In einem spannenden, kurz nach seiner Übersiedelung aus der DDR geschriebenen Text, Berliner Stadtbahn, schildert Uwe Johnson die gespenstische Fahrt in einem fast leeren S-Bahn-Zug von Friedrichstraße, wo sich die Grenzübergangsstellen der DDR von und nach Ost-Berlin befanden, durch ausgestorbene Bahnhöfe. Sie zu passieren und auf der anderen Seite wieder auf die Oberfläche zu kommen, war, als beträte man einen fremden Planeten; halbleere Straßen, stumme, gehetzt wirkende Fußgänger, die Prachtstraße Unter den Linden ohne Passanten und Autoverkehr, der verhasste, heute abgerissene Koloss des Palasts der Republik, den man meiner Meinung nach hätte erhalten müssen, als Mahnmal jener „Ästhetik der Hässlichkeit“, bezeichnend für einen Staat, der seinen angeblich demokratischen und sozialistischen Charakter für jeden sichtbar Lügen strafte. Günter Grass’ außerordentlicher Roman Ein weites Feld, den ich in meinem Essayband Contra las sagradas formas ausführlich analysiert habe, zeichnet ein meisterliches Bild vom Sterben dieses Regimes sowie das einer Bevölkerung, die in Jahrzehnten der Angst, Tristesse und Mittelmäßigkeit resignierte und nachher einem Raubtierkapitalismus und dem „Jeder-gegen-jeden“ im globalen Dorf zum Opfer fiel.
Lehrreich wäre eine kontrastierende Lesung von Döblin und Grass. Hier das fiebrige, chaotische und kreative Berlin der zwanziger Jahre um den Alexanderplatz, dort die hässliche Beton- und Ziegelsteinwüste, die man von dem riesigen, von der DDR als Sinnbild ihrer illusorischen Dauerhaftigkeit errichteten Fernsehturm aus erblickt. Selten habe ich so deutlich wie in Berlin den Schwindel gespürt, den der verändernde, zerstörende und neuschaffende Lauf der Zeit auslöst, der in seinem Gang über alles hinweggeht und uns alle hinter sich lässt. Hier vollzieht sich die urbane Schichtenbildung nicht peu à peu wie in Paris; hier ist sie mit Gewalt und kalkulierter Brutalität zustandegekommen. Auf der einen Seite der Mauer das Kreuzberg der Punks, Hippies und türkischen Einwanderer, der Parolen und Graffitis zum Ruhme des Leuchtenden Pfads und des revolutionären Kampfes der peruanischen Massen; auf der anderen das resignierte Schweigen einer aller Anreize beraubten Bevölkerung ohne jede lebendige Perspektive.
In Kreuzberg wie bei meinen Aufenthalten in Paris konnte ich feststellen, dass wir das Privileg genießen, zu reisen, ohne uns vom Fleck zu bewegen. Mussten wir uns früher einschiffen, den Zug oder Autobus nehmen und zum Flughafen fahren, so kommt heute das gesuchte, ferne Land zu uns und klopft an unsere Tür. Wir können dort, wo wir unsere Tage in Arbeit und Muße verbringen, vom Maghreb nach Pakistan, von China nach Senegal, von Ecuador nach Indien gelangen.
Welch unerhörte Lektion für mich und meine Landsleute, die wir bis vor dreißig Jahren in einem dichten Verschlag saßen, abgeschnitten von jeder Interkulturalität! Um europäisch zu werden, mussten Barcelona und Madrid dem Beispiel von Berlin und Paris folgen und sich afrikanisieren, arabisieren, asiatisieren, lateinamerikanisieren; mussten sie sich der inspirierenden Pluralität der Sprachen, Sitten, Riten, Kosmogonien öffnen. Neue literarische und künstlerische Formen sollten in diesen für Vielfalt offenen Räumen keimen, eine Vielfalt, wie sie heute auch Raval und Lavapiés verkörpern. Wenn die vergangene koloniale Expansion Englands und Frankreichs der Ursprung des aktuellen „Treibhauses“ literarischer Werke in den Sprachen von Dickens und Balzac ist, so gibt es gleichfalls ausgezeichnete deutsch-türkische Romanciers wie meine Freundin Emine Sevgi Özdamar, aus Asien stammende Autoren, die sich auf Holländisch ausdrücken, und Marokkaner, die es auf Katalanisch tun. Dieser Schmelztiegel der verschiedenen Sprachen und menschlichen Erfahrungen speist den im Fluss, in permanenter Bewegung befindlichen Raum, den wir cives, Metropole, Medina oder Stadt nennen.
Wer nach ein paar Jahren Abwesenheit nach Berlin zurückkommt, steht staunend vor der neuen, wundersamen Verwandlung der alten Ostberliner Mitte in die dynamischste und jüngste Stadt des alten Europa. Verglichen mit diesem Laboratorium der Initiativen und Ideen muten die anderen Hauptstädte wie Museumsstädte an, die die von oben, durch einen unkontrollierten angeblichen Fortschritt bewirkten Veränderungen nicht verbessern, sondern verschandeln. Die kreative, heterogene und der Dynamik der Zeit gegenüber aufgeschlossene Stadt Berlin wartet auf den Romancier, der aus der destabilisierenden Perspektive der Veränderung ihre Topographie in Typographie verwandelt und der Literatur gegenüber der Geschichte und ihrem Elend zum Sieg verhilft.