3 KUNST Tränen Vision

Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, daß wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder über uns weinen…

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft)

Du weinst, doch rinnt die Träne nicht.
Ihr stellt des Leids Gebärde dar,
Ihr meine Kinder, ohne Leid!
So sieht der freigewordene Geist
Des Lebens überwundene Qual.
Was martert die lebendige Brust,
Beseligt und ergötzt im Stein…

Conrad F. Meyer, Michelangelo und seine Statuen

Du bist der Schmerz,
der fremde Augen meidet,
der, übertief, die eignen Augen schließt;
du bist der Schmerz,
der ohne Tränen leidet,
weil sich ihr Strom
nach innen stumm ergießt.

Chr. Morgenstern, Vor Michelangelos Sklaven

Der erste Versuch, mit der und durch Die grosse Mutter (Erich Neumann), unsere liebe Frau Kunst, die soziale Utopie des Schöpferischen zu verwirklichen, vollzog sich mehr oder weniger absichtslos im Anbeginn der Bewußtseinsgeschichte und Ursprungspoesie. In dieser Zeit verzauberte die Klangwelt der Natur den Urmenschen, dessen Urschreie seine Höhle durchtönten, sein Haus, unser All, das so alt ist wie die phantasievolle Fülle&Hülle der organischen Welt- und Schalenreiche. Mag sein, dass die Zivilisation einen anderen Weg gegangen wäre, hätte der Höhlenmensch das Lachen gekannt.

Der vorzivilisatorische Geist der Traumzeiten (Peter Duerr) bewohnte seine Mythen ohne Worte, ohne Schweigen. Seine Sehnsucht nach Gestaltbildung und einer sozial-individualisierten, beschützenden Kunst war schamanisch, manaenergetisch; er erschuf anikonische Zeichen, erste Abbilder und formte schließlich Figurinen, Muttergottheiten, Schutzfiguren. Dies war der Anbeginn der Transformation of Nature into Art (Anand Cooomarashwami) und der Ausdifferenzierung der Masken Gottes (Joseph Campbell, The Masks of God).

Das friedliche Vermächtnis der großen Mütter: Venus von Willendorf, Prajnaparamita, Garbadhatu, Petra Genetrix, Artemis von Ephesos, Camille Claudel, Käthe Kollwitz, Käthe Kruse, Frida Kahlo, Rosa Luxemburg, Mascha Kaléko, Meret Oppenheim, Rebecca Horn, Niki de Saint Phalle, Simone de Beauvoir, Lina Wertmüller, Magareta von Trotta, Margarete Mitscherlich, Marie Luise Kaschnitz, Pina Bausch, Martha Agerich, Juli Zeh ... verkündete und erweiterte den Möglichkeitsinn der Künste. Mein Atem heißt jetzt (Rose Ausländer).

Die kostbarsten Tränen sind die der Aufklärung. Der Herr über den Tau (Jacques Roumain) weint und bringt Fruchtbarkeit. Die Mutter erinnert den Schmerz, die Geburt, im Schoß die Freude, das Leid zukünftiger Tränen. Der Klang der Tränen in den Tönen der Leidenschaft.Die Träume kommen. Der Regen kommt, der irdische Hunger. Heiter bleiben, nicht sorglos.

Die soziale Utopie des Schöpferischen verlor spätestens dann einen wesentlichen Teil ihres Möglichkeitsinnes, als Kunstauftraggeber, weltliche Herrscher und klerikale Macht die Kunst zum Instrument ihrer Politik und Tränenkultur machten. Die Auftragskunst im Dienste der Reichen, Die Kunst des Krieges (Sun Zi), Die französische Kunst des Krieges (Alexis Jennis) ist niemals sozial-verträglich, utopisch und selten gerecht gewesen. Machthaber beauftragten die »freien« Künste mit der Erbauung ihrer Tränenpaläste, ließen sich von Licht und Bewußtsein durchflutete Tempel, Kathedralen der Verzauberung, Pyramiden, Paläste des Windes und verbotene Städte errichten.

