibt Kant in einer sei­ner letz­ten Druck­schrif­ten, »die wir in un­se­ren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag ge­lin­gen oder schei­tern, sie mag mit Elend und Greu­elt­ha­ten der­ma­ßen an­ge­füllt sein«, dass man »das Ex­pe­ri­ment auf sol­che Kos­ten« nicht zum zwei­ten­ma­le un­ter­neh­men würde, sie be­zeu­ge den­noch »eine mo­ra­li­sche An­la­ge im Men­schen­ge­schlecht.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 85)

Die Re­vo­lu­ti­on ist also nicht, wie noch für den deut­schen Ja­ko­bi­ner Georg Fors­ter, »an­zu­se­hen als ein Werk der Ge­rech­tig­keit der Natur« (An­na­len, 1791, S. 242) – also ge­wis­ser­ma­ßen ›ob­jek­ti­vis­tisch‹. – Für Kant ist sie sub­jekt­be­stimmt, men­schen­ge­macht, sie ist, mit einem neuen Be­griff von ihm, al­ler­erst ein ›Ge­schichts­zei­chen‹.

1.

Was meint Kant mit die­sem Ter­mi­nus ›Ge­schichts­zei­chen‹? Damit will er be­greif­lich ma­chen, dass es bei be­stimm­ten (sel­te­nen) ge­schicht­li­chen Kon­stel­la­tio­nen dazu kom­men kann, dass sie nicht ein­fach re­gel­lo­se Ver­läu­fe oder auch Be­schleu­ni­gun­gen re­prä­sen­tie­ren, son­dern dass in ihnen plötz­lich so etwas wir eine (his­to­ri­sche) Selbst-Re­fle­xi­on statt­fin­det, – und zwar über drei­er­lei: a. über Grün­de ihres Her­kom­men, b. über die der Ge­gen­wart und c. über Mög­lich­keit des Zu­künf­ti­gen. – Wenn wenig spä­ter Hegel so etwas wie den ›Welt­geist‹ kon­stru­iert, iegt die­sem Kants ›Ge­schichts­zei­chen‹ be­griffs­ge­schicht­lich zu­grun­de.

Für Kant ist jenes Er­eig­nis in Paris zu­nächst – so­zu­sa­gen kon­traf­ak­tisch – ein Si­gnum, wie Ver­nunft und Frei­heit, für etwas Nicht­an­schau­li­ches, Über­em­pi­ri­sches. Also ein Hin­weis, wie Kant sagt, eine »An­zei­ge auf ein über­sinn­li­ches Sub­strats.« (Werke, AA, Bd. 5, S. 196). Dort in Paris wird weder auf einen Na­tur­me­cha­nis­mus noch auf ein Glau­bens­gut, wie etwa »ein Zei­chen des Him­mels« (Mat­thä­us 16, 1) hin­ge­wie­sen. Die Große Re­vo­lu­ti­on der Fran­zo­sen ist ihm ein – vom po­li­ti­schen All­tag durch­aus ab­ge­ho­be­nes – Zei­chen für eine ganz ei­ge­ne, über­grei­fen­de »Ten­denz des mensch­li­chen Ge­schlechts im Gan­zen.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 84) – Aber Ten­denz wofür?

2.

Diese Re­vo­lu­ti­on war für Kant nicht des­halb in­ter­es­sant, weil es hier Ten­den­zen gab, be­son­ders ent­schlos­sen und kalt­blü­tig eine neue (etwa an­ti­kle­ri­ka­le, he­do­nis­ti­sche) eman­zi­pier­te Le­bens­art für alle zu in­stal­lie­ren oder weil hier in noch nie ge­kann­ter Ra­di­ka­li­tät die For­men der alten Herr­schaft und ihrer Kul­tur zer­stört wur­den; auch nicht weil hier das ›Blaue vom Him­mel‹ ver­spro­chen wurde. Diese Re­vo­lu­ti­on be­zeu­ge auch kei­nen – im Bild vom Rad-der-Ge­schich­te sym­bo­li­sier­ba­ren – un­auf­halt­sa­men Fort­schritt des Men­schen­ge­schlechts zum Bes­se­ren.

