Monika Schmitz-Emans

I. Photographie und Spiritismus

In den Pioniertagen der Photographie galt das Photographieren vielen als eine magische Operation, die wie andere magische Praktiken auch zugleich Faszination und Angst erzeugte. Balzac hatte Angst, durch die photographische Abbildung schichtweise abgetragen‹ zu werden. So erinnert sich der berühmte Photograph Nadar in Als ich Photograph war:

»Nach Balzac besteht jeder lebende Körper aus unendlich vielen ›Spektren‹, die in winzig kleinen Schuppen oder Blättchen schichtförmig übereinanderliegen und ihn von allen seiten einhüllen. Da es dem Menschen immer unmöglich sein wird, etwas zu erschaffen – das heißt, aus der bloßen Erscheinung, dem Ungreifbaren, einen festen Körper zu bilden, aus nichts etwas zu machen – muss bei der Daguerreschen Photographie eine Schicht des abzubildenden Körpers erfasst, abgelöst und auf die Platte gebannt werden. Daraus folgte, dass jeder Körper bei jeder photographischen Aufnahme eine seiner Spektralschichten, das heißt einen Teil seines elementaren Wesens einbüßte.«1

Die Unschärfe der frühen photographischen Aufnahmen verlieh ihnen selbst zudem etwas Geisterhaftes.

»Die ersten Photographien zeigten oft Phantome, Menschen, die aufgrund der langen Belichtungszeiten nur als durchsichtige Schemen und schattenartige Gestalten durch das Bild geisterten.« (Stiegler, Bilder der Photographie, Artikel »Phantom«, 167)

Die photographische Herstellung von Bildern und magisch-okkulte Praktiken wurden von vornherein miteinander assoziiert, und mit dem Projekt der Geisterphotographie gingen sie ein noch engeres Bündnis ein.

Der Phototheoretiker Lewis Mumford verwendet übrigens den Begriff des Geisterhaften 1952 in einem Sinn, der auch anderen Kritikern der Photographie und anderer technischer Medien im 20. Jahrhundert geläufig ist: Durch ihre photographische Abbildung werde die lebendige Welt durch eine schattenhafte, phantomatische Ersatzwelt verdrängt. Mumford schreibt über die Welt der massenmedial erzeugten und allgegenwärtigen Bilder:

»(...) wir hören auf, in einer vieldimensionalen Welt zu leben, in einer Welt, die alle Aspekte der menschlichen Persönlichkeit, von ihrem Knochenbau bis zu ihren zartesten Empfindungen, spielen lässt. An ihre Stelle haben wir, hauptsächlich durch die Massenproduktion graphischer Symbole – und eine ähnliche Vervielfältigung und Reproduktion des Tons leistet dabei noch Vorschub – eine Welt aus zweiter Hand, eine Geisterwelt gesetzt, in der jeder ein nur abgeleitetes Leben aus zweiter Hand lebt. Die Griechen hatten einen Namen für diesen blassen Abglanz der realen Existenz: sie nannten ihn Hades, und dieses Reich der Schatten scheint das letzte Ziel zu sein, auf das unsere mechanistische und mammonistische Zivilisation zusteuert.«2

II. Zum Projekt einer Sichtbarmachung des Unsichtbaren

Der für das Projekt »Geisterphotographie« maßgebliche Ausgangsgedanke ist der von der nur begrenzten Reichweite des (normalen) menschlichen Auges. Die Photographie – so hoffte man bald nach deren Erfindung – könnte außer dem, was man ohnehin sehen kann, vielleicht auch solche Erscheinungen aufzeichnen, die für den einfachen, natürlichen Blick unzugänglich sind. So schreibt Jochen Hörisch:

»Dass hinter der sichtbaren Welt noch eine weitere, eigentliche Wirklichkeit ihrer Entdeckung harrt, ist die alte Gewissheit aller Metaphysiker. Ihnen springt um 1900 die Medientechnik bei, dieUnsichtbares sichtbar macht.« (Hörisch, Der Sinn und die Sinne, 247)

Die Hoffnung, mittels neuer Techniken Unsichtbares sichtbar machen zu können, wurde vor allem durch die Entdeckung der Röntgenstrahlen sowie der Radiographie genährt. Beide Techniken überführten Dinge in den Bereich des Sichtbaren, die zuvor unsichtbar gewesen waren – das Innere von belebten und unbelebten Gegenständen sowie unsichtbare Strahlungen. Sie erschlossen damit einen Raum des Unsichtbaren, und wenn man so will des Über-Sinnlichen (wenn denn die natürliche Disposition des Menschen zur Wahrnehmung den Raum des »Sinnlichen« absteckt).

Die Röntgenphotographie wurde 1895 durch Wilhelm Konrad Röntgen erfunden und erregte großes Aufsehen. Das erste von Röntgen hergestellte Röntgenbild zeigt die Hand seiner Frau Bertha – bzw. die Knochen dieser Hand nebst einem Ring. Röntgen selbst bezeichnete die Strahlen, die solche Aufnahmen unsichtbarer Bereiche der Welt ermöglichten, als X-Strahlen. Aber nicht nur zur Visualisierung des unsichtbaren Inneren photographierter Objekte und zur radiographischen Abbildung von Strahlungen und Strömen sind photographische Techniken einsetzbar, sondern etwa auch für die Erkundung des Alls, wo sich mittels spezieller Kameras beispielsweise Sterne entdecken ließen, die man zuvor nicht gesehen hatte.

Im späten 19. Jh. und um die vorletzte Jahrhundertwende konvergieren also zwei Tendenzen, die auf den ersten Blick widerstreitend erscheinen, aber einen gemeinsamen Nenner besitzen: Erstens die Faszination durch neue Techniken der optischen und akustischen Aufzeichnung sowie deren Verwendung zur Simulation (u.a. von Präsenz, von ›Leben‹), also ein durchaus modernes Interesse an »Techniken« und eine Neuorientierung von Wahrnehmungsprozessen an technischen Prozessen und Möglichkeiten – zweitens ein Interesse an spiritistischen Themen und sogenannten Mysterien der übersinnlichen Welt, das anachronistisch, gegenaufklärerisch und un-modern erscheint. Beide Interessen konvergieren insofern, als sie darauf hinleiten, die Grenzen des Wahrnehmbaren zu erweitern, bisher nicht gesehene und gehörte Wesen oder Kräfte ins Sichtbare oder Hörbare zu überführen. Der Photograph macht sichtbar, was man sonst nicht sah (die Vergangenheit, das Abwesende), der Spiritist beschwört die Präsenz des Übersinnlichen: der Geisterphotograh ist Technologe des Spiritismus.

Vor allem unter dem Eindruck neuer bildtechnologischer Entwicklungen entwickelten Wissenschaftler und Parawissenschaftler im späteren 19. Jahrhunderts verschiedene Theorien über Strahlungen und deren differente Typen. Damit verbanden sich vielfach okkultistische Ideen und Verfahren. Man experimentierte insbesondere mit Versuchen, Gedanken oder Gefühle menschlicher Medien durch photographische Apparate zu visualisieren. Solche Versuche im Feld der sogenannten Gedankenphotographie unternahm etwa auch Thomas Alva Edisons Sohn; berühmt war auch William Crookes. Louis Darget erzeugte bei Versuchen der photographischen Abbildung psychischer Prozesse merkwürdige Bilder, die er und andere als Bilder aus dem Inneren der Versuchsperson interpretierten.

An der Geschichte des Projekts einer Visualisierung des Übersinnlichen lässt sich unter anderem exemplarisch zeigen, dass zwischen der Geschichte des Glaubens an Okkultes und der Geschichte technischen Fortschritts keine Trennlinie verläuft – im Gegenteil: Neue Entdeckungen und Entwicklungen im Bereich der Bilderzeugungstechniken wurden schnell in den Dienst okkultistischer Experimente genommen. Friedrich Kittler hat von einem »Überlaufen« der Gespenster von der Seite der Laterna-magica-Benutzer ins Lager der Photographen gesprochen.3 Und zwischen wissenschaftlichen Forschungen und Diskursen auf der einen, parawissenschaftlich-okkultistischen Experimenten und Theorien auf der anderen Seite bestanden enge Verknüpfungen.4

III. Geisterphotographie im spiritistischen Kontext

Der Spiritismus blühte im 19. Jahrhundert in verschiedensten Spielformen und verband sich unter anderem mit neuen technischen Praktiken der Erzeugung von Manifestationen.

Erheblichen Aufschwung erhielten die spiritistischen Tendenzen in den USA im März 1848, als bekannt wurden, dass merkwürdige Klopfgeräusche das Haus der Familie Fox in Hydesville/New York heimsuchten. Die 12jährige Tochter Kate erklärte, die Klopftöne seien Signale, mit denen ein Geist – der eines im Haus vom vorherigen Bewohner ermordeten Hausierers – Antworten auf Fragen gab. Das Bedürfnis nach Photos von den Geistern Verstorbener reihte sich nahtlos an andere Versuche der Kommunikation mit der Geisterwelt. Hierzu gehörte auch die bis ins 20. Jahrhundert hinein beliebte Praxis des Tischerückens. Auch mesmeristische Praktiken der Versetzung in Trance und der Befragung solcherart ›mesmerisierter‹ Medien wurden dazu eingesetzt, mit der Geisterwelt zu kommunizieren oder indirekt – durch Befragung der Medien – etwas über sie zu erfahren.

Neben direkten angeblichen Photoporträts von Geistern entstanden unter dem Einfluss des weitverbreiteten Interesses am Spiritismus im 19. und 20. Jahrhundert auch Photos von okkulten Manifestationen anderer Art: von sich hebenden Tischen, von rätselhaften Strahlungen, sowie insbesondere von sogenannten Materialisationen – für deren Erklärung es diverse Theorien gab, etwa die der Od-Strahlen oder des Ektoplasmas.

Mit der Photographie verbindet sich die Suggestion: Da ist etwas gewesen. (Dies gilt zumindest für die älteren photographischen Techniken; im Zeitalter digitaler Photographie stellen sich die Dinge anders dar.) Diese Idee des ›Da-ist-etwas-gewesen‹, das vor allem Roland Barthes ins Zentrum seiner Überlegungen zur Photographie gestellt hat, spielt für das Projekt der Geisterphotographie die zentrale Rolle.5Skeptische Beobachter des Spiritismus waren prinzipiell bereit, der Photographie den Status eines Beweismittels zuzugestehen.6

IV. Zur Geschichte der Geisterphotographie

Das mit der Ausbreitung der Photographie erzeugte Bedürfnis, die eigene Familiengeschichte in Photoalben zu dokumentieren, gab der Geisterphotographie vielleicht ähnlichen Auftrieb wie die weitverbreiteten spiritistischen Ideen.

»Das Familienalbum wird sozusagen rückwirkend ausgestattet. Man bemüht sich, Bilder der Toten zu erhalten, ganz als wäre zu ihren Lebzeiten die Gelegenheit, sie fotografisch zu verewigen, versäumt worden oder einfach nicht ausreichend wahrgenommen.«7

Es war durchaus üblich, diese Aufnahmen ohne Gegenwart der Klienten zu machen. Diese schickten ein Photo ihrer selbst, das sie dann später zurückerhielten – zusammen mit einem Bild, auf dem sich auch der Geist ›manifestierte‹.