Berühmte Malerfürsten, tränenlose Bildhauer ... Rodin, Breker ... suchten die Nähe der Herrschenden, erlangten staatliche Privilegien. Beruf oder Berufung. Kunstgeschehen folgt immer einem Auftrag. Das Universalgenie Leonardo malte unsichtbare Tränen der Leidenschaft und entwarf Waffen für die machiavellischen Fürsten von Mantua. In Adolf Menzels Kolossalgemälde Das Walzwerk sehen wir im zentralperspektivischen Fluchtpunkt der Halle ihren Besitzer stehen, den Auftraggeber des Kunstwerkes. In Menzels Gemälde Das Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci, nimmt Friedrich II. den zentralen Platz der Bedeutungsperspektive ein und spielt die Flöte, die erste Geige. Die auf Rembrandts Gemälde Nachtwache abgebildeten Kaufleute und Stadtväter zahlten je nach bedeutungsperspektivischer Stellung im Bilde ihren Obolus. Peter Greenaway hat diesem Gemälde mit Nightwatching ein filmisches Denkmal gesetzt.

Die Auftragskunst weltlicher und religiöser Politik wurde von der Devise bestimmt, die in André Thomkins Palindrom Dogma I am God anklingt. Manapersönlichkeiten trugen das von Künstlern entworfene Manakleid, Napoleon einen mit Bienen bestickten Krönungsmantel. In Fellinis Film Roma werden uns rollschuhfahrende Päpste auf einer Modenschau in allerschönster Ausstattung und Bewegtheit vorgeführt. Kunst der Vorführung und Verführungskunst. Die religiöse war und blieb immer zugleich ästhetische Instanz; sie repräsentierte durch die Kunst den Schein und die Scheinheiligkeit ihrer Geltungs- und Wirkungsformen. Sie zensierte, sie verbot. Die Werke in den Kunsthallen der Medici faszinierten die Betrachter, sie warben und glichen quasi begehbaren Filmen, erfüllten somit auch propagandistische Absichten. In dieser Tradition der Geschichte des Auges (George Bataille), mit ihren Ikonen des Schmerzes, der Sehnsucht und Lust, die uns George Bataille in seinem Kompendium DieTränen des Eros , die uns Bergmanns, Pasolinis und Almodóvars Filme vor Augen geführt haben, entwickelte sich das Cinema Paradiso (Giuseppe Tornatore), das Haus der Träume, das Kino: mit seinen Tränen der Aufklärung, seiner sehnsuchtverstärkenden Verdichtung und dramatisierenden Erhöhung der Gefühle. »Das Blut ist rot, der Wein ist rot, so rot war sein Gewand, er trugs nicht mehr, denn Blut und Wein bedeckten seine Hand, als man die Frau, die er geliebt, im Bett ermordet fand.« (Oscar Wilde, Ballade vom Zuchthaus zu Reading).

Heilige Maria der Schlachthöfe (B. Brecht). Seit die Schlachtgemälde laufen gelernt haben, fließt das Blut auf den Leinwänden reichhaltiger. In den Theater- und Konzertsälen werden die Wunder & Wunden der Zivilisation still und demutsvoll beweint. Noten & Nöte. Tränen der Reue, der Demut, der sublimierten Freude und des unsagbaren Schmerzes. In der Arena Erinnerung hallen Triumphmärsche, Totenlieder, Nachmittage eines Fauns nach. Das Auge folgt dem ungezähmten Tanz des Stieres, dem sterbenden Schwan, den getanzten Tränen der Ballerina.

In den Arenen der Welt, ihren blutgetränkten Schlachtfeldern und -häusern, werden tierisch lebendige Schlachtgemälde des Grauens inszeniert. Picassos Stierkampfpictogramme (vgl. Almodóvars Film Sprich mit ihr), Lovis Corinths Gemälde Geschlachteter Ochse, Upton Sinclairs Der Dschungel, Alfred Hrdlickas Anatomie des Leids, Kurt Vonneguts Schlachthof 7 haben Das blindgeweinte Jahrhundert (Marcel Beyer), die Tötungs- und Tränenlust thematisiert. »Denn jeder tötet, was er liebt, damit ihrs ja nur hört, der Feige tötet mit dem Kuss, der Tapfere mit dem Schwert. Der eine mordet sehnsuchtsvoll, der andere tränenbleich. Nur mutig der, der schnell zur Tat, denn schnell sind Tote kalt.« (Oscar Wilde, Ballade vom Zuchthaus zu Reding)