Das­je­ni­ge, was Kant in der all­ge­mei­nen An­teil­nah­me für diese Re­vo­lu­ti­on eben als jene mo­ra­li­sche An­la­ge von uns Men­schen be­greift, meint zwei­er­lei: (a) unser Un­be­ha­gen mit jeder dürf­ti­gen, man­gel­haf­ten Herr­schafts- & Rechts­kul­tur, und (b) eine Herr­schafts­form für mach­bar (und ver­nünf­tig) zu hal­ten, die einem jeden – wel­chen Stan­des er auch sei – seine ur­sprüng­li­chen, un­ver­äu­ßer­li­chen und glei­chen Men­schen­rech­te ga­ran­tiert. In einer Notiz be­kennt Kant: »Auf die Rech­te der Men­schen kommt [es] mehr an, als auf die Ord­nung (und ruhe). Es lässt sich eine große Ord­nung und ruhe bey all­ge­mei­ner Un­ter­drü­ckung stif­ten.« (Werke, AA, Bd. 15.2, Refl.-Nr. 1404).

Ist das nicht als ›Apo­theo­se‹ des Um­stur­zes zu ver­ste­hen? – Nein, denn Kant macht es ge­ra­de dem Re­vo­lu­tio­när, dem, der nun jene mo­ra­li­sche An­la­ge im Men­schen­ge­schlecht durch seine Tat frei­set­zen soll­te, be­son­ders schwer. Denn vor diese Tat (men­schen­freund­lich hin oder her) setzt Kant eine große Hürde: das Ver­bot des Wi­der­stands­rechts.

Kant er­läu­tert dazu: »Die Po­li­tik dem Recht zu ac­co­mo­diren ist gut und nütz­lich, aber um­ge­kehrt falsch und ab­scheu­lich. Das ge­fähr­lichs­te aller Ex­pe­ri­men­te ist die ge­walt­sa­me Ver­än­de­rung oder viel­mehr Um­wand­lung der Staats­ver­fas­sung.« (Kant, 1992, S. 117)

3.

Ge­fähr­lich, warum? Eben darum, weil, wie Kant er­läu­tert, »einen feh­ler­haft und rechts­wied­rig ein­ge­rich­te­ten Staat durch Re­vo­lu­ti­on um­for­men zu wol­len [ dann ] der­sel­be gänz­lich in An­ar­chie auf­ge­löst zu wer­den Ge­fahr läuft.« (Werke, AA, Bd. 23, S. 183). Die prak­ti­sche Folge ist dann die Rück­ver­wand­lung des mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens aus einem (wenn auch dürf­ti­gen) Rechts­zu­stand in den Na­tur­zu­stand. Das aber ist der »Zu­stand der Recht­lo­sig­keit« (Werke, AA, Bd. 6, S. 312), in dem sich na­tur­wüch­sig eine Ge­walt­kul­tur der ver­schie­de­nen (po­li­ti­schen, re­li­giö­sen oder an­de­rer) Ge­mein­schaf­ten oder Zweck­ver­bän­de un­ter­ein­an­der und ge­gen­ein­an­der Platz schafft. Denn deren in­ter­ne Ver­hal­tens­re­geln (auch wenn sie die viel­leicht cha­ris­ma­ti­schen oder re­li­giö­sen Schrif­ten ent­leh­nen) ent­beh­ren das Ent­schei­den­de, das diese Ver­hal­tens­vor­schrif­ten erst zu ›Recht‹ wer­den las­sen könn­te: ihre kon­fes­sio­nell, eth­nisch, aber auch so­zi­al neu­tra­le All­ge­mein­gül­tig­keit, d.h. ihre allen un­ter­schied­lich Ver­schie­de­nen in der Ge­sell­schaft zu­mut­ba­re Ver­bind­lich­keit. Die aber ist eben be­grün­det im For­ma­len des Neuen Rechts.