Als Erfinder der Geisterphotographie gilt der Graveur William H. Mumler aus Boston. Mumlers sogenannte Geisteraufnahmen waren wohl Doppelbelichtungen, und die Möglichkeit, photographische Platten mehrfach zu belichten, bot für ihn und andere Geisterphotographen insgesamt eine besonders effiziente Operationsbasis. Ein weiteres, von anderen benutztes Verfahren zur Erzeugung von Aufnahmen, auf denen sich angeblich Phantome manifestierten, beruhte auf der Verwendung von ins Atelier eingeschmuggelten und heimlich nochmals abgelichteten Photos.

Mumlers erste Doppelbelichtung entstand vielleicht nicht einmal absichtlich, sondern zufällig und unerwartet. 1861 wollte Mumler in Atelier eines Photographen ein Selbstporträt von sich herstellen. Auf der entwickelten Platte war anschließend neben ihm selbst ein Mädchen zu sehen, das auf seinem Schoß Platz genommen hatte. Der Photograph erklärte dies damit, es habe sich wohl um eine nicht genügend gereinigte Platte gehandelt, die versehentlich doppelt belichtet worden sei. Mumler benutzte die Aufnahme dazu, einen ihm bekannten Spiritisten zu mystifizieren (»always ready for a little joke, I concluded to have a little fun«8). Dieser war offenbar tief beeindruckt; die Sache sprach sich herum. Mumlers eigenen Zeugnissen zufolge fühlte er sich durch das lebhafte Interesse der Spiritisten an seiner Person zunächst bedrängt, dann aber geschmeichelt; schließlich scheint man ihn eingeredet zu haben, er besitze tatsächlich eine besondere mediale Disposition. (Aber hier sind die Informationen natürlich nicht zuverlässig.) 1869 gründete er in New York ein Studio für Geisterphotographie und fertigte Auftragsarbeiten an, zunächst für 5, später für 10 Dollar pro Bild; neben der Bearbeitung individueller Aufträge nahm er die Seienprduktion auf. Mumlers vielleicht berühmteste Aufnahme zeigt das Phantom des Abraham Lincoln zusammen mit dessen Witwe. Doch bald wurde er des Betrugs bezichtigt; man machte ihm den Prozess, in dem immerhin über 20 Zeugen zu seinen Gunsten aussagten; allerdings wurde er ökonomisch ruiniert. Andere Photographen taten es Mumler nach, erhebliche Mengen von Geisterphotos entstanden, aber auch Betrugsprozesse wurden bereits angestrengt.

In Paris richtete der Photograph Jean Buguet zu Beginn der 1870er Jahre ein Studio für Geisterphotographie ein. Die Kunden konnten sich seinen Angaben zufolge hier mit verstorbenen Angehörigen zusammen ablichten lassen. Buguet bediente sich einer raffinierten undoffenbar effizienten Strategie. Während die Kunden warteten, wurden sie von einer Angestellten geschickt ausgefragt und machten dabei Angaben zur physischen Erscheinung der Verstorbenen. Durch diese Angestellte erhielt der Photograph Hinweise darauf, wie sich der Kunde ›seinen‹ Geist vorstellte. Aus einer großen Sammlung von Figuren wählte er eine einigermaßen passende Erscheinung aus und photographierte sie auf dieselbe Platte, die anschließend mit dem Bild des Kunden belichtet wurde. 1975 wurde Buguet wegen Betrugs zu einer Geld- und einer Gefängnisstrafe verurteilt. Trotz der Offenlegung seiner Geschäftspraktiken glaubten viele Anhänger weiter an ihn.

In England praktizierte William Hope kurz nach der Jahrhundertwende als Geisterphotograph und angebliches Medium. Ihm konnte nachgewiesen werden, dass er während der Sitzungen Platten austauschte; auch er hatte offenbar bewusst mit Doppelbelichtungen gearbeitet.

Einen Boom erlebte die Geisterphotographie in England im Jahre 1920, was man sich u.a. als Folge des Weltkriegs erklärt hat. Viele Angehörige gefallener Soldaten glaubten bereitwillig an die Möglichkeit, deren Geister sichtbar zu machen, um mit ihnen kommunizieren zu können. Mrs. Ada Emma Deane, ein bekanntes Medium, befasste sich ebenfalls mit Geisterphotos. Zwischen 1921 und 1924 wollte sie Bilder von Toten jeweils am »Armistice Day« erhalten haben, während gerade die öffentlichen Schweigeminuten für diese gehalten wurden. Indizien sprachen jedoch dafür, dass sie ausgeschnittene Photographien von Fußballern verwendet und die entstandenen Bilder durch Doppelbelichtungen erzeugt hatte. Dass sie einer Tageszeitung einmal die Bilder noch vor den Schweigeminuten ablieferte, um vor Redaktionsschluss berücksichtigt zu werden, nährte das Misstrauen, obwohl manche ihrer unscheinbaren Person einen Betrug kaum zutrauen mochten.

Wie das Tischerücken wurde auch das Geisterphotographieren nicht allein in Kreisen echter Spiritisten betrieben, sondern es avancierte zur geselligen Unterhaltung.9

Anknüpfungen an die spiritistische Praxis der Geisterphotographie erfolgten seit dieser großen Zeit des Spiritismus vor allem in zwei Bereichen: Erstens im Bereich des Variétés, des professionellen Illusionismus, zweitens im Bereich der Kunst. Avantgardistische Photokünstler griffen die Praktiken der Geisterphotographen auf, experimentierten mit der Visualisierung von Unsichtbarem, von Strahlungen etc. Daneben existiert drittens bis heute eine Tradition spiritistischer Praktiken, zu denen auch die Photographie gehört. Gesammelt und untersucht werden einschlägige Resultate u.a. durch das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V. in Freiburg i.B.

V. »Materialisationsphänomene«

Von der eigentlichen Geisterphotographie zu unterscheiden sind okkultistische Experimente mit sogenannten »Materialisationsphänomenen«, die es ebenfalls darauf anlegten, Übersinnliches sichtbar zu machen und möglichst auch photographisch zu dokumentieren – ohne dass es bei diesem Übersinnlichen um Totengeister handeln musste. Bernd Stiegler hat zwischen einer ersten und einer zweiten Phase der photographischen Experimente mit dem Übersinnlichen gesprochen; die erste galt den eigentlichen Gespenstern,10 die zweite der Visualisierung angeblich innerpsychischer Prozesse.11

Viel Aufsehen erregte die Schrift Materialisationsphänomene des Freiherrn von Schrenck-Notzing (1914), eines bekannten Spiritisten in München. Hier werden diese »Phänomene« nicht als geisterhafte Manifestationen im strengen Sinn verstanden, also nicht als Visualisierungen Verstorbener. Vielmehr gelten sie als Manifestationen des Unbewussten der Medien. Schrenck-Notzing arbeitet meist mit einem bestimmten Medium, genannt Eva C. Diese wurde in hypnotische Trance versetzt. Aus ihrem Körper trat dann während der Séancen (angeblich) eine Substanz aus. Schrenck-Notzing nannte diese »Teleplasma«. Sie hatte nebel- oder schleierartige, später auch stärker plastische Struktur und formte sich schließlich zu Gesichtern oder integralen »Phantomen«. Schrenck-Notzing nannte diese angeblichen Darstellungen unbewusster Vorstellungen des Mediums auch »Ideoplastie«. Von seinen Materialisations-Experimenten sind diverse Photographien überliefert.

Andere Okkultisten operierten auf ähnlichem Gelände – teilweise mit Tricks, die (unter anderem von ihren eigenen Kollegen) durchschaut und entlarvt wurden. Der italienische Arzt Enrico Imoda benutzte offensichtlich Photos, um durch deren neuerliches Abphotographieren bei den in völliger Dunkelheit stattfindenden, nur vom Blitzlicht momentan erhellten Séancen den Eindruck der Präsenz eines Übersinnlichen zu erzeugen.12

VI. Photos als »Gespenster«. Frühe metaphorische Modellierungen der Photographie

Die Photographie ist von ihren Anfängen an metaphorisch beschrieben und interpretiert worden; Bernd Stiegler hat dies mit einer Kollektion einschlägiger Belegstellen dokumentiert. Die metaphorischen Interpretationen dieses Bildmediums konnten dabei untereinander durchaus in Spannungsbeziehungen stehen.13

Die Metaphorisierungen der Photographie beeinflussten die Modi der Betrachtung von Photos und den Umgang mit ihnen. Wie Stiegler darlegt, lassen gerade die Metaphern der Photographie erkennen, als wie ambig man photographische Bilder wahrnahm.14Neben Metaphern im engeren Sinn (die auf entdeckten bzw. konstruierten Ähnlichkeiten des jeweiligen Bildspenders mit dem Bildempfänger Photographie beruhen) finden sich in Stieglers Belegstellen-»Album« (ebenfalls eine Metapher!) auch Metonymien, die durch Kontiguitätsbeziehungen motiviert sind. Hierzu gehört etwa das Bildfeld um das Archiv und andere Erinnerungsspeicher.15

  • Der funktionale Zusammenhang von Photo und Archiv ist die Grundlage assoziativer Verknüpfungen von Photographie und Gedächtnis.16 Stiegler betont die Ambiguität gerade dieser Spielform der Photometaphorik zu Recht:17

  • Komplementär zur Vorstellung, Photos ›höben‹ die Vergangenheit im Sinn des Konserverens ›auf‹ und erleichterten so deren Revokation, gelten sie umgekehrt auch als Medien des Vergessens – als Substrate, in welche die Vergangenheit gebannt wird, um dort im Sinn einer Auslöschung ›aufgehoben‹ zu sein. (Thomas Bernhards Roman »Die Auslöschung« entwickelt sich aus dieser Ausgangsidee; dazu später mehr.18)

  • Photographische Bilder werden aber auch – um ein anderes Bildfeld zu nennen – als Beutestücke bezeichnet, so dass der metaphernträchtige Assoziationsraum von Jägern und Gejagten, ja von Tätern und Opfern ins Spiel kommt.19

  • Oft betrachtet man sie ferner als Doubles des jeweils Abgebildeten20 – als dessen dauerhafter Ersatz oder aber als ein totes Surrogat.

  • Nicht zuletzt erscheinen sie sowohl als Produkt wie auch als Medien magischer Operationen;21 die Arbeit des Photographen, die aus rein physikalisch-technischen Gründen in der Dunkelkammer stattfindet, erinnert schon durch ihre Rahmenbedingungen an okkulter Praktiken.22

  • Als Medien der optischen Darstellung Abwesender, insbesondere Verstorbener, haben Photographien analoge Effekte wie Praktiken der Beschwörung von Geistern. »Geisterhaft« wirken Photos auch durch die Verfremdung der Erscheinung des Abgebildeten (besonders, aber nicht nur im Zeitalter der Schwarzweiß-Photographie). Mit dem Photo assoziativ verknüpft ist im Horizont der Gespenstertopik die Idee, dass es selbst den jeweils Abgebildeten an jene Schwellen zwischen unsichtbarer und sichtbarer Welt versetzt, die der Ort der Gespenster ist – dass es selbst zu jenen Phantomen gehört, welche die Lebenden an den Rand des Todes führt, von ihrer Lebenskraft zehren, sich an ihre Stelle drängen.