Die Ikonen des Schmerzes. Francisco de Goyas Die Erschießung der Aufständischen (vgl. Milos Formans Film Goyas Schatten), Théodore Géricaults Das Floss der Medusa, für das er zahlreiche Studien zu Kranken, Verletzten und Leichnamen in Pariser Krankenhäusern anfertigte, – Salome, die tränenlos den abgetrennten Kopf des Jochanaan auf dem Silberteller anstarrt – Edward Munchs Schrei – Bruce Naumanns videoeskes- Schmerzgesicht sind Beispiele offenbarter und demaskierter Kultur des Grauens. Sie vergegenwärtigten den Gott des Gemetzels (Theaterstück von Yasmina Reza) und die emotionale Panzerung der verwundeten Kreatur. Bruce Naumann wollte 1988 in seiner Installation Karussell die Bestialität gegenüber der Kreatur anprangern. Dafür montierte er Abgüsse deformierter Tierkadaver auf Eisenstangen und ließ sie rotieren.

Die unter die Haut gehende Kunst: Meret Oppenheimers Kunsttier, das nur noch aus atmender Pelzhaut besteht – Serners Kunsthaut tragende Tigerin – der in einer Wanne mit Zitteraalen badende Akt in Johannes Schaafs Traumstadt – (Film nach A. Kubins Roman Die andere Seite) – die Protagonistin, die im Polanski-Film Ekel tagelang ein gehäutetes Karnickel in ihrer Handtasche spazieren trägt, das sind Beispiele des dramatisierten Ausdruckes der durch die zivilisatorische Wildnis erzeugten Leidenschaften und Entfremdungsprozesse, die vor Augen geführt werden. Oder? gründet hier in fataler Konsequenz das eigene Fremde der Kunst und ihr Weltschmerz in einen kynischen Ästhetisierungszwang diesseits und jenseits der Emphatie? Überschreitet nicht der aus gegerbter Schweinehaut gefertigte Kunstmantel Katharina Moersebergers unsere Schmerzgrenze? Ist hier der Kunstdeuter aufgefordert, sich die dem Schwein abgezogene Haut überzuziehen: der Kunst Anzüge & Anzüglichkeiten? Und was sollen die plastinierten, die enthäuteten Leiber der Körperwelten Van Hagens uns veranschaulichen? Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegten Tierkadaver, seine auf Leinwand geklebten schimmernden Schmetterlinge?

Ist Josef Beuys’ Kunstaktion I like America and America likes Me, 1974 in der Galerie Block in New York vollzogen – Beuys ließ sich, auf dem Flughafen angekommen, völlig von Filzdecken umhüllt von einem Ambulanzwagen in die Galerie fahren, wo er mehrere Tage mit einem Kojoten namens »Little John« verbrachte –, ein Beispiel für das von der Kunst thematisierte Verhältnis von Tier und Mensch, hinterfragter Tiergehegekultur und artgerechter Haltung?

Den idealisierten Lieblings- und Schoßtieren der Kunst – Frau mit Hermelin, Hund, Äffchen, Mann hoch zu Roß in Heldenpose – stehen die musealen totroten Schlachtpferde, Dalís Brennende Giraffen, tierische Charaktere in Menschengestalt, Hundejahre, Wolfsblut, Der Richtplatz (Tschingis Aitmatow) gegenüber: die Jagdszenen der Trophäensammler, der tränenlose Affe Rotpeter, der seinen Bericht für die Akademie (Kafka) der Künste hält, des weiteren Manuel Puigs Roman Der Kuss der Spinnenfrau, mit William Hurt verfilmt – die Stilleben mit toten Tieren, eiserne Riesenspinnen, Peter Greenaways Film Z mit zwei Nullen (Z00), Zolas Bestie Mensch in Gavras Film Z (altgriechisch: er lebt).

Weint Zerebus der Höllenhund, der kynisch bellende, Zornestränen? Weint das vor der Schlachtung stehende Staats-Schwein Napoleon in Orwells Animalfarm? Wie tierisch ist Kultur, Kunstgeschehen in der uroborischen Schwanzbeißer-Zivilisation, die sich selbst frißt und zerfleischt, Schlachtplatten in alten Schlachthäusern ausstellt, Schlachtgesänge hören lässt?