Eine durch Um­stür­ze un­aus­weich­li­che Re­gres­si­on von Ge­sell­schaft zu­rück in Ge­mein­schaft ist für Kant wegen sei­nes welt­bür­ger­li­chen Men­schen­be­griffs in­ak­zep­ta­bel. Denn, wie er schreibt, der Mensch »ist ohne Ge­sell­schaft sich selbst nicht hin­rei­chend.« (Werke, AA, Bd. 15.2, Refl.-Nr. 1452)

Der Re­vo­lu­tio­när agiert und schafft also in einem rechts­prak­ti­schen ›Nie­mands­land‹. Zu sei­ner ab­sichts­vol­len Zer­stö­rung der über­kom­me­nen Rechts­ord­nung kann ihm durch kei­ner­lei Ge­sin­nungs- oder Macht­wil­len ir­gend­ein Recht zu­ge­bil­ligt wer­den, auch wenn er sich – pa­the­tisch – durch (wo­mög­lich ›hö­he­re‹) Ge­rech­tig­keit‹ be­wegt ver­steht.

Ver­bie­tet Kant also sol­che Ver­än­de­run­gen? Aber­mals nein! – In sei­nem Dia­log mit dem Um­stürz­ler (des­sen prak­ti­sche Au­to­no­mie eben­falls nicht in Frage ge­stellt wer­den darf) ak­zep­tiert Kant, das die­ser so­wie­so tun wird, was er tun muss. Kant will nur den wi­der­spruchs­vol­len und – im Mo­ment des Tuns! – rechts­fer­nen, auch schre­cken­er­zeu­gen­den Sinn sei­nes Tuns – la ter­reur – pu­blik ma­chen. Kant will dem Um­stürz­ler zu Be­den­ken geben, dass er nichts Pa­ra­do­xes wol­len kann: näm­lich ein Recht, um das Recht ab­zu­schaf­fen. Das wäre, wenn es so etwas wie Ver­nunft gibt, ver­nunft­wid­rig. Es wäre – ju­ris­tisch ge­spro­chen – legis cor­rup­tio.

4.

Das ist aber immer noch nicht das letz­te Wort Kants zur Re­vo­lu­ti­on. Denn er ist kein Schul­meis­ter (son­dern, wie Wal­ter Ben­ja­min sagt, die ›Mitte zwi­schen Volks­tri­bun und Schul­meis­ter‹…).

Kant weiß: Tun und Den­ken sind nicht sym­me­trisch. Das Tun, die Pra­xis hat immer einen Über­schuss auf ihrer Seite. Es ist der für Kant zen­tra­le Syn­the­sis-Ge­dan­ke, der im Tun (auch im äu­ßer­li­chen der Pra­xis) eine ge­wis­se Form­be­stimmt­heit ent­fal­tet, ge­ra­de dar­auf setzt er. Er zeigt dem Re­vo­lu­tio­när einen schma­len Aus­weg. Die­ser kann sich le­gi­ti­mie­ren, aber nur dann, wenn er eines schafft: auf einen Zu­stand hin­zu­wir­ken, ihn her­zu­stel­len »wo es auf das Hei­ligs­te, was unter Men­schen nur sein kann (aufs Recht des Men­schen) an­kommt.« (Werke, AA, Bd. 6, S. 304). – So be­stimmt Kant dann sein all­ge­mei­nes Rechts­ge­setz: »hand­le äu­ßer­lich so, dass der freie Ge­brauch dei­ner Will­kür mit der Frei­heit von je­der­mann nach einem all­ge­mei­nen Ge­setz zu­sam­men be­ste­hen könne.« (Werke, AA, Bd. 6, S. 231) Die­ser Be­griff des Rechts »geht gänz­lich aus dem Be­griff der Frei­heit im äu­ßer­li­chen Ver­hält­nis der Men­schen zu­ein­an­der her­vor und hat gar nichts mit dem Zwe­cke, den alle Men­schen na­tür­li­cher­wei­se haben und … der Mit­tel dazu zu ge­lan­gen zu thun.« (Werke, AA, Bd. 8, S. 289) Das ist in­halt­lich iden­tisch mit Ar­ti­kel 4 der ›Er­klä­rung der Rech­te des Men­schen und der Bür­ger‹ vom 26. Aug. 1789 (aus Paris).