  • Die Lebenden an den bevorstehenden Tod zu mahnen, ist volkstümlichen Vorstellungen zufolge eine der typischen Funktionen von Gespenstern.23 Photos nun erinnern einem folgenreichen Topos zufolge ebenfalls nicht nur als Abbilder der Verstorbenen an den Tod, sondern auch als Porträts der Lebendigen. Denn durch die Fixierung ihrer Erscheinung im Bild wird diesen ihre eigene Zeitlichkeit und Sterblichkeit sinnfällig gemacht;24 Susan Sontag hat an diesen memento-mori-Effekt erinnert. 25 Stiegler unterscheidet zwei mögliche Akzentuierungen dieses Effekts: Das photographische Bild ist einerseits als Antizipation des Todes, als Mortifikation des Lebendigen, andererseits als Widerstand gegen die Vergänglichkeit deutbar; es scheint den Moment und das im Moment dargestellte Weisen der Zeitlichkeit zu entreißen, entreißt ihr stattdessen aber nur ein Bild und verweist den Abgebildeten umso nachdrücklicher darauf, dass er der Zeit und dem Tod ausgeliefert ist.26

VI.1 Roland Barthes: La chambre claire, 1980

Roland Barthes hat die Pilotgeschichte einer ganzen Sequenz literarischer Erzählungen übers Photographieren geschrieben. Dieser rekurriert in La chambre claire seinerseits auf ältere bildtheoretische Topoi; insbesondere knüpft er auf den von Konzepten des Phantomatischen geprägten Photodiskurs des 19. Jahrhunderts an. Wenn er vom »spectrum« der Photographie spricht, so ist ihm die assoziative Verknüpfung zum Bildfeld um Gespenster bewusst.27 Er erzählt, zugespitzt gesagt, von Phantomen und ihrer imaginativen Vergegenwärtigung, indem er am Leitfaden der Selbstbeobachtung über das Betrachten von Photographien reflektiert; nicht die Photograpie an sich ist sein Thema, sondern die Wahnehmungsmodi von Photos. (Insofern erübrigt sich die Frage, ob seine Thesen zur Photographie ›richtig‹ sind.28) Motiviert ist sein Interesse an diesem Bildmedium durch die Auseinandersetzung mit dem Tod, insbesondere dem der eigenen Mutter.

Barthes’ Modellierung zufolge ist die Beziehung des Bildes zum Abgebildeten bei Photos eine andere ist als bei Gemälden: Das Bild wird wahrgenommen als an einen Referenten gebunden, als dessen Emanation.29 (Stiegler betont, dass Roland Barthes bei seiner Modellierung der Photographie auf alchimistische Emanationsmodelle rekurriert.30)

Barthes nennt das, was photographiert wird, das »spectrum«: es ist die »Zielscheibe«, der »Referent«, »eine Art kleines Götzenbild, vom Gegenstand abgesondertes ›eidolon‹«. Der Name ›spectrum‹ konserviert »den etwas unheimlichen Beigeschmack (...), der jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr der Toten« (Barthes: Die helle Kammer, 17). (Die Photographie ist also geprägt durch »die Wiederkehr der Toten«).

Barthes betont, er sei kein Anhänger des Realismus. Der Fotograf sei »Zeuge« nur »seiner eigenen Subjektivität, das heißt der Art und Weise, wie er sich selbst als Subjekt zu einem Objekt verhält.«31

»Will man wirklich auf ernster Ebene von der Fotografie sprechen, so muss man sie zum Tod in Beziehung bringen. Es stimmt, das Foto ist ein Zeuge, aber auch ein Zeuge dessen, was nicht mehr ist. Selbst wenn das Subjekt noch lebt, wurde dennoch ein Moment des Subjekts fotografiert, und dieser Moment ist nicht mehr. Und das ist ein gewaltiges Trauma (...). Jeder Akt der Lektüre eines Fotos, (...) jeder Akt des Einfangens und Lesens eines Fotos ist implizit und in verdrängter Form ein Kontakt mit dem, was nicht mehr ist, das heißt mit dem Tod. Ich glaubem so müßte man an das Rätsel der Fotografie herangehen, so jedenfalls erlebe ich die Fotografie: als ein faszinierendes un trauervolles Rätsel.« (Barthes, 85)

Wer photographiert wird, so Barthes, wird in einem »äußerst subtilen Moment« abgebildet, in dem er »weder Subjekt noch Objekt« ist, sondern ein »Subjekt, das sich Objekt werden fühlt«; man erfahre dabei »im kleinen das Ereignis des Todes (der Ausklammerung)«: »Ich werde wirklich zum Gespenst« (Barthes, 22). »(...) wenn ich mich auf dem aus dieser Operation hervorgegangenen Gebilde erblicke, so sehe ich, daß ich GANZ UND GAR BILD geworden bin, das heißt, der TOD in Person« (Barthes, 23).

Zum einen ist das aus dem Leben herausgetretene Bild selbst etwas »Totes«, zum anderen aber wird es voraussichtlich dauerhafter sein als das photographierte Objekt, dieses also gleichsam ›überleben‹32 – und der Blick auf ein Photo ist demnach der antizipatorische Blick in eine Zeit, da der Abgebildete nicht mehr lebt. Der Blick in die Augen der Photographierten ist zugleich Blick in Augen, die ihrerseits ins Imaginäre blicken. Bei Betrachtung einer Photographie des Napoleon-Bruders Jerôme von 1832 sei ihm, so Barthes, der Gedanke gekömmen, in die Augen zu sehen, die den Kaiser gesehen haben (Barthes, 11).

Über die Referenten photographischer Bilder zu sprechen, bedeutet über Phantome zu sprechen, die – wie Gespenster – aus der Abwesenheit zur »Erscheinung« kommen. Diese Perspektivierung bildet aber nicht das einzige Bindeglied zwischen dem Photographischen und dem Phantomatischen, das Barthes (re-)konstruiert: Wer sich photographieren lasse, so sein Argument, verwandle sich eben damit momentan in ein Phantom. Denn mit dem Photographiertwerden löse sich die Erscheinung des Photographierten von diesem selbst und seinem Leben ab, gewinne im Medium des Photos eine eigenständige Existenz und erinnere auf doppelte und dabei zugleich paradoxe Weise an den Tod. Barthes unterstreicht, dass zum einen das aus dem Leben herausgetretene Bild selbst Produkt einer Mortifikation sei, dass es zum anderen voraussichtlich aber dauerhafter sein werde als das photographierte Objekt, dieses also gleichsam ›überlebe‹ – der Blick auf ein Photo ist demnach der antizipatorische Blick in eine Zeit, da der Abgebildete nicht mehr leben wird. Photographierte sind Un-Tote; der Betrachter von Photos kommuniziert mit ihrer Sphäre – teilweise über mehrere Vermittlungsschritte.33 Der Blick in die Augen photographierter Gestalten ist zugleich Blick in Augen, die ihrerseits ins Imaginäre blicken.

Das Objekt des Begehrens in La chambre claire, die verstorbene Mutter, ist Inbegriff eines Referenten, der zwar in verschiedenen medialen Formen dargestellt werden kann, aber nicht im emphatischen Sinn zu re-präsentieren ist. Der Erzähler berichtet von der Betrachtung verschiedener Photos der Mutter in verschiedenen Lebensaltern; zunächst habe er sie nicht finden können. Doch schließlich sei ihm die Mutter in einem Photo aus ihrer Jugend erschienen. (Dass es sich um ein Photo handelt, welches die Mutter in einem Alter zeigt, da der Erzähler sie noch gar nicht kennen konnte, beweist, dass es mit Barthes’ Geschichte nicht etwa darum geht, ein vages Erinnerungsbild aufzufrischen; es geht ihm nicht um die Psychologie des Erinnerns, sondern sein Text kreist um das Konzept des ›wahren‹ Bildes, der Manifestation eines Wesens in seinem Bild.) Obwohl nun Barthes’ Erzählung von vielen reproduzierten Photos begleitet wird, fehlt doch jenes Bild der Mutter, in dem der Erzähler »sie« nach ihrem Tod wiedergesehen haben will; dies wird im Text selbst auch ausdrücklich hervorgehoben.

(»Ich kann das PHOTO aus dem Wintergarten nicht zeigen. Es existiert ausschließlich für mich. Für Sie wäre es nichts als ein belangloses Photo (...)« (Barthes, 83).

Gerade das Fehlen des narrativ thematisierten, aber nicht gezeigten Photos verweist nun auf die Bedeutung der Erzählung selbst. Diese markiert die Leerstelle als solche und exponiert sich selbst als ein Verfahren indirekter Darstellung von Undarstellbarem. Photos können nicht zeigen, was sie nicht zeigen, aber Texte könne von dem sprechen, was die Photos nicht zeigen, das Unsichtbare indirekt markieren und so zu »Phantombildern« werden.34 Das Phantomatische findet im Erzähltext einen Ort der indirekten Manifestation – indem dieser Erzähltext eine Spannung aufbaut: zwischen einem sprachlich evozierten Bild, in dem in Abwesendes sich angeblich ›zeigt‹, und der Abwesenheit dieses Bildes.

VI. 2 Hervé Guibert: L’image fantôme, 1981

Der Titel der Textsammlung von Hervé Guibert zum Thema Photographie (L’image fantôme), zugleich Titel einer einzelnen Geschichte, lässt mehrere Interpretationen zu. Erstens erinnert er an das Genre des Phantombildes, wie es bei polizeilichen Fahndungen eingesetzt wird. Solche »Phantombilder« dienen – worauf Guibert bewusst anspielen dürfte – der Suche nach abwesenden Personen. Sie entstehen nicht als Abbilder eines gegenwärtigen Urbildes, sondern in dessen Abwesenheit – auf der Grundlage oft verschwommener Erinnerungen von Zeugen an vergangene Eindrücke. Zweitens wird durch das Stichwort »fantôme« an die Geisterphotographie erinnert: Unter einem »Phantombild« kann auch das Bild eines »Phantoms« verstanden werden. Phantombilder dienen in beiderlei Bedeutung der Visualisierung des Unsichtbaren. Drittens ließe sich das Kompositum aus »Phantom« und »Bild« auf ein »Bild« beziehen, das ein »Phantom« ist bzw. Phantom geblieben ist – und schließlich sogar im Sinne einer Gleichung lesen: ›Ein Bild ist ein Phantom‹.