Und was sollen uns beispielsweise nackte Menschen mit verbundenen Augen, an ein Holzkreuz gefesselt, mit Tierkadavern und Gedärmen eingerieben, die mit Blut, Samen und Tränen gemalten Hermann Nitsch-Gemälde und die rituellen Schlachtfeste der Wiener AAM-Kommune vermitteln, bei deren Anblick sich die Frage stellt, ob sie nicht schlichtweg Das Obszöne Werk (George Bataille) eines fehlinterpretierten Animalismus darstellen? Und im Namen der Kunst pervertierte Handlungen heiligsprechen, das Töten, das Abschlachten, die Lust an der Gewalt preisen und die Hemmschwelle der Brutalisierung herabsetzen, so wie es die Kunst tut, deren Werke von der Obszönität und Gewalt (Hans Peter Duerr) psychopathischer Motivation durchtönt ist?

Die Kultur des Wahrlügens speist mit ihren Kunst- und Krokodilstränen, ihren wassertreibenden Utopiaten und Bildschirmüberflutungen das ferngesehene Tal der Freuden&Tränen. Die Arbeitsgemeinschaft der Tränen- und Illusionsindustrie konstituiert Gefühlswelten, verstärkt Sehnsüchte und Vorurteile. Sie drückt auf die Tränendrüsen, schürt Ängste. Sie schickt ihre Glaubenssätze, ihre himmlichen Botschaften & Geschichtstränen auf Weltreise, ihre Engel für alle Fälle. Hilft das nicht mehr, werden Tränendüsenjäger zur Aufklärung eingesetzt, wird notfalls die Operation Fallender Engel eingeleitet.

Die Engelsmacher medialer Politik und politischer Ökonomie erschaffen die Madonna der Zukunft (Henry James). Christian Morgenstern mahnt: »Engel wölken leise aus der Wasser Schoss, lösen gross sich los nach Dämonenweise.«

Der kunstvolle Geist der Utopie – der durchlöcherte Dalí, der schwebende Barlach,der weinende Rilke-Engel der Elegien: »wer, wenn ich schrie, hörte mich denn« besingt, malt sie aus, diese Sehnsucht nach Frieden und Freiheit: »Komm mit deinem Scheine, süßes Engelsbild«. »Aber wirst du auch meiner gedenken, der dir gehöret mit Herz und mit Sinn, und eine Thräne der Wehmuth mir schenken, wenn ich nicht mehr unter Lebenden bin?« (Komische Oper Czaar und Zimmermann von Albert Lortzing).

Schau heimwärts Engel (Thomas Wolfe). Der Blaue Engel sentimentalisierte die zu erotischen Tränen gerührten Professoren – Lily Marlen rührte alle Soldaten. »Es steht ein Soldat am Wolgastrand..., sehnsuchtsvoll die Steppe schweigt, eine Träne ihm ins Auge steigt...« – »Weine nicht, kleine Eva...« – »Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen.« – »Cucurrucucú, Taube, Cucurrucucú, weine nicht. Taube, was werden diese Steine jemals von der Liebe wissen! Cucurrucucú, Cucurrucucú, Cucurrucucú, Cucurrucucú, Cucurrucucú, Taube, weine nicht mehr.« (Cucurrucucú Paloma, gesungen von Caetano Veloso).

Seit Jahrhunderten deklamieren die Knieenden der Kunst, Religion und Politik demonstrativ: We are all at wounded knees. Begeistert gingen amerikanische Soldaten in die Knie, als Marilyn Monroe für sie sang. Lehmbrucks Skulptur Die Knieende, Willy Brandts berrühmter Kniefall in Warschau oder Goethes Worte: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, wer nicht die kummervollen Nächte auf seinem Bette weinend saß, der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!« durchtönen das kollektive Gedächtnis.

Traditionen politischer Blendung & ideologischer Bildsprache, beispielsweise der filmisch inszenierte Triumph des Willens (Leni Riefenstahl), wurden in Holly- und Bollywoods Traumfabriken weiterentwickelt: die Kunst der geheuchelten Tränen. Der amerikanische Film Nachrichtenfieber – Broadcast, mit William Hurt in der Hauptrolle des gnadenlos schauspielernden TV-Moderators, der auf Kommando falsche Tränen des Mitgefühls hervorzaubert, klärt 1987 über die Hintergründe der Produktion von Fernsehnachrichten, über die Vermarktbarkeit von Nachrichten und die Degeneration des Fernsehjournalismus auf.