Diese in der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on sicht­bar ge­wor­de­ne mo­ra­li­sche An­la­ge un­se­rer Gat­tung – das uni­ver­sel­le, sä­ku­la­re und for­ma­le Recht als Le­bens­form – be­grüsst Kant eben in der neuen Ci­to­yen-Ver­fas­sung, die ver­nünf­ti­ger­wei­se keine an­de­re Form als »die re­pu­bli­ca­ni­sche« (Werke, AA, Bd. 7, S. 85) haben kann, – also Ge­wal­ten­tei­lung als neuer Herr­schafts­all­tag.

Kants neuer Rechts­be­griff ver­langt vom Men­schen nicht mehr über­grei­fend Sub­ord­i­na­ti­on unter eine hö­he­re Macht (gleich ob sie sich als gött­lich, na­tür­lich oder ge­schicht­lich le­gi­ti­miert), son­dern ent­spricht – als mo­ra­li­sche Ver­kehrs­form – der Dia­log- und Ope­ra­tiv­na­tur der Neuen (tran­szen­den­ta­len) Sub­jek­ti­vi­tät, die ge­ra­de mit jener Re­vo­lu­ti­on (em­pi­risch) in die Welt tritt. – Hier ver­mag Kant sogar noch etwas prak­ti­sches am Re­vo­lu­tio­när und des­sen Macht­wil­len zu wür­di­gen, näm­lich seine Ent­schlos­sen­heit, vor der »selbst der Ehr­be­griff des alten krie­ge­ri­schen Adels … ver­schwand – vor den Waf­fen derer, wel­che das Recht des Volks, wozu sie ge­hör­ten, ins Auge ge­fasst hat­ten und sich als Be­schüt­zer des­sel­ben dach­ten.« (Werke, AA, Bd. 7, S. 86)

Der neue (hoch­for­ma­le) Rechts­be­griff, den Kant aus der Re­vo­lu­ti­on her­aus­buch­sta­biert, trägt dazu bei, die in jedem Men­schen be­merk­ba­re All­ge­mein-Mensch­lich­keit all­täg­lich zu ma­chen.

5.

Dazu, dass Kant in der Fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on ein Ge­schichts­zei­chen wahr­nahm, ge­hört also, dass mit ihr – eben mit Recht und Re­pu­bli­ka­nis­mus – »eine An­la­ge und ein Ver­mö­gen in der mensch­li­chen Natur zum Bes­se­ren auf­ge­deckt« (Werke, AA, Bd. 7, S. 88) wer­den.

Die­ses – pa­ra­do­xer­wei­se – in un­si­che­ren Zei­ten in Er­schei­nung tre­ten­de Ver­mö­gen sta­bi­li­siert sich so­fort zu einer die Zei­ten über­dau­ern­den Gel­tung. »Denn ein sol­ches Phä­no­men in der Men­schen­ge­schich­te«, so be­haup­tet es Kant, »ver­gisst sich nicht mehr«, auch da­durch nicht, da hier »Natur und Frei­heit, nach in­ne­ren Recht­sprin­ci­pi­en im Men­schen­ge­schlech­te ver­ei­nigt« (Werke, AA, Bd. 7, S. 88) be­greif­bar wer­den.

Auch wenn an kon­kre­ten Re­vo­lu­tio­nen stets vie­les zu wün­schen übrig bleibt, so bleibt aber Kants Über­zeu­gung le­ben­dig, einen Grund für eine mo­ra­li­sche Ten­denz im Men­schen­ge­schlecht ge­fun­den zu haben: Und zwar ge­ra­de in un­se­rer Denk­frei­heit. Mit Kant ge­sagt: »man reift für die Ver­nunft nie an­ders, als durch ei­ge­ne Ver­su­che (wel­che ma­chen zu dür­fen, man frei sein muß).« (Werke, AA, Bd. 6, S. 188)

Fazit

Wenn also aus der Per­spek­ti­ve der Kan­ti­schen Kri­ti­schen Phi­lo­so­phie auf un­se­re be­dürf­ti­ge Ge­gen­wart ge­blickt wer­den soll, las­sen sich zwei Kon­se­quen­zen si­cher zie­hen:

  1. Es ist das Sub­jek­ti­vi­täts- & Rechts­ver­ständ­nis Kants, das uns ge­ra­de in der Tur­bu­lenz von Re­vo­lu­tio­nen an­hal­ten soll­te, immer wie­der die Frage nach-al­lem-was-recht-ist öf­fent­lich zu stel­len. Dabei ist öf­fent­lich eine Zen­tral­ka­te­go­rie sei­nes Den­kens – Kant spricht vom tran­szen­den­ta­len Prin­zip der Pu­bli­zi­tät, also von deren be­grün­den­der Kom­pe­tenz.
  2. Zum zwei­ten gilt es, den Fokus all der neuen Um­wäl­zungs­ab­sich­ten künf­tig auf das Eine zu rich­ten – das Wich­tigs­te, das man sich von Re­vo­lu­tio­nen zu er­hof­fen immer ver­ge­gen­wär­ti­gen soll­te –, dass »die freie Ent­wick­lung eines jeden die Be­din­gung für die freie Ent­wick­lung aller ist« (Marx 1964, S. 482) – und nicht um­ge­kehrt –, um ab­schlie­ßend noch mal jenen So­zi­al­phi­lo­so­phen aus Trier zu Wort kom­men zu las­sen, da des­sen Den­ken exis­ten­ti­ell (und tra­gisch) mit dem der Re­vo­lu­ti­on ver­bun­den war.

Vor­trag, ge­hal­ten in der Bot­schaft der Bo­li­va­ri­schen Re­pu­blik Ve­ne­zue­la, Ber­lin, am 30. April 2013.

 

Li­te­ra­tur

Kants Werke wer­den nach der Aka­de­mie-Aus­ga­be, Ber­lin 1902 ff., zi­tiert: AA, Bd., S.
JOH. W. v. AR­CHEN­HOLTZ (Hg.), An­na­len der brit­ti­schen Ge­schich­te, Bd. 5, 1791 o.J.
KANTs Opus pos­tu­mum, dar­ge­stellt und be­ur­teilt von Erich Adi­ckes, Ber­lin 1920 [Kant-Stu­di­en, Er­gän­zungs­hef­te 50]
KANT, Der Streit der Fa­kul­tä­ten, hrsg. v. Stef­fen Dietzsch, Leip­zig 1992
Ueber Im­ma­nu­el Kant, in: Der eu­ro­päi­sche Auf­se­her, I. Jg., Leip­zig, 4. Jan.1805 (Leip­zig 1805)
LES­SING, Ernst und Falk. - Sämt­li­che Schrif­ten, hg. v. Karl Lach­mann u. Franz Muncker, Bd. 13, Leip­zig 1897
MARX, Das phi­lo­so­phi­sche Ma­ni­fest der his­to­ri­schen Rechts­schu­le, MEGA, I. Abt., Bd. 1, Ber­lin 1975
MARX, Ma­ni­fest der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, MEW, Bd. 4, Ber­lin 1964
NO­VA­LIS, Das All­ge­mei­ne Brouil­lon. Schrif­ten, hg. v. Paul Kluck­hohn u. Ri­chard Sa­mu­el, Bd. 3, Stutt­gart 1983
OR­TE­GA Y GAS­SET, Kant – Re­fle­xio­nes de cen­te­n­a­rio (1724 – 1924). Ge­sam­mel­te Werke, Bd. 2, Stutt­gart 1978
OR­TE­GA Y GAS­SET, Vi­ta­li­tät, Seele, Geist. Ge­sam­mel­te Werke, Bd. 1, Stutt­gart 1978
OR­TE­GA Y GAS­SET, Reine Phi­lo­so­phie. Ge­sam­mel­te Werke, Bd. 2, Stutt­gart 1978
OR­TE­GA Y GAS­SET, Der Mensch und die Leute. Ge­sam­mel­te Werke, Bd. 6, Stutt­gart 1978
SCHEL­LING, Im­ma­nu­el Kant †. - Sämmt­li­che Werke, Bd. 6, Stutt­gart/Augs­burg 1860

 

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