Guiberts autobiographischer Text bewegt sich in den Spuren Barthes’; erzählt wird von den Versuchen des 18jährigen, seine damals 45jährige Mutter zu photographieren.35 Darin dokumentierte sich ein ödipales Aufbegehren gegen den Vater, gegen dessen die Familien-Szene beherrschenden Blick und die hierdurch induzierten Verfälschungen und Entstellungen des Bildes der Mutter. (Dass es ihm insgeheim darum geht, den Tod des Vaters zu inszenieren, indem er die Bild-Bühne von diesem befreit und selbst regiert, verschweigt der Erzähler nicht.) Zur Vorbereitung der Aufnahme wird Verdeckendes und Entstellendes beseitigt: die verhasste Dauerwelle und die falschen, an Rollenspiele gebundenen Kleider. Unter den Vorbereitungen entspannt sich die in Unterkleidung posierende Mutter, ihr ›wahres‹ Gesicht kommt zum Vorschein, selbst die entstellenden Altersspuren verschwinden; der Photograph hält bei der Herrichtung seines Bild-Objekts Zeit und Alter für Momente an (14). Dabei ist ihm die Ambiguität einer solchen Aufhebung der Zeit bewusst: Sobald die Aufnahme gemacht ist und den photographierten Moment fixiert, wird die Alterung des Urbildes im Vergleich mit dem Photo nur umso deutlicher hervortreten und sich aus subjektiver Betrachterperspektive ›beschleunigen‹. Die Mutter wirkt, als erwarte sie ihre Exekution. Das Photo wird gemacht, als die Mutter »auf dem Gipfel ihrer Schönheit« ist.36 Doch das Bild bleibt ein Phantom, denn die Kamera – signifikanterweise ein väterlicher Besitz – hat keine Aufnahme gemacht, vielleicht weil der Film nicht richtig eingelegt war. Erst Jahre später, als die Eltern im Begriff sind, die Wohnung zu wechseln, macht der Sohn auf Geheiß des Vaters im selben Salon mit derselben Kamera noch einmal ein Bild der Mutter. Als er sie im Sucher erblickt, zeigt sie Empörung und Trauer, ähnelt aber ihrem früheren Bild. Der Sohn verzichtet auf eine Fixierung dieser Erscheinung. Hatte der Erzähler bei Barthes angeblich immerhin ein materielles Bild seines geliebten Phantoms gefunden, so konfiguriert sich dieses Bild bei Guibert nur augenblicksweise auf der Retina des Erzählers selbst.

Im letzten Absatz wird Guiberts Text explizit selbstbezüglich: Er habe »keine Illustration«, so betont er in Abwandlung des Bartheschen Arrangements von Text und Leerstelle, »nur ein Stück unbelichteten Films« (Guibert, 18). Der Text selbst allerdings »wäre gar nicht entstanden, hätte es das Photo gegeben« (18); er wird nun seinerseits als »Phantombild« bezeichnet. Deutlicher als sein Vorbild, aber in Fortführung der poetologischen Thematik von La chambre claire, drückt Guiberts Erzählung aus, dass es ihr mit der Thematik von Darstellung und Undarstellbarkeit um eine reflexive Selbstvergewisserung geht – um den Text als eigenliches »Phantombild«

VI. 3 Antonio Tabucchi: Il filo dell’orizzonte, 1986

In Antonio Tabucchis Roman Il filo d’orizzonte wird das Entwickeln eines Photos im Labor zum Sinnbild der Begegnung mit einer verrätselten und dunklen Vergangenheit im Erinnerungprozess, und es wird in eben dieser Eigenschaft mit dem Beschwören von Geistern verglichen. Tabucchis Protagonist Spino arbeitet in einer Leichenhalle; diese wird einleitend in einer Weise beschrieben, die sie als ein großes Photoalbum erscheinen lässt, in dem die Toten sortiert und etikettiert aufgereiht sind. Tod und Photographie treten also von vornherein in eine metonymische Beziehung. In die Leichenhalle eingeliefert wird ein namenloser Toter. Spino versucht, dessen Identität zu klären und dessen Geschichte zu rekonstruieren, da ein Photo des Toten ihm selbst ähnlich sieht – es scheint, als sei er selbst in einer früheren Lebensphase abgebildet. Seine Bemühungen um die phantasmatische Existenz des Toten, als dessen Pseudonym unter anderem der Name »Carlo Nobodi« ins Spiel kommt, gelten letztlich dem eigenen Ich – einem vergangenen Ich, einem möglichen Alternativ-Ich, einem bisher ungekannten Teil-Ich. Ein Stück weit vermag Spino die Geschichte seines rätselhaften Doppelgängers hypothetisch zu rekonstruieren; er nimmt die Spur eines winzigen Photos auf, das in der Wohnung des Toten lag und eine Gruppe von Personen zeigt; eigenhändig stellt er eine Vergrößerung her, ruft damit jene Geister auf, die jemand anders einst ins Bild gebannt hat.

»Die Umrisse des Fotos schienen sich in der Wanne mit der Reaktionsflüssigkeit nur widerwillig abzuzeichnen, als lehnte sich eine ferne, vergangene und unwiederbringliche Realität dagegen auf, wiederentdeckt zu werden, als wehrte sie sich gegen eine Entweihung durch neugierige fremde Augen, gegen die Wiederbelebung in einem Kontext, der nicht mehr der ihre war. Diese Familiengruppe, das spürte er, weigerte sich, noch einmal auf die Bühne der Bilder zurückzukehre, um die Neugier eines Fremden zu befriedigen – an einem fremden Ort und in einer Zeit, die nicht mehr die ihre war. Es war ihm (...) klar, dass er dabei war, Geister zu beschwören, dass er versuchte, sie mit Hilfe der Chemie, einer unwürdigen Strategie, zu einer Komplizenschaft zu zwingen, zu einem zwiespältigen Kompromiss, den sie, die ahnungslosen Vertragspartner, mit einer zufälligen Pose unterzeichneten, die sie einem Fotografen der Vergangenheit anvertraut hatten.« (Tabucchi,45-46)

Mit Tabucchis Roman geht es um die Intransparenz des Ichs für sich selbst. Seine Neigung zur Dissoziation – die vor allem aus seiner Zeitlichkeit resultiert37 – findet dabei ihr Gleichnis im Medium der Photographie; das Motiv der Geisterphotographie unterstreicht den halluzinatorischen Charakter vermeintlicher Identitäten. Spinos Recherchen führen nicht zu greifbaren Erhebnissen. Das unscharfe Bild des Toten verschmilzt mit dem unscharfen Bild, das er von sich selbst hat. Wenn Spino zuletzt am Rand des Hafens ins Dunkel tritt, so wirkt dieser Schritt als Moment einer Selbstauflösung, in welcher die Genese eines photographischen Bildes in der Entwicklerflüssigkeit rückgängig gemacht wird.

Das aus der »Geisterbeschwörung« im Labor hervorgegangene Photo ist eine Metapher des Erinnerns: Vergangenes wird in die Gegenwart geholt, und der Betrachter (das Subjekt der Erinnerung) sieht im Erinnerungs-Bild ein Stück seiner selbst, ein anderes, zeitversetztes Ich, das mit hm nicht identisch ist, ihm aber ähnlich sieht wie der Unbekannte Spino ähnlich sieht.38

VI. 4 Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall, 1986

Thomas Bernhards Roman Auslöschung. Ein Zerfall (1986) ist ein intertextuelles Gewebe aus photoästhetischen Topoi, Metaphern und Diskursen. Inhaltlich nehmen die an die Betrachtung von Photos geknüpften Erinnerungen und Assoziationen breiten Raum ein; die Photos werden jedoch nicht gezeigt. Der Erzählermonolog betreibt gleichzeitig ihre Evokation und ihre Auslöschung – und diese steht für ein analoges Verfahren mit den photographisch dargestellten Personen selbst. Bernhards Ich-Erzähler erhält in Rom die Nachricht vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders, reist heim nach Österreich und nimmt auf dem Familienanwesen an der Beerdigung der Unfallopfer teil: Auf diese kurze Paraphrase lässt sich die äußere Handlung des umfangreichen Romans komprimieren, welche aber nur den Hintergrund für die Wortschwälle des Erzählers darstellt. Dieser versetzt sich erzählend in die Vergangenheit zurück und verleiht vor allem seinem Hass auf Eltern und Bruder wortreich Ausdruck – einem Hass, der letztlich der morbiden Welt als ganzer gilt.39 Katalysatorische Funktion besitzen die zu Erinnerungszwecken benutzten Familienphotos, welche neben Mutter, Vater und Bruder auch die noch lebenden und nicht weniger gehassten Schwestern zeigen. Nicht nur, dass sich der Erzähler angesichts der Bilder insofern mit Phantomen konfrontiert sieht, als sie ihm die Vergangenheit in Erinnerung rufen. Wie Geistererscheinungen stellen die Photoporträts die Abgebildeten in verzerrter, verfremdeter Form dar; allerdings bedingt gerade ihre Verzerrung ihre Eindringlichkeit und ihre tiefere Wahrheit.40 Aus der doppelten Perspektive dessen betrachtet, den die Photos in die Vergangenheit zurückversetzten und der doch zugleich Bescheid weiß über das, was später folgte (u.a. der Unfall), wirken die Photos zugleich beklemmend und grotesk: Sie sind Bilder von Lebenden, die Bilder von Toten sind. Die Beobachtung des Bildbetrachters, dass auf einem Bild aus dem Jahr 1960 der zu lange Hals seiner Mutter unvorteilhaft sichtbar wird, gewinnt ihren makabren Hintersinn auf der Folie des Wissens darum, dass sie bei dem Jahrzehnte späteren tödlichen Autounfall enthauptet wurde.41

Seine Kommentierung der Photos wird für Bernhards Erzähler zu einer einzigen langen Meditation über den Tod. Was immer die Photos ihm deutlich oder auch nur andeutungsweise zeigen, sind Indikatoren des Todes; der Moment, den sie festgehalten haben, entstammt einem Leben, das zuende gegangen ist, und sie markieren selbst wie Un-Tote eine Grenze zwischen dem Einst und dem Jetzt.42 Implizit, aber durch Wiederholungen und Variationen dennoch nachdrücklich markiert, fließen bildmagische Vorstellungen in den Erzählermonolog ein, Anspielungen auf die Macht, welche Bilder über Abgebildete aber auch auf den Betrachter ausüben, auf die evokatorischen Potenziale von Abbildungen, die den Abgebildeten eine beklemmende Scheinpräsenz verleihen.43

Einen lebendigen Menschen zu photographieren, bedeutet, ihn in ein Phantom seiner selbst verwandeln: Dieser phototheoretische Topos wird von Bernhards Erzähler aufgegriffen und erklärt die Signifikanz des Motivs Photographie für die Geschichte eines Familien-Hassers: Der Moment, in dem er seinerzeit – abweichend von seinen sonstigen Gewohnheiten – Eltern und Bruder photographiert hat, erweist sich im Rückblick als der einer rituellen Ermordung. Die photographische Abbildung der Angehörigen zielte auf ihre Mortifikation, ihre »Auslöschung«. Es ist insofern nur konsequent, dass der Erzähler seine Angehörigen nur einmal photographiert hat, denn man kann jemanden ja auch nur einmal töten. Verständlich wird auch, warum der Bruder die Aufnahme von sich seinerzeit zerriss. Verständlich wird aber vor allem, warum der Erzähler von den Photos so fasziniert und zugleich so beklemmt ist: Sie sind die gespenstischen Revenants, die ihn an die symbolische Tötung der eigenen Familie erinnern.44 Die Untoten sind als Bilder von anhaltender Präsenz. Es bedürfte einer anderen Auslöschung, und der Erzählermonolog ist deutbar als ein sprachliches Ritual, mit welchem diese endgültige Auslöschung vollzogen werden soll. Sein direktes Gegenüber sind die Phantom-Bilder; diese sollen ausgelöscht werden. Es geht also – in konkretem wie im übertragenen Sinn anlässlich der Bilder – um einen sprachlich-performativen Akt.45 Bernhards Roman ist dessen Selbstdarstellung.