Die kinematografische APOcalypse now, die einst die Bombenangriffe auf Vietnam mit Beethovenklängen untermalte – sie hallt nach. Das Wiegenlied vom Totschlag. Tränengas-Einsätze wurden von den Tränenbeauftragten zur Friedensmission umbenannt, Soldaten zu Engeln des Friedens stilisiert. Das Foto von Phan Thị Kim Phúc ging als Ikone des Schmerzes um die Welt. Sie erlitt bei einem Napalm-Angriff südvietnamesischer Flugzeuge am 8. Juni 1972 schwere Verbrennungen. Während die damals Neunjährige nackt aus dem Ort floh, wurde sie vom Pressefotografen Nick Út fotografiert. Das Foto trägt den Titel The Terror of War.

Lacrima christi. Das Kriegstreiben nahm und nimmt kein Ende, Kinder verhungerten, Kindersoldaten starben. Im Jahr 2002 feierte das Time-Magazin die amerikanischen Soldaten als Helden und Männer des Jahres.

Stetig gehen die Tränen der Begeisterungsfluten auf Reisen. Die gesammelten und eingefangenen Welttränen berieseln auf der Dokumenta der Künste die regsamen Tränensammler. Die Bayreuther Festspiele und der deutschsonntägliche Tatort machen Standpunkte klar. Die Gewaltgeschichte zwischen televisionärer Aufklärung und Unterhaltung, historischer Rückbesinnung und Geschichtsverfälschung inszeniert ihre Engel: weiße, schwarze, die einstigen von Auschwitz, nun in neuer Mission, neuinterpretiert. Blauäugige Hell Engel des Todes für alle. Der Historie-Kanal erneuert die Debatte um Naturpoesie und Kunstpoesie. Auf Arte läuft Mutter Courage. Der Kommunist Engels und seine Ideale – wie eine Träne im Ozean (Manés Sperber) – werden vorgestellt.

Die Läuterungsberge und Kunststätten ästhetisierter Leidenschaften bleiben dem mythenmüden Werktätigen, den kunstfernen Arbeitern und desillusionierten Arbeitslosen unverständlich, denn ihr wahres Theater fand und findet auf der Straße oder daheim im Benno Ohnesorg-Theater statt. (Vgl. dazu : Herbert Schero: Das eigene Fremde). Das Theater und sein Double, Das Theater der Grausamkeit (Antonin Artaud) findet vor und im PC & TV statt. Und die Kinder spielen mit Barbie die Kunst des Liebens nach. Und alle Plüschtiererzeugnisse tragen Sorge, dass das Kind vor Freude weint.

Die bewusst inszenierte »ästhetische Doppelmoral« (Susan Sontag) schickt ihre Tränen des Wahrlügens auf die Reise ins Unbewusste. Das blindgeweinte Jahrhundert (Marcel Beyer) »steinfesten Schlafes« (W.B. Yeats, Das jüngste Gericht) führte Marx zur Bemerkung: »Tränen bringen uns nicht an die Macht, die Macht vergießt keine Tränen.« Proudhon verfasste seine Philosophie des Elends. Und Nietzsche weinte Regen. Er verkündete die giftigen, unsichtbaren Tränen der Zukunft. Nerudas Tränen, tief in die Tinte der Macht getaucht, waren Poeme für das Volk gewesen. Der faschistische General Pinochet war ein Tränengas-Politiker. Ein Zyklon B-Befürworter.

Odilon Redons mit Tränen angetriebenes Ballonauge (Das Auge strebt wie ein seltsamer Ballon zum Unendlichen hin, Lithografie, 1882) holte sich Nachschub in Guernica, auf den Plätzen des himmlischen Friedens und Terrors. Hieroshima mon Amor (Alain Resnai-Film, Drehbuch Marguerite Duras).

Frida Kahlo malte ihren eigenen Schmerz. 1989 wird der Mitbegründer der Narbenkunst, der Künstler Tang Song, in China verhaftet. Gottfried Helnwein malt Bildnisse in Farbtönen der Verwesung. Hanna Nitsch malt die Häute heute, die nackte Haut der Verführbarkeit & Verwundbarkeit. (Siehe: H. Schero, Katalog 2. Ruhr Biennale: Homo Ludens – Spiel, Traum & Traumata)

Erst waren es die chinesische Kunstgruppe Sterne und die sogenannte Narbenkunst, dann folgte Saint Beuys, beide riefen dazu auf: »Zeigt eure Wunden«, eure Tränen.

