Realitäten in Rivettes Film »Céline et Julie en bateau«
Der genannte Film stellt sich dem Thema »Medialität generiert Realität« auf verschiedenste Weise. Er beginnt auf der Ebene der Identitätskonstruktion durch die gegenseitige Bezauberung zweier junger Frauen in der Konstellation reiner Intersubjektivität, oder anders gesagt einer »folie à deux«. Am Beginn steht die doppelte Magie/Bezauberung: Julie, die Bibliothekarin, liest ein Buch über Magie, Céline trägt sich im Hotel als »magicien« ein und tritt im Variété als Zauberin auf.
Céline verliert in einem offenbar derangierten Zustand Gegenstände, die auf Julie als Köder wirken, Céline zu verfolgen. Die verlorenen Gegenstände (Sonnenbrille, Halstuch, Puppe) werden von Julie nach und nach angeeignet, sie setzt die Sonnenbrille auf, sie tut das Halstuch um, und die Puppe erscheint später in ihrer Truhe. Die gegenseitige Bezauberung führt zu einem zunächst spielerischen Identitätstausch inclusive der Aneignung der identitätsverbürgenden fremden Vergangenheiten.
Offenbar will sie sich aber auch so nach und nach verfolgen lassen. Beide ziehen ihre Schuhe aus. Doch als sie das erste Mal miteinander reden, wird Céline als »Mademoiselle« angeredet und antwortet noch entfremdender mit »Monsieur«. Tarot-Szene mit der anderen Bibliothekarin: nun ist Céline gefolgt und beobachtet Julie. Sie tun Ähnliches: Fingerabdrücke (Julie) und Handumriß nachziehen (Céline). Eine andere Zeichnung Célines in einem Kinderbuch wird von Julie herausgerissen, angeeignet und an ihrem Busen verborgen. Identitätsfestestellungen: Céline lügt ganz offensichtlich. (Der Kaiser der Pygmäen habe ihr einen Tiger geschenkt, der Teil von Afrika, in dem sie war, heißt Bengalen) Sie sagt, sie habe früher rote Haare gehabt (wie Julie), jetzt aber wieder »normal«. Céline erzählt von einem Job als Kindermädchen in einem Haus mit Frauen in einer geheimnisvollen Beziehung. Auf dieser Ebene ist das eine ihrer Lügen, bzw. Phantasiegeschichten. Julie tut etwas in den Saft, von dem beide trinken. Julie will die Adresse des geheimnisvollen Hauses, Céline sagt, sie habe sie ihr gestern gegeben, wovon der Zuschauer nichts weiß, und Julie »erinnert« sich und geht dorthin. Céline nimmt am Telefon die Rolle von Julie an und verabredet sich mit deren Jugendfreund.
Julie sucht das Haus auf, von dem Céline erzählt hat, es ist zugleich das Haus, von dem sich ein Photo in Julies Truhe befindet. Célines Phantasie wird zur Realität, die Julie aufsucht. Céline erfindet bei ihrem Treffen eine gemeinsame Vergangenheit mit Guillon, nun hat sie (eine Perücke von) rote Locken wie Julie.
Nach der Rückkehr aus dem Haus torkelt Julie wie zuvor Céline; sie entdeckt ein Bonbon in ihrem Mund. Céline erzählt vor ihren Freunden von ihrer reichen Freundin aus Amerika, keiner glaubt ihr, sie sagt, diese habe aus ihr eine Pygmalia machen wollen, um sie in die ganz große Gesellschaft einzuführen. Ab jetzt gibt es Einblendungen von Szenen aus dem Haus, aber wie wenn der Film eine Phantasie ins Bild setzt – blassere Farbgebung.
Céline tritt als Zauberin auf und wird dabei beobachtet. Julie weiß von Célines Angeberei. Aber Erinnerung ist eine Identitätsvergewisserung, auch eine erfundene. Die Szenen aus dem Haus haben an dieser Stelle die Funktion solcher fiktiven Erinnerungen. An dieser Stelle möchte Céline abhauen, sie kann es aber nicht, offenbar ist es schon zu spät dafür. Julie ersetzt nun die Magie durch die Imaginationen des Hauses. Sie vermutet, daß Céline zum Haus gegangen ist und geht auch dorthin; statt zu klingeln, sucht sie einen anderen Weg: Einbruchsversuch. Bei der Gelegenheit entdeckt sie am Hintereingang des Hauses ihre alte Kinderfrau, die ein problematisches Elternhaus von Julie offenbart. Rote Hand auf der Schulter, Bonbon im Mund und torkelnder Gang sind auch Célines Kennzeichen, als sie das Haus verläßt.
Später aber sind beide dieselbe Person Angèle, als Engelsassoziation immerhin eine Identität des Übergangs. Das geschieht auf einer Ebene, die zunächst wie eine phantastische Digression einer Realität als rein fiktionale Ebene eingeführt wird, an blasseren Farben erkennbar.
Sowohl Céline als auch Julie sind die Kinderschwester Angèle in dem Haus. Nun scheint es so, als wäre die rote Hand ein Zeichen der Ermordung von Madlyn, dem Kind.
Eingeführt als fiktionale Erzeugung einer gemeinsamen Vergangenheit, die niemals Gegenwart war, wird diese phantastische Welt aber zunehmend zur eigentlichen filmischen Realitätsebene. In filmisch medial erzeugter Repräsentation tritt diese Realitätsebene zunehmend an die Stelle der filmisch als real repräsentierte Realität und die Fiktionalität erzeugenden Realität. Erscheint das für den Zuschauer einfach als eine im Film erzeugte Substitution, die den Zuschauer und sein Zuschauen unbetroffen läßt, so ändert sich das an der Stelle, an der die substituierende neue Realität nun noch einmal gebrochen wird.