Die verbale Beschwörung der Phantom-Bilder erscheint als ein insgesamt ambiger Vorgang, entsprechend dem Doppelsinn von »Beschwörung« im Sinn von Evokation und Bannung. Der rituelle Charakter des sprachlichen Geschehens motiviert die vielen Redundanzen: Mit der Nennung von Gegenständen und Personen ist es nicht getan, das Wort muss durch Wiederholungen seine magische Kraft entfalten. Das von den betrachteten Photos ausgelöste Ritual des Erzählers gilt übrigens nicht allein den Phantomen der Toten, sondern auch denen seiner noch lebenden, für ihn aber nicht minder gespenstischen, scheinlebendigen und hassenswerten Schwestern.

»Die spöttischen Gesichter meiner Schwestern auf dem Foto, das sie in Cannes zeigt, sind meine Schwestern, ich sehe sie immer nur als diese spöttischen Gesichter, die sie haben, gleich wann und wo und in welchem Verhältnis zu ihnen ich sie sehe, ich sehe immer nur ihre spöttischen Gesichter, sie habe ich im Kopf, wenn ich gleich wann an meine Schwestern denke, diese spöttischen Gesichter habe ich mir in meiner römischen Schreibtischlade aufgehoben, nicht die anderen, die sie ja auch immer gehabt haben, die traurigen, die stolzen, die hochmütigen, die durch und durch arroganten, nein diese spöttischen und ich spreche, wenn ich von meinen Schwestern spreche, nicht über meine tatsächlichen Schwestern in Wirklichkeit, hatte ich zu Gambetti einmal gesagt, sondern über diese spöttischen Gesichter meiner Schwestern, wie sie, wie gesagt wird, der Zufall auf diesen Fotografien festgehalten hat. Wären sie tot, sagte ich mir, hätte ich von ihnen nichts als ihre spöttischen Gesichter behalten. Ich höre sie lachen im Traum, aber auch manches Mal, wenn ich durch Rom gehe, völlig unvermittelt ihr eigenartiges, mit einem langen Leben rechnendes Lachen und sehe augenblicklich nur ihre spöttischen Gesichter, nichts sonst von ihnen. Sie sagen etwas nach und ich denke über das, das sie gesagt haben, nach, und ich sehe ihre spöttischen Gesichter und sage mir, sie haben diese spöttischen Gesichter von unserer Mutter, die auch ein solches spöttisches Gesicht hat, aber in den Schwastern verdoppelt, sagte ich mir, wirkt es so grotesk, ja entsetzlich. Ich habe oft (241) den Versuch gemacht, mich von diesen spöttischen Gesichtern meiner Schwestern zu trennen, sie aufzulösen in andere, nicht spöttische Gesichter, aber das ist mir nie gelungen. Ich habe, sagte ich mir, gar keine Schwestern, ich habe nur noch spöttische Gesichter, ich habe weder Caecilia, noch Amalia, ich habe nur zwei spöttische Gesichter in ihrer entsetzlichen fotografischen Erstarrung. Sie hatten schön sein wollen, jung, einen glücklichen Eindruck machen, sagte ich mir in Betrachtung des Fotos, und sie sind darauf nur hässlich und tatsächlich, obwohl noch recht jung, nicht mehr jung, schon recht alt und im Grunde tief unglücklich für die sogenannte Nachwelt des Fotos. Wenn sie gewußt hätten, daß nur ihre spöttischen Gesichter zurückbleiben und der tatsächlich unglückliche Eindruck, den sie auf dem Foto zweifellos für den Betrachter machen, hätten sie sich nicht fotografieren lassen, aber sie drängten sich ja sogar in diese Fotografie, sagte ich mir, ich erinnere mich, sie hatten sie haben wollen, sie hatten sich so in Pose gestellt, aneinandergerückt, Glück und Spontaneität vortäuschend, eine Natürlichkeit, von welcher sie im Augenblick, in welchem das Foto gemacht worden ist, es sei die ihnen angeborene, während es doch die bar jeder Natürlichkeit entsetzliche Künstlichkeit war, die sie so grausam entstellte. Ich hatte diese Fotografie, wie ich mich erinnerte, nur widerwillig gemacht. Aber nicht mich trifft die Schuld an diesem erbarmungslosen Foto, sagte ich mir, sie, meine Schwestern trifft sie, denn sie hatten mich zu diesem Foto gezwungen und sie haben mir damit, was wedersie noch ich hatten wissen können, ihre spöttischen Gesichter sozusagen lebenslänglich aufgezwungen. Ich bin von ihren spöttischen Gesichtern nicht mehr weggekommen, alle versuche in dieser Richtung sind mir immer gescheitert, ich hatte einmal den Einfall, das Foto zu vernichten, zu zerreißen, zu verbrennen, das tat ich aber dann doch immer noch nicht, weil es mir lächerlich erschien, das Mittel der Vernichtung in diesem Falle anzuwenden, der doch geradezu das Musterbeispiel einer belanglosen Lächerlichkeit darstellt, sagte ich mir und hatte das Foto wieder zu den anderen Fotos in der Schreibtischlade gelegt. Nicht meine Schwestern verfolgen mich Tag und Nacht, sagte ich mir, ihre spöttischen Gesichter sind es, die mir Tag und Nacht keine Ruhe lassen, die mich oft tagelang, ja wochenlang quälen. Wir haben nur einen von Millionen und Milliarden Augenblicken von zwei Menschen festgehalten mit dem Teufelsmittel der Fotografie, sagte ich mir, und beschuldigen diese zwei fotografierten Menschen lebenslänglich wegen dieses einen Augenblicks, welcher ihre spöttischen Gesichter zeigt. Ich habe aber Schwestern, nicht nur ihre spöttischen Gesichter, sagte ich mir und ich griff mir in diesem absurden Gedanken an den Kopf.« (Bernhard, 240-242)

Das eine spöttische Gesicht hat einen Mann, einen Ehemann, das andere spöttische Gesicht hat keinen (...). Aber es ist mir nie gelungen, die beiden spöttischen Gesichter meiner Schwestern getrennt zu sehen, das gelang mir nicht, selbst wenn ich den angestrengtesten Versuch in dieser Richtung machte, ich sah gleich immer wieder nur diese beiden spöttischen Gesichter meiner Schwestern zusammen. Das Foto zeigt zwei spöttische Gesichter, sagte ich mir, aber haben denn meine Schwstern tatsächlich diese spöttischen Gesichter? fragte ich mich. haben sie diese spöttischen Gesichter in Wirklichkeit? Haben sie sie nicht nur in diesem einen Augenblick, in welchem das sogenannte Canner Foto von ihnen gemacht worden ist, gehabt, diese spöttischen Gesichter? Vielleicht haben sie diese spöttischen Gesichter tatsächlich nur diesen einen Canner Augenblick gehabt, sagte ich mir, und sonst niemals und jetzt glaube ich, sie hätten immer und immer nur diese spöttischen Gesichter gehabt wie auf dem Foto von Cannes. Die Fotografie ist tatsächlich die Teufelskunst unserer Zeit, sagte ich mir, sie läßt uns jahrelang und jahrzehntelang und lebenslänglich spöttische Gesichter sehen, wo es nur ein einziges Mal solche spöttischen Gesichter gegeben hat, nur einen einzigen Augenblick lang auf einem Foto, welches wir vollkommen unüberlegt gemacht haben, einem plötzlichen Einfall nachgebend. Und dieser plötzliche Einfall hat dann eine lebenslängliche verheerende, ja gleich fürchterliche Wirkung.« (Bernhard, 243f.)

So werden die Phantome der Schwestern beschworen und in den Text gebannt – die Bild-Phantome als die Wiedergänger der verhassten Urbilder. Aber analog zur Bannung der Photographierten ins Photo wiederholt sich die Ambiguität solcher Bannung ins Wort. Der monologische Text deklariert Wolfsegg und seine Familie so nachdrücklich, wiederholend und beschwörend zu morbiden Phantomen, dass er sie einerseits auf suggestive Weise tatsächlich ins Jenseits schickt.

VI. 5 Marcel Beyer: Spione, 2000

Spione von Marcel Beyer erzählt von vier Jugendlichen, die gemeinsam Familienphotos betrachten. Das Album wirkt unvollständig; manche Bilder scheinen entfernt worden zu sein, die verbliebenen sind vergilbt, unscharf und vieldeutig. Diese Defizite des Familienalbums stimulieren nun gerade zum Erzählen – zur hypothetischen Rekonstruktion der Familiengeschichte in Varianten. Dabei erstehen im Medium der Erzählung die Mitglieder der Familie als Protagonisten möglicher Geschichten auf, insbesondere die Angehörigen der Großelterngeneration: ein Großvater, der als Soldat der Luftwaffe vielleicht an den Luftangriffen auf Guernica beteiligt war und von dem nicht ganz klar wird, ob er vielleicht auf gespenstische Weise in Gestalt eines mysteriösem »Taubenmannes« weiterlebt, eine Großmutter, deren Bilder im Familienalbum fehlen und über deren Schicksal der Schleier eines Geheimnisses liegt, schließlich die zweite Frau des Großvaters, die scheinbar erzwungen hat, dass alle möglichen Zeugnisse der Vergangenheit getilgt wurden, dabei aber die Phantome der Erinnerung niemals losgeworden ist und selbst als ein Phantom in den Imaginationen (und mittlerweile in den Erinnerungen) ihrer Stiefenkel herumspukt. Topische Versatzstücke aus dem Geisterglauben spielen in die erzählerische Darstellung von Großmutter, Großvater und Stiefgroßmutter immer wieder hinein. Gerade das Getilgte, Verschwundene, Verdrängte, niemals Fixierte ist von einer Präsenz, die als gespenstisch empfunden wird.46 Zumal der Blick auf Leerstellen in Photos und Lücken in Photoalben entdeckt diese halluzinatorische Präsenz; der Betrachter selbst wird von unsichtbaren Augen angeblickt.47

Im Raum der erzählten oder angedeuteten Geschichten gibt es keine Trennlinie zwischen dem Faktischen und dem Imaginären, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigkeit. Offen ist auch die Grenze zwischen unsichtbaren und sichtbaren Bildern. Denn die Erzählung selbst erweist sich als ein Medium zur Substitution fehlender Bilder. Im Ich-Erzählerbericht des Protagonisten mischen diese sich unter den Bericht über das, was er ›wirklich‹ sieht und weiß – so wie sich die Gespenster der abwesenden Familienmitglieder in die Sphäre der Lebenden hineindrängen.48

Das Motiv der Geisterphotographien unterstreicht die Thematik halluzinatorischer Präsenz. So stellt sich der Erzähler die zweite Frau des Großvaters vor, wie sie in ihrem Sessel sitzt, umgeben von Geistern der Vergangenheit – wie in den Zeiten der spiritistischen Photographie das Medium von den auf die photographische Platte gebannten Gespenstern.

