Frauenzentrum Nasriya. Aufnahme Omar Akbar

Zur Komplexität des Einfachen*

Das Frauenzentrum in Nasriya, ein Stadtteil in Aswan/Ägypten, ist ein zweigeschossiges Hofhaus aus Kalksandstein und gebäudetypologisch einfach zu deuten. Komplexität und Einfachheit wechseln, ergänzen und bedingen sich im Prozess seines Entstehens und Vergehens. Dieses dialektische Verhältnis gehört zum Wesen jeder Bauaufgabe. Mit dem Anspruch dem genius loci gerecht zu werden und eine individuelle Lösung zu finden wird das Einfache zur komplexen Herausforderung wie es uns die Frauen von Nasriya bewiesen haben.

Eine Grande Dame des Parlaments der Bundesrepublik Deutschland besuchte im Jahr 1995 das Stadteilsanierungsprojekt Nasriya in Aswan und musste erfahren, dass es außer Lippenbekenntnissen keinerlei echte materielle Ressourcen zur Förderung der Frauen gibt.

Durch inoffizielle Gespräche mit den Nasriya Frauen erfährt sie, dass es der neu gegründeten Frauenorganisation ein notwendiges Anliegen ist, ein eigenes Zentrum zu gründen. Kaum dass die ›Grande Dame‹ aus Ägypten nach Deutschland zurückgekehrt ist, macht sie Unmögliches möglich: das zuständige Ministerium stellt ca. DM 200.000 für den Bau eines Frauenzentrums in Aswan zur Verfügung. Es werden weder die gewöhnlichen Prozeduren wie Gutachten, die gewöhnlich für ein Projekt notwendig sind, gefordert, noch wird gefragt, was der ägyptische Partner zum Projekt beisteuert.

Durch ihren Einsatz siegte politischer Wille und die Sinnhaftigkeit eines Projektes über die Bürokratie.

Der Stadtteil Nasriya entsteht in Aswan mit dem Bau des Staudamms, für den in den 1960er Jahren Arbeiter aus unterschiedlichen Orten Ober-Ägyptens rekrutiert worden sind. Als Fremde dürfen sie sich nur am Rande der Stadt ansiedeln, der durch einen Kanal von den alten Quartieren der Aswanis abgeschnitten ist. Die neue Siedlung heißt Nasriya mit Bezug auf den damaligen Präsidenten des Landes Gamal Abdel Nasser. Eine Zeit voller Euphorie und Zuversicht beginnt; denn entsprechend der sowjetischen Ideen sollten sich die Produktionsverhältnisse sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft durch den Bau von Düngemittelfabriken, Bewässerungskanälen und Elektrizitätsanlagen revolutionieren. Dass die politisch-ideologischen Programme auch große Umweltschäden verursachen, das ist seit der Zeit des großen Wurfs, nämlich dem Bau des Aswan-Damms, bekannt.

Die sowjetischen Experten vollbringen, was die heroisch-technischen Fähigkeiten wie das Translozieren von historischen Skulpturen und Bauwerken betrifft, um Platz für den Damm zu schaffen, Meisterleistungen. Nur vergessen sie im Laufe des Gefechtes die Lage der Arbeiterklasse. Es sind keine Arbeiter im europäischen Sinne, sondern einfache Handwerker und Bauern mit eigener Tradition, Kultur, Religion und Mentalität. Zugleich zählen sie teilweise zu den Gedemütigten, deren Dörfer nach durchgreifenden Umsiedlungsmaßnahmen dem Erdboden gleich gemacht worden sind. Darüber hinaus ist die ägyptische Bürokratie auf die Organisation und das Management eines solchen Unterfangens nicht vorbereitet gewesen. Den Bewohnern des Stadtteils Nasriya werden Grundstücke ohne Eigentumsrecht zur Verfügung gestellt, auf denen sie ihre Häuser und Hütten bauen können. Wie es den unterschiedlichen Ethnien und Stämmen gelingt, in unmittelbarer Nähe zueinander ihre sozial-räumliche Segregation zu kreieren, bleibt bis heute ein Rätsel. Innerhalb kürzester Zeit verdichtet sich Nasriya dermaßen, dass es um 1985 mit 50.000 Einwohnern ein Viertel der Stadtbewohner Aswans beherbergt. Sie wohnen in ein- und zweigeschossigen Häusern aus Stein, Beton und Lehm auf einer Gesamtfläche von etwa 100 Hektar.