Selbst also in der emphatischen Zweierbeziehung J/C gibt es wenigstens phantastisch die Dritten. J/C haben Madlyn, die zwischen zwei Zweierbezieungen der zwei Frauen um den Mann im Haus stehen, und wiederum mit der verstorbenen Frau des Mannes verbunden sind. Die verstorbene Frau hatte von ihrem Mann das Gelübde abgenommen, daß er nicht heiraten werde, solange Madlyn noch nicht erwachsen sei. Die immer zurückgesetzte Schwester der Verstorbenen (die ausgeschlossene Dritte) macht sich nun Hoffnungen auf den Mann und sagt, ein solches Gelübde hätte man niemals jemandem abnehmen dürfen, aber die andere Frau war Zeugin des Gelübdes (eine Dritte). Aufgrund des Treffens mit Céline (in der Rolle von Julie) macht Grégoir (Guillon) am Telefon Schluß mit Julie (ausgeschlossener Dritter aus J/C), umgekehrt tritt Julie im Variété in die Rolle von Céline und verdirbt alles. Aber in der Gestalt von Angèle sind beide dieselbe. Alle Szenen im Hause wiederholen sich: Bruchstücke, die sich nach und nach zu einer Geschichte zusammenfügen. In der Bibliothek stehlen beide ein Buch, um die Drogen selbst herzustellen: Wasser – Luft – Erde (dafür steht Petersilie ein Wortwechsel persil – esprit) – Feuer.
Die eine Person Angèle, die beide, zunächst abwechselnd, dann gemeinsam sind, wird durch die Figur des Dritten noch einmal gebrochen. Nun erscheint ihr Agieren als Agieren auf einer Bühne; sie benutzen eine Textvorlage für ihr Reden, ihnen muß aus einem Off souffliert werden, und sie erhalten Applaus aus einem unsichtbaren Publikum. Ab jetzt spielen die zwei die Rollen ihrer Halluzinationen, ja sie haben eine Textvorlage in der Hand, d.h. alles spielt sich auf einer Bühne ab. Ihr Ziel ist es, Madlyn vor der Ermordung zu erretten. Frage: Was ist wenn wir nicht wieder zurückkommen. Erstmals sieht man sie jetzt beide in der Rolle als Angèle in dem Haus.
Nun nimmt die Interpretation des Geschehens als Bühnengeschehen vorrangig Gestalt an, sie hat den Text vergessen und es gibt von irgendwoher Applaus.
Sie sind nun auf dem Theater und nicht mehr in einer phantastischen Erinnerung. Aber paradoxerweise sind sie für den Hausherrn, jedenfalls wenn sie beide zugleich als Angèle anwesend sind, unsichtbar.
Ab jetzt spielen sie ihr eigenes Spiel. Sie sind die Dritten in dem Bühnengeschehen. Sie versetzen alle in einen Dornröschen-Schlaf und entfliehen mit Madlyn.
Danach aber wachen sie auf – die Bühne sollte selbst nur ein gemeinsamer Traum gewesen sein? Aber Madlyn ist nun tatsächlich ein Teil der Realität geworden. Oder sind diese die einzigen Traumgestalten und das Haus ist die Realität? Vorschlußszene: J/C + Madlyn en bateau, aber in einem anderen Boot sind die anderen drei Gestalten aus dem Haus. Das sind aber zwei verschiedene Boote. Und die drei aus dem Haus sind merkwürdig unbeweglich / wie Tote.
Ab hier wird die Funktion der Figur des Dritten für die mediale Konstruktion der sozialen Realität offenkundig. Und der Zuschauer kann es nicht mehr vermeiden, sich selbst als eine mögliche Spielart dieser Figur des Dritten zu begreifen. Als solle dieser Film eine Widerlegung von Kracauers Filmtheorie sein, ist das Filmgeschehen nun nicht mehr einfach die Abschilderung einer, und sei es auch phantastischen Realität, sondern das Filmgeschehen wird direkt abhängig von der Möglichkeit des Zuschauers und seinen Interpretationsmöglichkeiten.
Wie Angèle (Julie und Céline) endlich für die Figuren der phantastischen Realität unsichtbar wird, ist der Zuschauer immer schon unsichtbar für das, was er sieht. Der Film reflektiert seine eigene Stellung als medial generierte Realität zwischen Zuschauer und filmischem Aktionsraum. Der Zuschauer, wenn er mitmacht in diesem von der Performanz des Films hervorgerufenen Spiel, wird sich seiner Interpretationskraft und auch der Notwendigkeit, sie auszuüben, inne, durch die er das Gesehene bewertet. So muß er sich z. B. entscheiden, ob vielleicht die phantasierte Welt die reale sein könnte und die zwei Frauen nur zwei verschiedene, letztlich konvergierende Medialitätsweisen ihrer Präsentation.
Die Vorgänge dieser Welt bleiben uneindeutig, wie auch die Schlußszene enthüllt, in der die Personen der phantasierten Welt in die phantasierende Welt eintreten, aber zugleich – unbeweglich wie Tote – eigentümlich fremd in einem anderen Boot an dem Boot der zwei Frauen vorbeigleiten, das Kind Madlyn aus dieser Welt jedoch als real geworden gedeutet werden kann. Das Medium, d.h. die Mitte zwischen dem Zuschauer und (seiner) Phantasie generiert Realität sui generis und ihre letztlich immer fiktionalen Strukturen und weist damit nachdrücklich darauf hin, was Derrida die »Abwesenheit des wirklichen Lebens« genannt hat.[ 1 ]
Schlußszene: revers der Eingangsszene: Julie kommt an Céline vorbei und verliert Gegenstände, vor allem ihr Buch über Magie.
[ 1 ] J. Derrida: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1976, p. 54.