»Wenn ich mir vorstelle, daß die Alte ihre Tage vor sich hindösend verbringt, unansprechbar und zugleich in schwer faßbarer Weise aufmerksam, dann muß ich an die Geisterphotographie denken, wie sie gegen Ende des vorletzten Jahrhunderts in Mode kam. Bilder von spiritistischen Sitzungen, von übernatürlichen Phänomenen und Geistersehern haben mich immer eigentümlich berührt, vor allem, wenn neben dem Medium auch die Erscheinung eines Verstorbenen abgebildet ist.« (Beyer, 294)

»Nie werde ich erfahren, ob sich auf Bildern von der Alten in ihrem Sessel die Spuren unsichtbarer Kräfte zeigen könnten. / Auf den ersten Blick gibt es nichts Außergewöhnliches zu sehen, nur eine anscheinend schlafende Frau vor einer Schrankwand, links der Streifen eines Vorhangs über der angeschnittenen Polstergruppe. An manchen Stellen aber scheint der Abzug unregelmäßig belichtet, als hätte jemand über dem Photopapier gewedelt. Nach und nach ergeben sich Umrisse, der schwache Schein hinter der Sessellehne erweist sich als Figur.« (Beyer, 295-296)49

Vordergründig eine Geschichte über die magisch-evokativen Effekte sichtbarer und gedachter Photographien, ist Beyers Roman subkutan eine autoreflexive Geschichte über die Macht der Wörter, die über die Bilder gebieten (um Bild-Lücken zu füllen, um Bildern hypothetische Bedeutungen zuzuweisen) und über alles, was in der Gegenwart wie in der Vergangenheit Gegenstand wirklicher oder möglicher Bilder ist.

 

VI. 6 Franz Hohler: Die Fotografie

Der Erzähler in Franz Hohlers Geschichte Die Fotografie betrachtet beim Durchblättern eines Fotoalbums mit Familienaufnahmen ein Photo von der Hochzeit seiner Eltern, wobei die Betrachtung im Zeichen des Bewusstseins von Zeitlichkeit steht: Es gelingt ihm nicht, die photographierten Eltern, die damals jünger waren als er selbst inzwischen ist, als jung wahrzunehmen. Das Photo hat die Zeit also nicht anhalten können, denn die persönliche Beziehung des Betrachters zu den Figuren auf dem Bild macht, dass sie für ihn alte Leute sind, zudem unmodisch angezogen und insofern der Vergangenheit angehörig. Neben den Familienmitgliedern, von denen die einen noch leben, andere bereits gestorben sind, entdeckt der Erzähler auf dem Photo einen ihm unbekannten Mann, der »am Rande des Bildes«, wie es heißt, »auf einem Steinbänklein unter einem Baum saß und die Szene betrachtete, als ob er nicht ganz dazugehöre.« (Hohler, 282) Der Mann hat dunkle, ernste Augen und einen Kahlkopf; er stützt sich auf einen Stock mit silbernem Knauf und trägt ungewöhnlicherweise weiße Handschuhe.

Eigenartigerweise ist der Mann offenbar nur auf dem Bild zu sehen, dass der Erzähler in seinem Album hat. In der Photosammlung der Eltern taucht er auf keinem der Hochzeitsaufnahmen auf; die Eltern kennen den Fremden nicht; der Vater vermutet zunächst einen Passanten, der zufällig aufs Bild geraten ist. Kleidung und Haltung des Mannes lassen dies aber zweifelhaft erscheinen. Auch die Hypothese, er habe zu einer anderen, später in der Kapelle erwarteten Hochzeitsgesellschaft gehört, ist nicht befriedigend. Der Erzähler bekommt »bei wiederholtem Betrachten des Bildes das Gefühl, der Mann habe etwas mit meiner Mutter zu tun, die kurz vor meiner Verheiratung gestorben war.« (Hohler, 283) Dem Vater scheint es ähnlich zu gehen.

In eben der Kapelle, neben der das rätselhafte Bild entstand, wird bald darauf der kleine Neffe des Erzählers getauft, und wieder wird photographiert. Von der Kindsmutter, seiner Schwester, erhält der Erzähler Abzüge geschickt; auf Bild Nr. 12 ist er selbst als Pate mit dem Säugling zu sehen; hinter ihm steht der Fremde von elterlichen Hochzeitsbild. Der Anruf bei der Schwester ergibt, dass diese denn Man nicht allein nicht kennt, sondern dass dieser auch auf anderen Abzügen sowie auf dem Negativ, das der Photpgraph besitzt – nicht zu sehen ist. Vergeblich hofft der Erzähler, der Fremde werde von den beiden Bildern verschwinden.

Fortan dreht er sich oft um, vor allem, wenn er allein ist, weil es sich von jemandem angeschaut und verfolgt fühlt. Es ist ihm, als warte jemand auf ihn, und er wartet auf etwas Unbestimmtes. Schließlich sieht er, auf der hinteren Plattform eines Tramwagens stehend, den Fremden mit Glatze und Handschuhen im Anhängerwagen, der ihn mit der Hand grüßt und ihm zulächelt. Als der Erzähler bis zur Endtstation mitfährt, sucht er den Fremden dort vergeblich im Anhängerwagen. Seine Angst sei verschwunden, so behauptet er: er wisse, er werde diesem Mann nicht entkommen; die richtige Begegnung stehe noch bevor, ohne dass er wüsste, wie, wann, warum und mit welchem Resultat. Er fühlt sich »persönlich gemeint«.

Hohlers Geschichte spielt auf die Technik der Geisterphotographie an: Auf dem Bild ist etwas dargestellt, das offenbar niemand beim Photographieren gesehen hat; das Photo hat etwas Unsichtbares sichtbar gemacht.

Der fremde Mann wird nicht identifiziert. Dass er photographiert wird wie ein Gespenst und über eine Generation hinweg sein Aussehen nicht ändert, könnte die Hypothese nahelegen, es handele sich um ein Gespenst – wahrscheinlich das eines Familienmitglieds – , zumal, da er unversehens bei Familienfesten auftaucht und verschwindet.

Aber es könnte sich auch um den Tod selbst handeln. Sein Kahlkopf erinnert an einen Totenschädel; auch die weißen Handschuhe wecken entsprechende Assoziationen. Zu dieser Lesehypothese passt das Empfinden des Erzählers, er werde verfolgt; bestätigt wird sie durch die abschließenden Bemerkungen, es werde eines Tages eine unausweichliche Begegnung geben, von der man nicht wisse, wohin sie führe. Tatsächlich ist der Unterschied zwischen der Deutung des Fremden als Tod oder als wiedergängerisches Familienmitglied nicht so erheblich. So wie die Betrachtung des Hochzeitsphotos der Eltern an an die irreversibel verlaufende Zeit erinnert, so erinnert der Fremde an den Tod, wessen Bild auch immer mit ihm erscheint.

Damit erinnert der Text selbst an Zeitlichkeit und Tod – dies aber unausdrücklich und in eben der dezenten und zugleich wahrnehmbaren Weise wie das Bild des Fremden im Familienbild auftaucht.

Literatur

Roland Barthes: Die helle Kammer, zuerst: Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie (1980). In: R.B.: Oeuvres Complètes, Tome III. 1974-1980. Édition étabile et présentée par Éric Marty, Paris 1995. 1105-1197.

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall, Frankf./M. 1986.

Marcel Beyer: Spione. Köln 2000, Tb-Ausgabe Frankf./M. 2002.

Stefanie Diekmann: Mythologien der Fotografie. Abriß zur Diskursgeschichte eines Mediums. München 2003.

Hervé Guibert, Phantom-Bild. Leipzig 1993. Dt.v.Thomas Laux.

Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Frankf./M. 2001

Hohler: Die Fotografie. In: Der Rand von Ostermundigen. Erzählungen. Darmstadt/Neuwied 1973

Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie III, 1945-1980.

Vgl. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999.

Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankf./M. 2006.

Antonio Tabucchi: Der Rand des Horizonts. Roman. Dt. v. Karin Fleischanderl. München/Wien 1988. Orig.: Il filo dell’orizzonte (Mailand 1986)

Anmerkungen

1 Nadar, nach Jochen Hörisch, Der Sinn und die Sinne, 240f.

2 Lewis Mumford: Eine Welt aus zweiter Hand (1952). In: Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie III, 1945-1980. München 1983, 100-105, S.104

3 Kittler, Optische Medien, 188: »(...) Zunächst einmal liefen alle die Gespenster, die seit Schröpfer und Robertson per Laterna magica erzeugt und von Balzac schließlich mit dem Menschen selber identifiziert worden waren, zum neuen Medium über. Eine Lieblingsbeschäftigung des Okkultismus, der um 1850 und vor allem als Mimikry an die elektrische Telegraphie aufkam, war es, nach Gespensterphotos zu jagen. Man ließ den Kameraverschlluß auch dann offen, wenn es wie im Finstern nichts zu sehen gab und entwickelte diese Nichtbilder in der (...) Hoffnung, daß ein den Augen unsichtbarer Geist sich einzig und allein auf der Photoschicht materialisiert hatte.«

4 Vgl. Stiegler, Philologie des Auges, Kap. 3.3 »Bilder aus dem Totenreich: Photographie und Spiritismus« (118ff.): »Die spiritistische Photographie im 19. Jahrhundert zeigt (...) aufschlußreiche Interferenzen zwischen wissenschaftlichen Diskursen, technikhistorischen Innovationen und eigentümlichen kulturellen Visionen auf.« (118) – Vgl. Stiegler 124: »Bei der Erkundung der übersinnlichen Welt spielen die medientechnischen Erfindungen eine entscheidende Rolle, da sie Phänomene aufzeichnen können, die der begrenzten menschlichen Wahrnehmung verborgen geblieben sind. Die spiritistische Einbildungskraft des 19. Jahrhunderts ist durch die Medientechnik nachhaltig geprägt, was sich am Beispiel der Photographie trefflich illustrieren läßt. (125) Geister erscheinen vorzugsweise dann, wenn die Technik so weit entwickelt ist, sie wahrnehmen und aufzeichnen zu können, und sie verschwinden, sobald die technischen Möglichkeiten der Medien weitgehend ausgeschöpft sind.«

5 Vgl. zum Thema: Bernd Stiegler: Philogie des Auges, insbes. Kap. 3.3. – Rolf H. Krauss: Jenseits von Licht und Schatten. Die Rolle der Photographie bei bestimmten paranormalen Phänomenen – ein historischer Abriß. Marburg 1992. – Andreas Fischer: Ein Nachtgebiet der Fotografie. In: Okkultismus und Avantgarde. Stuttgart 1995. 503-538. – Ferner: Stefanie Diekmann: Mythologien der Fotografie. Abriß zur Diskursgeschichte eines Mediums. München 2003.