Das Gebiet wird durch enge Gassen und Sackgassen erschlossen. Mehrere dezentral gelegene kleine Läden, Moscheen mit Nachbarschaftszentren, einer Grundschule und 15 öffentliche Wasserzapfstellen, die selten funktionieren, versorgten Nasriya. Die Abwasser- und Müllentsorgung übernimmt der schon erwähnte Kanal, der auch die selten vorkommenden Überflutungen aufnimmt und das Abwasser der Düngemittelfabrik ableitet. Dieser Giftkanal mit seinen unterschiedlichen, gesundheitsschädlichen Zutaten wirkt wie eine Pufferzone und trennt Nasriya auf etwa 2 km von den sonstigen Stadtteilen Aswans ab.

Bekanntlich wurden die Themen wie Sanierung, Bestandserhaltung und Instandsetzung von Stadtquartieren und sogenannten Slums gerade in den 1970er und 1980er Jahren weltweit offensiver diskutiert als heute. Es ist auch kein Zufall, dass es Stadtplaner aus Deutschland sind, die im Auftrag der damaligen GTZ (Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) um 1985 immer wieder die Behörden in Kairo darauf hinweisen, dass es bei der Stadtentwicklung nicht nur um die Stadterweiterung geht, sondern auch um Erhalt, Erneuerung und Instandsetzung von bestehenden Stadtteilen und Infrastrukturen. Der Umgang mit den Wohnquartieren der Armen ist für die meisten ägyptischen Behörden ein Tabuthema. Die Wohnquartiere der Armen sind nicht nur jene Gebiete wie der Friedhof der Mamluken in Kairo, der auch als Stadt der Toten bezeichnet wird und bis heute Wohnort Tausender ist, sondern auch Siedlungen, die im Kontext der sozialistischen Versuche Ägyptens entstehen und wiederum verfallen.

Neben diesen Siedlungsstrukturen breiten sich die informellen Siedlungen ohne jegliche administrative Legitimität in den unterschiedlichsten Gebieten der Städte aus. Die Wohnviertel der Armen haben nach wie vor unterschiedliche Geschichten und Gesichter in Ägypten. Verschiedene internationale Organisationen, wie z.B. die Weltbank haben zum Bau neuer Siedlungen animiert, um der notorischen Wohnungsnot Herr zu werden. So sind Millionen von Dollar mit dem einzigen Ergebnis investiert worden, dass viele dieser Siedlungen, die am Rande der Städte gebaut wurden, bis heute leer stehen. Denn Menschen, die um ihr Überleben kämpfen, können es sich nicht leisten am Rande der Stadt zu wohnen, ihnen fehlen die finanziellen Mittel für den Alltag. Die Quellen des möglichen Einkommens liegen im Stadtzentrum und in den Orten kommerzieller Aktivitäten.

Die Sanierung, Instandsetzung und Legalisierung bestehender Siedlungen als ein ernstes Thema der Stadtentwicklung zu betreiben wird trotz stetigen Bemühens im Zuge der Stadtentwicklungsplanung in Aswan in den Jahren 1985/86 nur halbherzig angenommen; nach wie vor sind Abriss und Neubau das Credo der Stadtplanung und des Städtebaus. Im Oktober 1987 werden endlich die Ziele und Maßnahmen für eine Sanierung Nasriyas vereinbart: Anschluss an die städtische Wasserleitung, Verlegen von Abwasserleitungen, Instandsetzen der Nachbarschaftszentren, Erweitern von Schulen, Errichten eines Dienstleistungszentrum und Aufbauen eines Müllentsorgungssystems. Darüber hinaus werden eine Gemeindeorganisation, ein Gesundheitszentrum, eine Alphabetisierungskampagne, sowie eine Theater- und Musikgruppen aufgebaut. Besitzverhältnisse an Grund und Gebäude werden geregelt, registriert und es entsteht ein Klein-Kreditsystem. Diese Maßnahmen werden in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, den Bewohnern und der GTZ organisiert, finanziert und durchgeführt. Am Anfang des Projektes wird vereinbart, dass die Partner jeweils zu einem Drittel die Kosten tragen. Am Ende des Projektes haben die Bewohner von Nasriya über vierzig Prozent des Projektes durch Selbsthilfe finanziert.