Künstler erklärten sich zum Kunstwerk, inszenierten Schlachthöfe des Grauens. Der Wiener Aktionismus entfesselte Rituale obsessiver Lust bluttriefender Inszenierungen. Heute hat die Inszenierung des Schmerzes in der Kunst die Grenze zur psychopathischen Selbstverletzung überschritten – vorläufiger Höhepunkt sind die Aktionen des Performanzkünstlers Pjotr Pawlenski, der sich den Mund zunäht und 2015 wegen einer staatsfeindlichen Kunstaktion in Moskau verhaftet wurde.

Der in der Malerei dargestellte Tod und Schmerz in der Moderne ist schon immer ein probates Mittel der Abschreckung oder Aufklärung, der Propaganda und religiöser mystifizierender Verklärung gewesen. Die Menschen des Mittelalters hatten Krieg, Tod & Pest täglich vor Augen. (vgl. Johann Huizinga, Herbst des Mittelalters) Sie begeisterten sich am Schauspiel öffentlicher Bestrafung, weideten ihre Augen am spritzenden Blut der zum Tode Verurteilten, Viergeteilten und Ausgeschlachteten.

Die in der Bildenden Kunst vor Augen geführten Hinrichtungen, Erschießungen oder Enthauptungen: Johannes des Täufers oder Francisco de Goyas Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 – um zwei Beispiele zu nennen – drangen ins Bewusstsein der Menschen ein, berührten sie. Die Abbildung des aufgeschlitzten, gepfählten chinesischen Verbrechers, der mit opiumverklärtem Gesicht inmitten der Menschenmasse demonstrativ herumgetragen wird, muß überdies erwähnt werden. Dieses brutale Ritual der Zurschaustellung und massentypischer Ergötzung thematisieren die zuvor erwähnten Batailleschen Tränen des Eros*.

Kunst thematisiert die Tränen der Welt, die Tränen der Flüchtlinge. Reichgewordene Werbefürsten, wie Charles Saatchi, werden zu ihren Sammlern und größten Kunst-Aktienhändlern. Tränen als Anlage-Modell der Deutschen Bank oder Satchi-Foundation. Ai Weiwei – Tränen, richterunscharf-warhole-frische Tropfen. Cry Baby cry. Fürchte die Krokodilstränen der Kunstvermarktung.

Das Allerletzte! Die pünktlichen Tränen der Worldnews teilen mit: Tränendüsenjäger über der Wallstreet abgestürzt. Und anläßlich der Kunstbiennale in Venedig sind im deutschen Kunstpavillon Tausend und ein Tränenfänger aufgestellt. Auf einer großen Leinwand ist im deutschen Pavillon das Kunstvideo As tears goes by zu sehen!
As tears goes by: Aus dem Off rezitiert Günther Westphal Worte aus William-Butler-Yeats-Gedicht Das Jüngste Gericht:

»Weiter und weiter in konzentrischen Kreisen
Der Falke kann den Falkner nicht hören;
Die Dinge zerfallen, das Zentrum hält nicht mehr;
Absolute Anarchie ergießt sich über die Welt,
Die blutgefärbte Flut ist entfesselt und überall
Wird die Zeremonie der Unschuld ertränkt …
Dass zwanzig Jahrhunderte eines steinernen Schlafes
Zum Albtraum erweckt worden sind vom Schwanken der Wiege:
Und welch räudiges Tier, des Zeit nun gekommen,
Kreucht, um geboren zu werden, Bethlehem zu?«

1.Bildsequenz: Der Himmel wie ein Helm aus glühendem Stahl, ihn durchziehen Kreuze, die Flugzeuge sind. Langsamer Schwenk zur Erde: Vor der Klagemauer knieende Menschen. Die Mauer verwandelt sich in eine Kinoleinwand. Totale auf Hieronymus Boschs Triptychon: Garten der irdischen Lüste. Es folgt Pieter Bruegel der Ältere – Landschaft mit Sturz des Ikarus.