6 Vgl. Stiegler über die Kernidee der Geisterphotographie: »Die Photographien sind sichtbare Manifestationen der übersinnlichen Welt im Feld der Sichtbaren. In ihnen werden die Phänomene in eine andere Ordnung übersetzt; das Übersinnliche ragt nur als sinnlich Wahrnehmbares in den bereich der Erkenntnis hinein. Dennoch werden die Photographien durchweg als objektive Materialisation verstanden. Die Beziehung zwischen dem Phänomen und seiner Abbildung ist nicht kontingent oder arbiträr, sondern notwendig und motiviert. In der Photographie bleibt eine materielle Spur des Abgebildeten zurück. Die Photographie ist ein Speichermedium, das den gegenstand als solchen archiviert und – so will es die technische Imagination des 19. Jahrhunderts – eine unauflösliche und mitunter permeable Beziehung ermöglicht.« (132)

7 Stefanie Diekmann: Mythologien der Fotografie. Abriß zur Diskursgeschichte eines Mediums. München 2003, 150.

8 Zit. nach Im Reich der Phantome, 90

9 Vgl. den Katalog Im Reich der Phantome, S. 93 (zu einer Exponategruppe): »Trotz der zahlreichen juristischen Auseinandersetzungen, die die Geisterfotografie in den Augen der Öffentlichkeit diskreditierte, verlor sie nicht alle Betätigungsfelder. Sie wandelte sich (...) von einer magischen Praktik, die sich der Leichtgläubigkeit seiner (sic) Anhänger bediente, zu einem unterhaltenden Zeitvertreib. Man traf sich bei einem Geisterfotografen, wie man sich zuvor auf dem Jahrmarkt karikieren ließ oder das eigene verzerrte Gesicht in einem Spiegelkabinett betrachtete: aus neugier und reinem Vergnügen. Mit dem Aufkommen der Amateurfotografie in den Jahren 1880-90 widmeten sich viele auh im privaten Rahmen dieser fotografischen Unterhaltung.«

10 »Diese erste Phase der Geister- oder mediumistischen Photographie, die sich von etwa 1861 bis 1877 erstreckt, ist charakterisiert durch das Erscheinen von Lichtphänomenen oder menschlichen Gestalten meist auf Portraits. Die meisten Aufnahmen entstanden unter Mitwirkung von Medien und zielten auf den sichtbaren Beleg einer Materialisierung von Geistererscheinungen.« (126-127)

11 »Kaum waren die Roentgenstrahlen, die elektromagnetischen Wellen und das ultraviolette Licht entdeckt, so wurden Versuche unternommen, die elektrovitalen Ströme des menschlichen Körpers photographisch aufzuzeichnen und weitere, noch unbekannte Strahlen vermutet, Hippolyte Baraduc entwickelte ein Biometer, eine gerät zur Messung der Lebensaktivitäten oder Physiognomie der Seele, um eine ›Icoographie de l’invisible‹ zu erstellen, Darget versuchte, Gedanken zu photographieren (...).« (Stiegler 127) »Diese zweite Phase der spiritistischen Photographie ist weniger durch Geistererscheinungen als vielmehr durch Strahlenaktivitäten der Seele, der Gedanken oder des Körpers bestimmt.« (128)

12 »Materialisationsphänomen mit dem Medium Linda Gazerra. Turin 1911.« Dazu erläutert der Katalog: »Wenige Jahre vor Schrenck-Notzings Veröffentlichung ›Materialisationsphänomene‹ hatte (..) das Buch des Turiner Arztes Enrico Imoda Fotografie di Fantasmi über vergleichbare Phänomene großes Aufsehen erregt. Er schilderte das Ergebnis seiner mehrjährigen Beobachtungen des Mediums Linda Gazerra, die telekinetische und teleplastische Phänomene zu erzeugen imstande war. Charles Richet äußerte sich in einem Vorwort als von der Echtheit der Erscheinungen überzeugt, die er selbst bei drei Sitzungen Anfang April 1909 in Turin und bei zwölf weiteren Sitzungen in seiner eigenen Wohnung in Paris gesehen hatte. Schrenck-Notzing äußerte sich zurückhaltender. Insbesondere führte er neben den offenbar fehlenden Kontrollen während der in fast völliger Dunkelheit stattfindenden Sitzungen einen Umstand an, der zuerst von Charles Richet ›als scherwiegender Einwand‹ mitgeteilt wurde: Der Schatten einer materialisierten Gestalt stimmte nicht mit der Richtung des verwendeten Blitzlichtes über ein, und ›folglich war das Ektoplasma kein räumliches Objekt, sondern ein Bild‹. Es war allzu naheliegend, dass das Medium eine Fotografie oder eine Zeichnung in die Sitzung eingeschmuggelt hatte.« (Katalog »Im Reich der Phantome«, S. 95f., zu Bild Nr 84)

13 Vgl. Bernd Stiegler: Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern. Frankf./M. 2006, 7-9.

14 »Die besondere Metaphorizität der Photographie ist auch dadurch begründet, daß die Photographie seit ihren Anfängen in prekärer Weise ambivalent ist. Sie wurde immer als Mortifikation und als Vivifikation, als Wahrheit und Lüge, als Auslöschung und Rettung angesehen und beschrieben. Dies Disponibilität der Photographie für Metaphern ist Ergebnis dieser eigentümlichen Offenheit wie auch eine Reaktion auf sie: Die Metapher nutzt diese Offenheit und schränkt sie zugleich ein. Dabei hat sie ein janusköpfiges Antlitz: Einerseits verstellt sie das, was gezeigt wird, indem sie auf anderes verweist und das Dargestellte als anderes zeigt; andererseits bringt sie aber etwas zum Erscheinen, was sonst unsichtbar geblieben wäre, nämlich die Verzahnung des Dargestellten mit der Tradition, seine Verankerung in einer Geschichte. Daher nimmt es auch kaum Wunder, daß die meistzitierten Texte der Photographiegeschichte, wie etwa die Essays von Oliver Wendell Holmes, Susan Sontags Buch Über Fotografie oder Roland Barthes Die helle Kammer, auch zu den metaphernreichsten gehören. Sie nehmen Metaphern auf, münzen sie um und prägen neue, an die wiederum andere Texte anschließen.« (Stiegler, 8)

15 Zum Stichwort »Gedächtnis« vgl. Stiegler, 102-105.

16 Stiegler, 24

17 Er verweist auf die »höchst ambivalente Doppelgestalt des photographischen Archivs als Ort des Aufbewahrens und des Verschwindens« (Stiegler, 23). Zum Stichwort »Archiv« vgl. Stiegler, 21-25, hier 21.

18 Zum Stichwort »Auslöschung« vgl. Stiegler, 45-47.

19 Zum Stichwort »Beute« vgl. Stiegler, 49-53. Vgl. auch Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, 31.

20 Zum Stichwort »Doppelgänger« vgl. Stiegler, 77-79.

21 Zum Stichwort »Kunst, schwarze« vgl. Stiegler, 127.

22 Vgl. Stiegler, 126.

23 Wagner-Egelhaaf.

24 Nach der photographischen Aufnahme altert der Porträtierte gleichsam von seiner im Bild fixierten Gegenwart weg, er ist fortan gespalten in ein gegenwärtiges und ein vergangene Ich – auch über die Spaltungsidee bestehen Anschlussstellen an die Semantik der Doppelgängerei.

25 »Jede Fotografie ist eine Art memento mori. Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletztlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.« (Sontag, In Platos Höhle, 21)

26 Zum Stichwort »Memento Mori« vgl. Stiegler, 139-141.

27 Was photographiert wird, die »Zielscheibe«, der »Referent«, »eine Art kleines Götzenbild«, möchte Barthes das »Spectrum« nennen, da das Wort einen Konnotation der Unheimlichkeit mit sich führt, wie sie »jeder Photographie eigen ist: die Wiederkehr der Toten« (Die helle Kammer, 17)

28 Barthes hat indirekt bestätigt, dass sein Text als literarischer zu lesen ist: Als Erzähler, so sagte er im Interview mit Guy Mandery (in Wolf, 85f.), habe er sich »in die Lage eines naiven, nichtkulturellen und ein bißchen zivilisations-(86)fremden Menschen [versetzt], der nicht aufhören kann, über die Fotografie zu staunen.« (85f.)

29 »Eine Photographie ist immer die Verlängerung dieser Geste; sie sagt: das da, genau das, dieses eine ist’s! und sonst nichts (...).« (12) »(...) sie deutet mit dem Finger auf ein bestimmtes Gegenüber und ist an diese reine Hinweis-Sprache gebunden.« (13) Die Photographie lasse sich im ersten Moment nicht von ihrem Referenten unterscheiden. »Man könnte meinen, die Photographie habe ihren Referenten immer im Gefolge und beide seien zu der gleichen Unbeweglichkeit verurteilt (...): sie sind aneinander gebunden (...)« (13) Photos sind »(...) Zeichen, die nicht richtig abbinden, die gerinnen wie Milch«. (14)

30 »Der letzte Alchimist der Photographiegeschichte ist (...) Roland Barthes, dessen Emanationstheorie laut John Tagg aus dunkler Vorzeit stamme« (Stiegler 127)

31 (Barthes: Über Fotografie, Interwiews von 1977 (mit Angelo Schwarz) und 1979 (mit Guy Mandery), in Herta Wolf (Hg.), Paradigma Fotografie, 82ff., S. 84)

32 »Was die Photographie endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können. (...)« (Barthes, 12)

33 Bei Betrachtung einer Photographie des Napoleon-Bruders Jerome von 1832 sei ihm, so Barthes, der Gedanke gekommen, in die Augen zu sehen, die den Kaiser gesehen haben (11).

34 (Auch Bilder können zwar auf Undarstellbares verweisen, aber nur, wenn die sie umgebenden Texte ihnen diese Funktion zuweisen.)

35 Diese wird unter Akzentuierung ihrer visuellen Erscheinung wahrgenommen und charakterisiert: Zum einen imitiert sie durch ihre Frisur das Erscheinungsbild einer Schauspielerin (ist also gleichsam eine potenzierte Schau-Spielerin), zum anderen nimmt der Heranwachsende sie als an der Schwelle zum Altwerden wahr, und die Ermüdungserscheinungen, die ihr Gesicht zeigt, stehen für ihn in einem Zusammenhang mit der Rolle, die sie als Ehefrau des Vaters zu spielen hat. Der väterliche Blick führ offenbar Regie auf der familiären »Bühne des Geschehens« (13), insbesondere über die Mutter als Darstellerin des bürgerlichen Familienlebens.

36 Über die Mutter setzt der photographierende homosexuelle Sohn sich zugleich selbst in Szene; sie trägt auf einigen Aufnahmen (hier ist mit einemmal von mehreren die Rede) seinen Strohhut, der für ihn der Strohhut des Knaben aus dem »Tod in Venedig«, also ein ›literarisches‹ Requisit, das mit den Konnotationen Tod, Begehren, Homosexualität und Verführung beladen ist. Die stark ödipal aufgeladene Szene endet mit der Rückkehr des Vaters. Die Mutter zieht sich wieder an, stellt die Dauerwelle wieder her, wird wieder die »Frau ihres Mannes« und altert weiter. Der Sohn möchte sie am liebsten nur noch als das alle biographische Realität überhöhende ideale Bild sehen, das er von ihr aufgenommen hat – als ein ›verbotenes‹, ein »subversives« (16) Bild, wenn man so will: als »Phantom« seines Begehrens. Eine spezifische Lesart des Titels »Phantombild« wird hier deutlich: Photographiert wurde mit der idealisierten und begehrten Mutter ein »Phantom«.