Im Zuge der Sanierung und des Aufbaues der Gemeindevertretung, in der auch Frauen von Anfang an aktiv beteiligt sind, entsteht der Gedanke, dass sie ihre Interessen und Bedürfnissein in einer eigenen Organisation besser artikulieren können, um emanzipierter zu agieren. Diese Organisation wird bald mit Hilfe erfahrener Expertinnen aus Kairo gegründet. Das erste Ziel ist es, in den 15 Nachbarschaftszentren, die in Nasriya bestehen, jeweils einen Raum für ihre Aktivitäten zu beanspruchen.

Wie es der Zufall will, besucht gerade in dieser Zeit die schon erwähnte Grande Dame Aswan, geht auf das Anliegen der Frauen sogleich ein und setzt umgehend alle erforderlichen Maßnahmen in Bewegung.

Die Frauen sind natürlich stolz, dass es ihnen gelungen ist ein Projekt zu akquirieren. Gleichzeitig fragen sie sich, wie sie das alles verantwortlich meistern können. Skeptiker und Widersacher stehen im Weg. Es sind vor allem jene, die per se die öffentlichen Aktivitäten der Frauen als bösartige Einmischung westlicher Agenten werten, die den Islam und die moralische Vorstellung der traditionellen Gesellschaft versuchen zu untergraben und zu beeinflussen. Doch das fordert die Frauen heraus. Grundstück und Geld sind gegeben, das Bauen ist nicht das Problem, sondern dass von den etwa 20 offiziell ernannten Frauen fast alle unterschiedliche Vorstellungen vom Gebäude besitzen.

Erst nach tagelangen Debatten wird ein Raum- und Nutzungskonzept erstellt. Stolz wird es der Gemeinde und den Vertretern der Stadtverwaltung vorgetragen.

Doch das vorgestellte Konzept ist dermaßen ambitioniert, dass die Frauen herbe Kritik ernten. Sie sind frustriert, streiten sich und brauchen viel Zeit, zur Arbeit am Nutzungskonzept zurückzufinden – schon gibt es den nächsten Konflikt: die Lage des künftigen Frauenzentrums auf dem höchsten Punkt des Gebietes, denn Nasriya breitet sich entlang eines Hügels mit einem Gefälle von etwa 12 Metern aus, stellt insbesondere ein Problem für jene Gruppe der Männer dar, die an dieser privilegierten Stelle, anstatt eines Frauenzentrums, eine Moschee oder eine andere signifikante Institution platzieren möchten.

Konflikte, Missverständnisse, Neid und Missgunst nehmen ihren Lauf und erschweren die Projektentwicklung. Der von allen Seiten gewünschte, hoch gelobte partizipatorische Ansatz des Projektes wird quälend und die Notwendigkeit des Projektes wird in Frage gestellt.

In dieser Phase der Unsicherheit und Besinnung taucht, quasi aus dem Nichts, Dietmar Starke, ein brasilianischer Architekt, auf, der schon lange beabsichtigte, sich das Stadtteilsanierungsprojekt anzuschauen. Er findet es geradezu faszinierend, sich mit dem Thema zu befassen und bleibt die nächsten drei Wochen in Aswan. Er spricht weder englisch noch arabisch, besitzt jedoch die Fähigkeit, mit den Frauen innerhalb dieser kurzen Zeit ein Konzept für das Zentrum zu entwickeln.