überblendung:

Panzer auf dem Tian’anmen – »Platz des Himmlichen Friedens« – erschießen Mütter, Kinder, Studenten. Aus mit Feuerflammen beflügelten Augen dringen schießende Kanonenrohre. Die Augen verwandeln sich in Feuerbälle. Diese durchdringen die wieder zur Klagemauer gewandelte Kinoleinwand. Schusslöcher bilden das Wort SÜNDE. Das Wort wird zu einem brennenden Scheiterhaufen, der von einem Atompilz überblendet wird. Einschwärzung der Leinwand.

Im Off erklingt das Kryzstof Kamil Baczynski-Gedicht Miserere, Frühjahr 1940:

1

Da stehn wir über der tragischen Erde.
Das Schlachtfeld raucht mit dem Sud
zerschlagener Taten und Träume.
Mit blutverkrusteten Fragen
Nehmen wir ab die Helme, die uns an die
Köpfe gewachsen.
Köpfe – rote Rosen, Schmuck für
Geschlechterhelme.
Ich seh: die Zeit überwuchert von
Rauchfederbüschen,
Ich seh die Zeit: Akropolis, versunken im
Gräserurwald.
Stürze dich, letzter Kain, über den letzten Abel,
Würge!

2

Kommend von dem Begräbnis des letzten Menschen
Werfe ich eine Handvoll Luft – eine Lerche – zum Himmel
Und lasse die Erde fallen wie eine Träne über das Weltall.

Tonspur: Applaus /

2. BildSequenz: Auschwitztor – Arbeit macht frei – / Berliner Mauer.

Aus der Mauer heraus wachsen unzählige betende Dürer-Hände in Bronze, verwandeln sich in Panzer, deren Rohre auf den Betrachter gerichtet die Mauer / Kinoleinwand zu einem Tableau aus pulsierenden Löchern / Kreisen formen. In diesen Kreisen / Löchern, die herangezoomt werden, erstrahlen temporär Symbole / Bilder: Rotes Kreuz – braunes Kreuz – weisses. Herz Jesu / Sichel, Stern / neolithische Swastika / Hammer & Sichel / Rose / Omphallus / USA-Flagge / Black Panther-Logo.

Tonspur. Sequenz aus Kindertotenlieder / Triumphmarsch / Garden, Adagio.

3. BildSequenz: Einstellung wird überblendet: Der Betrachter sieht weinende Flüchtlinge/ Sektglastränen / Logo Krauss-Maffei / Öltränen auf den Gesichtern unterernährter afrikanischer Kinder / blutender Tränensack / Logo Deutsche Bank, Chase Manhattan / Dollarnoten mit Öltränen / in Öl gebratene Friedenstaube / Kindersoldaten / Kinderspielzeuge … Waffen. Schnitt, zweigeteilte Leinwand: Linke Bildhälfte: Phan Thị Kim Phúc-Foto (Einblendung Titel: The Terror of War) – rechte Bildhälfte zeigt :Picassos Guernica, die linke Picassos Gemälde Kind mit Ball. Schlussbild: Kasimir Malewitschs Nullikone der Kunst: Das schwarze suprematistische Quadrat in Rotation.

4. BildSequenz / Tonspur: Faurés Reqiem .

Sequenz von technischen Geräten: Mobil, I Pad etc. / Von unbekannten Händen gespielt, ein Piano, dem bei jedem Tasten-Anschlag Blut und Öltropfen entweichen / folgt: Logo Monsanto / Dürre Landschaft überblendet von verbrannter Erde / Pflanzenvernichtungs-Sprühregen / Schriftzug Round up – die Träne der Hoffnung / Brennendes, von Flammen verschlungenes Stilleben, nach und nach überblendet von einem Berg Leichen / Einblendung: Schriftzug Zyklon B. Einschwärzung und Schriftzug NIGREDO. Schnitt: Wir sehen schwarzgekleidete Trauerweiber, sie singen und beten in einem dunklen Raum vor einem weißen Tisch, auf dem weiße, mit schwarzem Wasser gefüllte Teller stehen, das Wasser färbt sich von hell nach dunkel.

Aus dem Off rezitiert Günther Westphal Worte aus Celans Todesfuge und Adornos Aufsatz: Erziehung nach Auschwitz, während die Leinwand Feuer fängt und sich selbst vernichtet.

(www.schero.de)

Herbert Schero

freier, multimedial arbeitender Künstler

 

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