37 Tabucchis Roman steht unter einem Motto von Vladimir Jankelevitch: »L’essere stato appartiene in qualche modo a un ›terzo genere‹, radicalmente eterogeneo all’essere come al non-essere« (Tabucchi, Il foli dell’orizzonte, 7; »Das Gewesen-Sein gehört in gewisser Weise einer ›dritten Gattung‹ an, die sich vom Sein wie vom Nicht-Sein radikal unterscheidet.« (Tabucchi, Der Rand des Horizonts, 5)

38 Auch der Junge auf dem Bild, zeitversetztes Double des unbekannten Toten, schaut aus dem Bild heraus – auf eine Erscheinung hinter dem Objektiv, auf einen Vorfall, von dem, wie es heißt, die anderen auf dem Photo nichts wissen (47). Blickt er Spino an? Dieser glaubt mit einem Mal, die Szenerie wiederzuerkennen; er weiß sogar den Namen des kleinen Hundes, der teilweise im Bild zu sehen ist. Spinos Blick auf den Jungen, der seinerseits auf etwas im Bild nicht Sichtbares schaut, wird zum Gleichnis des Blicks aus der Gegenwart in die Vergangenheit, deren Gestalten ihrerseits aus der Vergangenheit in die Gegenwart blicken, die ihre Zukunft ist. Der Text selbst, in dem sich mehrere Zeitebenen überlagern, ist Analogon dieses doppelten Blicks – und gleichzeitig eine Metapher der Erinnerung als einer Spaltung der Gegenwart, die auch das erinnernde Ich selbst spaltet.

39 Das dem Roman vorangestellte Motto von Montaigne verdeutlicht die Kernthematik: »Ich fühle, wie der Tod mich beständig in seinen Klauen hat. Wie ich mich auch verhalte, er ist überall da.« (5)

40 »Bei der Betrachtung von Fotografien hat es mich immer wie bei nichts sonst geekelt. Aber, sagte ich mir jetzt, so verzerrt die Eltern und mein Bruder auf diesen einzigen von mir gemachten Fotografien mit dem meinem Bruder gehörenden Fotoapparat sind, sie zeigen, je länger ich sie betrachte, hinter der Perversität und der Verzerrung doch die Wahrheit und die Wirklichkeit dieser sozusagen Abfotografierten, weil ich mich nicht um die Fotos kümmere und die drauf Dargestellten nicht, wie sie das Foto in seiner gemeinen Verzerrung und Perversität zeigt, sehe, sondern wie ich sie sehe.« (29-30)

41 »Ich betrachtete eindringlich die Fotografie, auf welcher meine Eltern gerade auf dem Victoriabahnhof in London den Zug nach Dover besteigen. Ich hatte die Fotografie von ihnen gemacht, ohne ihr Wissen.« (21) Der Anblick der in neue englische Regenmäntel gehüllten Eltern ist keine einfache Rückversetzung in die Vergangenheit, sondern steht im Zeichen des Wissens um das Danach. »Die Fotografie, die ich von meinen Eltern auf dem Victoriabahnhof gemacht hatte, zeigt meine Eltern in einem Alter, in welchem sie noch Reisen gemacht haben und von keiner Krankheit gequält waren.« (23) »(...) ich hatte (...) jedesmal beim Anblick dieser Fotografie lachen müssen, jetzt aber war mir das Lachen darüber vergangen. Meine Mutter hatte einen etwas zu langen Hals, welcher nicht mehr als schön empfunden werden konnte und in dem Augenblick, als ich das Foto von ihr gemacht hatte, streckte sie ihn, da sie gerade den Zug bestieg, noch um ein paar zentimeter weiter als sonst vor und machte dadurch die einfache Lächerlichkeit des Bildes zu einer doppelten. Die Körperhaltung meines Vaters war immer die eines Menschen, der sein schlechtes Gewissen der ganzen Welt gegenüber nicht verbergen kann und darüber unglücklich ist. Er trug damals, als ich das Foto machte, seinen Hut etwas tiefer als sonst in der Stirn, was ihn auf meinem Foto viel unbeholfener erscheinen läßt, als er in Wirklichkeit war. Warum ich gerade dieses Foto von meinen Eltern aufgenommen habe, weiß ich nicht. Eines Tages werde ich auf den Grund kommen, dachte ich.« (24)

42 »Daß ich sie überleben werde, habe ich naturgemäß niemals gedacht, im Gegenteil war ich immer der Meinung gewesen, ich werde eines Tages der Erstverstorbene sein. (...) Die Tatsache, daß sie jetzt tot waren und nicht ich, war im Augenblick für mich nicht nur die denkbar unvorhergesehene, sie war für mich das Sensationelle. (...) Meine Eltern als ein wenn auch tatsächlich immer in allem hilfloses, so doch für mich lebenslänglich dämonisches Paar, waren auf einmal über Nacht auf dieses groteske und lächerliche Foto zusammengeschrumpft, das ich jetzt auf dem Schreibtisch liegen hatte und mit der größten Eindringlichkeit und Schamlosigkeit betrachtete.« (25)

43 »Sie mußten tödlich verunglücken und zu diesem lächerlichen Papierfetzen, der sich Fotografie nennt, zusammenschrumpfen, um dir nicht mehr schaden zu können. (...) Zum ersten Mal empfand ich beim Anblick der Fotografie, die ihn in Sankt Wolfgang auf seinem Segelboot zeigt, Mitleid mit meinem Bruder. Er sah jetzt auf dem Foto noch viel komischer aus als bei früherer Betrachtung. (...) Alle drei waren sie jetzt, vor mir auf dem Schreibtisch, keine zehn Zentimeter groß und in modischer Kleidung und grotesker Körperhaltung, die auf eine ebenso groteske Geisteshaltung schließen läßt, noch komischer als bei früherer Betrachtung. Die Fotografie zeigt nur den grotesken und den komischen Augenblick, dachte ich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eine heimtückische perverse Fälschung, jede Fotografie, gleich von wem sie fotografiert ist, gleich, wen sie (27) darstellt, ist eine absolute Verletzung der Menschenwürde, eine ungeheuerliche Naturverfälschung, eine gemeine Unmenschlichkeit. Andererseits empfand ich die beiden Fotos als geradezu ungeheuer charakteristisch für die darauf Festgehaltenen, für meine Eltern genauso wie für meinen Bruder.« (26-27)

44 »Im Grunde hasse ich Fotografien und ich selbst bin nie auf die Idee gekommen, Fotografien zu machen, von dieser Londoner Ausnahme abgesehen, von Sankt Wolfgang, von Cannes, zeitlebens habe ich keinen Fotoapparat besessen. (...) Die Menschen sind auf ihren Fotografien lächerliche, bis zur Unkenntlichkeit verschobene, ja verstümmelte Puppen, die erschrocken in ihre gemeine Linse starren, stumpfsinnig, widerwärtig. (...) Der Erfinder der fotografischen Kunst ist der Erfinder der menschenfeindlichsten aller Künste. Ihm verdanken wir die endgültige Verzerrung der Natur und des in ihr existierenden Menschen zu ihrer und seiner perversen Fratze. Ich habe noch auf keiner Fotografie einen naatürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keiner Fotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehen habe. Die Fotografie ist das größte Unglück des zwanzigsten Jahrhunderts.«

45 Aus der Perspektive dieser »Bannungs«-Idee gelesen, ist die »Auslöschung« ein Roman über das Erzählen als ritueller Kampf gegen die Untoten der Erinnerung und ihre memento-mori-Botschaft – und der Titel Hinweis auf die Absicht, die photographisch erzeugten phantomatischen Erscheinungen in einem performativen narrativen Akt zum Verschwinden zu bringen. Über den eigenen Bericht sagt der Erzähler: »Das einzige, das ich schon endgültig im Kopf habe, (...) ist der Titel ›Auslöschung‹, denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, allses auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist, alles (...). Wir tragen alle ein Wolfsegg mit uns herum und haben den Willen, es auszulöschen zu unserer Errettung, es, indem wir es aufschreiben wollen, vernichten wollen, auslöschen.« (199) – »(...) Auslöschung werde ich diesen Bericht nennen, hatte ich zu Gambetti gesagt, denn ich lösche in diesem Bericht tatsächlich alles aus, alles, das ich in diesem Bericht aufschreibe, wird ausgelöscht, meine ganze Familie wird in ihm ausgelöscht, ihre Zeit wird darin ausgelöscht, Wolfsegg wird ausgelöscht in meinem Bericht auf meine Weise (...).« (201)

46 »Ich weiß, wie hartnäckig erfundene Bilder sein können, (186) sie legen sich über einen Anblick, und während man sie anfangs noch wie einen Schleier wahrnehmen mag, der leicht zu lüften wäre, haben sie sich schon festgesetzt, sind ins geschehene eingedrungen, haften dort wie eine tiefere Schicht. Manchmal ist es, als lenkten Geister meinen Blick, als würde ich von einer geheimen Kraft dazu gezwungen, in einem menschen, einer Landschaft etwas zu erblicken, das nicht der Wirklichkeit entspricht.« (185f.)

47 »Man mag die Lupe nehmen, es nützt nichts, man kann sich nie endgültig sicher sein, daß die Figur getilgt ist. Von dieser Opernsängerin dürfen keine Spuren bleiben. Die Photographie ist leer, trotzdem aber ist noch etwas geblieben, dieser beunruhigende Blick läßt sich einfach nicht abschütteln. Er ist an allem ablesbar, er hat die Schatten und den Baum berührt, er liegt, die Italieneraugen sind schon lange fort, noch immer auf dem Betrachter.« (41)

48 »Was ich nicht sehen kann, muß ich erfinden. Ich muß mir Bilder selbst ausmalen, wenn ich etwas vor Augen haben will. Es bleibt keine andere Möglichkeit, jeder erwachsene Mensch ist sich dessen bewußt, hat gelernt, daß die ausgedachten Bilder unersetzlich sind. Vielleicht kann man an dieser Einsicht den Erwachsenen erkennen. Als Kind, noch als Jugendlicher erscheinen einem die eigenen Erfindungen als Möglichkeiten, hinter denen sich eine Wirklichkeit verbirgt, und diese Wirklichkeit, glaubt man, wird irgendwann zum Vorschein kommen, sie wird die erfundenen Bilder nach und nach zurück ins Dunkel sinken lassen.« (66)

49 Während ansonsten immer zwischen der Großmutter als der ersten Frau des Großvaters und der »Alten« als dessen zweiter Frau unterschieden wird, scheint sich hier eine andere Hypothese ins Bild zu setzen: Ist die Frau auf dem Geisterphoto ein und dieselbe Person in verschiedenen Lebensaltern? Geht es statt um ein Eifersuchtsdrama um eine in Vergangenheit und Gegenwart aufgespaltene Person? Der Text bleibt vieldeutig wie das Bild.

(2008)