Sie treffen sich bald auf dem Grundstück. Mit Gesten, Zeichnungen und Skizzen entwickeln die Akteure ein gemeines Bild vom Frauenzentrum. Der Eingang wird festgelegt und die Lage der einzelnen Räume wird vorläufig bestimmt. Danach sammeln die Beteiligten unterschiedliche Gegenstände, wie Steine, Sand, Erde, Pappen, Glas, Eisen- und Plastikreste, um aus diesen Materialien ein Modell des Gebäudes zu fertigen. Dazu stellt eine Familie, die in unmittelbarer Nähe des Grundstücks wohnt, einen Raum zur zur Verfügung, der alsbald den Charakter einer Werkstatt hat. Die Gruppe bleibt nicht alleine, andere beteiligen und mischen sich ein, diesmal nicht als kritische Kommentatoren, sondern als aktive Gestalter. Aus dieser Geschichte wird ein fröhliches Ereignis und am Ende entsteht ein dreidimensionales Modell, das von den Frauen in Nasriya öffentlich vorgestellt wird. Danach wird das Gebäude mehr oder minder maßstabsgerecht auf das Grundstück übertragen. Unzählige Frauen, Kinder und Männer übernehmen diese Aufgabe. Die Ecken werden abgesteckt, mit Garn und Gips verbunden und immer wieder geht irgendetwas schief. So entstehen Linien, die sich kreuzen oder parallel liegen, mal zu kurz mal zu lang sind. Das Ergebnis ist ein wunderbares Gebilde mit hohem Unterhaltungswert, das sich auf dem Grundstück ausbreitet. Eine disziplinierte Koordination dieses Unterfangens ist nicht möglich; denn alle haben ihre eigene Vorstellung. Immer wieder wird das Modell als Referenz geholt, um zu zeigen, wie das Gebäude auf dem Grundstück stehen müsste. Nach mehrmaligen Versuchen, Säubern und Ebnen des Grundstücks wird mit ausgewählten Frauen und Männern das Erdgeschoss maßstabsgerecht aufgezeichnet. Mehrere Veranstaltungen, vor allem für Frauen, werden organisiert um das Projekt vor Ort zu erläutern. In besonderer Dramaturgie wird dargestellt wo der Haupteingang liegt, wie man zum Innenhof gelangt, wie sich die einzelnen Räume erschließen, wo sich die Türen, Fenster und die Treppe befinden.

Nach drei Wochen wird der brasilianische Architekt, der anonyme Fremde, der wie in einem Western kam, siegte und schweigend wieder ging, festlich verabschiedet. Was bleibt, ist die unglaubliche Energie, die das Unmögliche möglich macht: Frauen aus Aswan und noch dazu aus einem Slumgebiet, sollen eigenständig, ohne die Hilfe der weltbekannten und von allen Geberländern gefragten Expertinnen, ein Frauenzentrum bauen und sogar ohne international anerkannte Expertisen arbeiten.

Die Ober-Ägypter sind für ihre Eigenartigkeit und Eigensinn bekannt. Sie fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt doch zugleich besonders angespornt, den Beweis zu liefern, dass sie es besser können als die im Norden. So geschieht es auch. Das Zentrum wird unter dem Management der Frauenorganisation mit Hilfe von lokalen Bauhandwerkern, Baustofflieferanten, den verantwortlichen Behörden und einem Architekturbüro geplant, durchgeführt und realisiert. Im November 1998 wird das Frauenzentrum in Anwesenheit von über 600 Personen, nach einjähriger Bauzeit, offiziell eröffnet.

Ein Jahr nach der festlichen Eröffnung geschieht etwas Unerwartetes. Es zeigen sich Baurisse, die stetig wachsen. Aus Sicherheitsgründen wird das Frauenzentrum geschlossen. Enttäuscht ziehen sich die Frauen zurück. Schuldzuweisungen folgen. Die Behörden, die für die Bodenuntersuchungen verantwortlich sind, haben geschlampt. Entweder fehlen Gerätschaften für die Arbeiten oder sie werden andernorts benötigt oder sie sind in einem chronischen Reparaturzustand. Diese und andere bekannte, alltägliche Widrigkeiten werden im Laufe der Euphorie einfach verdrängt.

Für die gläubigen Radikalen ist es eindeutig: Es ist Gottes Wille – ein Frauenzentrum ist Blasphemie.

Das Gebäude, das fast spielerisch entstanden ist, erfährt nun einen Bedeutungswandel. Als Ruine wird es zum symbolischen Ort, der für die Fähigkeit, den Mut, das Durchhaltevermögen und für Kreativität der Frauen in Aswan steht. Somit bleibt es ein ungewöhnliches Projekt mit vielen Erzählungen, die bis heute unterschiedlich übertragen werden. Aus dem Gebäude ist eine Ruine geworden, die Geschichte schreibt. Aus dem Frauenzentrum ist ein Mythos geworden. Die Frauen von Nasriya wurden und werden aufgrund ihrer Erfahrungen Beraterinnen in verschiedenen Projekten. Somit lebt das Frauenzentrum von Nasriya in anderen ägyptischen Projekten weiter.

 


Frauenzentrum Nasriya, Aswan 1996

 

* Der Text wurde im Juli 2012 in »M Mies Haus Magazin 9, Die Kunst des Einfachen«, Periodikum zur Kultur der Moderne MIAS VAN DER ROHE HAUS (HG.) veröffentlicht und ist für diese Veröffentlichung überarbeitet worden.

 

Aufnahmen: Omar Akbar

 

Omar Akbar

Professor für Architekturtheorie