Szenisches
Die Strafvollzugsanstalt Cottbus wurde 1975 in Strafvollzugseinrichtung umbenannt, doch unter den Häftlingen hieß es weiterhin trotzig ›Zuchthaus Cottbus‹, denn die Kriterien des Elends, der Menschenschinderei, Zwangsarbeit und Ohnmacht waren, jedenfalls in Cottbus, offenbar schlimmer als unter dem Nazi-Regime, wenn ich Traute Lafrenz (*1919), der letzten Überlebenden der Weißen Rose, glauben darf, die gegen Ende des Krieges einige Monate mit acht weiteren Frauen des Hamburger Flügels der Weißen Rose im damaligen Frauenzuchthaus Cottbus einsaß. Uns verbindet immerhin, dass sie 30 Jahre vor mir dort einsaß und wir beide den gleichen Verräter hatten, ihren Schulfreund Heinz Kucharski (1919-2000), der zwar auch Widerstand gegen das NS-Regime leistete, aber nach seiner Verhaftung über 30 Mitkämpfer der Gestapo verriet. Später lebte er als Lektor in Leipzig, wo ich ihn kennenlernte und vorerst bewunderte für seinen Widerstand, denn ich erfuhr erst 1969 durch ihn, dass es einen Zweig der Weißen Rose auch in Hamburg gab. Ich führte ihn in unsere kleine illegale Künstlergruppe ein, nicht wissend, dass er ein fleißiger Stasi-Mitarbeiter war und mithalf, dass neben mir außerdem der junge Maler Michael Flade (1948-1982) sowie die Dichter Andreas Reimann (*1946) und Wolfgang Hilbig (1941-2007) im Gefängnis landeten, zwei davon ebenfalls in Cottbus.
Traute Lafrenz schrieb mir im Januar 2012:
»Von Cottbus kann ich nicht viel sagen. Eigentlich habe ich eine gute Erinnerung an die Zeit dort. Man war den unberechenbaren Eingriffen der Gestapo entkommen – sowie den unerträglichen Wanzen in Moabit!! Alles war geregelt – keine Schikanen von Kalfaktoren. Man musste arbeiten. Es gab sogar eine Bücherei. Ich erinnere mich, in Cottbus ›Wittiko‹ von Adalbert Stifter gelesen zu haben. Es gab sogar eine Kapelle, aber die erinnere ich nur, weil wir Ende 1944 oder Anfang 1945 dort Strohlager einrichten mussten für einen Transport aus Auschwitz…«
Diese Sicht bestätigte auch die französische Kommunistin Gisèle Guillemot (1922-2013), die ebenfalls in Cottbus gelandet war und die Haft dort mit einem Dutzend anderer Gefängnisse und Lager vergleichen konnte, die sie zuvor erleiden musste.
1975, als die Welt Entspannung feierte und Diktator Erich Honecker (1912-1994) in Helsinki neben Bundeskanzler Helmut Schmidt (1918-2015) sitzen durfte, saß ich wegen handgeschriebenen Häftlingszeitungen unter dem Titel Armes Deutschland über 400 Tage in Kellereinzelhaft inklusive 63 Tagen Arrest bei drei Scheiben trockenem Brot, früh und abends einem Becher Muckefuck oder Tee, alle drei Tage eine Suppe. Die Nachtruhe durfte ich auf einem von der Wand herabgelassenen Lattenrost ohne Matratze mit einer schmutzigen Decke in einer unbeheizbaren Kellerzelle verbringen.
Von Günter Hoffrichter (1927-2013), meinem ›Erzieher‹ – so nannten sich tatsächlich die Offiziere – wurde ich mit einem ausziehbaren Schlagstock zusammengeschlagen – bis das Blut spritzte. Warum? Ich wurde beim Singen ertappt, denn es war verboten, zu singen, zu rufen, zu klopfen oder sich sonstwie bemerkbar zu machen.
Ansonsten war der Zusammenhalt unter den Häftlingen außergewöhnlich gut, denn in der Provinzstadt Cottbus saßen ab Mitte der 60er Jahre überwiegend politische Häftlinge und darunter viele Intellektuelle ein. Da dort nur Häftlinge mit einer Strafe bis zu fünf Jahren untergebracht waren, gab es unter den etwa 20% Kriminellen auch keine allzu schweren Jungs.
Leider waren wir nach der vorangegangenem Stasi-Untersuchungshaft im Strafvollzug Cottbus dann noch immer den Eingriffen der Stasi ausgesetzt, sowohl durch Wärter, Offiziere und sogar Haftkameraden, die als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi zuarbeiteten und manchem Häftling noch zu einem sogenannten ›Nachschlag‹, also zu einer weiteren Bestrafung oder Verurteilung verhalfen.
Von den brutalen Wärtern, die es freilich in allen DDR-Gefängnissen gab, wurden lediglich zwei Cottbuser zu Gefängnisstrafen verurteilt: Horst Jahn (*1949), der den Spitznahmen ›Arafat‹ trug, und Hubert Schulze (*1939), den die Häftlinge wegen seiner Brutalität ›RT‹ nannten, was ›Roter Terror‹ heißen sollte. Zum Glück gab es auch Menschen in der uns verhassten Uniform, wenngleich nur wenige.
Wolfgang Hilbig, der heute als ›geheimnisvoller Außenseiter‹ zu den ›sprachmächtigsten Autoren der deutschen Literatur‹ gezählt wird, saß nicht in Cottbus ein, sondern 1977 bloß zwei Monate in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Leipzig. Zusammen mit dem Rundfunkredakteur Karl Corino (*1942) gestaltete ich eine Stundensendung zu Hilbig; und das erwartete Wunder geschah: Er wurde freigelassen. Als einziger mir bekannt gewordener Stasi-Häftling bekam er sogar eine Haftentschädigung angeboten, obwohl er es abgelehnt hatte, mit der Stasi zusammen zu arbeiten, obgleich gegenteilige Gerüchte gestreut worden waren. Später bekam er sogar einen Reisepass, mit dem er zwischen Ost und West hin- und herreisen durfte. In diesem Theaterstück möchte ich meinem Jugendfreund, der in seinen poetischen Texten vor allem die »Krankheitsgeschichte der DDR« schilderte, auch ein kleines ›Denkmal‹ setzen.
Vieles von dem, was besonders die Einzelhäftlinge quälte, lässt sich in einem Theaterstück kaum vermitteln, besonders die Einsamkeit und einhergehende Langeweile. Dennoch gab es Fluchtversuche und Selbstmordversuche äußerst selten, denn in dem ›Devisenbringer-Gefängnis‹ Cottbus erfuhr jeder, dass die meisten der Politischen vom Westen freigekauft würden. Zwischen 1964 und 1990 wurden insgesamt 33.755 politische Häftlinge für mehr als 3,4 Milliarden DM ausgelöst.
Dass wir trotz der Einzelhaft miteinander korrespondierten und uns auch zum Lachen reizten, sollte nicht verschwiegen werden, auch wenn es schwieriger war, als es dem Zuschauer in einem Theaterstück zugemutet werden kann. Dennoch: Vorhang auf!
Berlin, März 2020
Siegmar Faust